Der Mathematische Monatskalender: Bhaskara (1114–1185)
Bhaskara gilt als der bedeutendste Mathematiker des indischen Mittelalters. Meistens wird er als Bhaskara II. zitiert – um ihn von einem gleichnamigen Mathematiker und Astronomen des 7. Jahrhunderts zu unterscheiden. Nachfolgende Mathematiker sprechen von ihm ehrfurchtsvoll als Bhaskaracharya, was soviel wie "Bhaskara der Lehrer" oder "Bhaskara der Gelehrte" bedeutet. Der aus der südindischen Stadt Vijayapura (heute: Bundesstaat Karnataka) stammende Sohn eines Astrologen verbrachte viele Jahre seines Lebens in Ujjain (Madhya Pradesh). Dort arbeitete er als Leiter der dortigen astronomischen Beobachtungsstation – wie bereits Brahmagupta, der berühmteste seiner Vorgänger. Er verfasste (mindestens) sechs Bücher mit Merkregeln in Versform – wie dies in Indien üblich war. Nach diesen Regeln wurden noch viele nachfolgende Generationen von Studenten unterrichtet.
Das bekannteste Buch Līlāvatī (Die Schöne) umfasst 277 Verse in 13 Kapiteln. Es beginnt mit der Erläuterung verschiedener Einheiten für Geldbeträge, Gewicht, Längen, Flächen, Volumina und Zeitintervalle. Dann folgen Erklärungen zu den Rechenoperationen für positive wie negative Zahlen, Brüche und die Zahl Null: Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Quadrieren und Quadratwurzelziehen, Kubikzahlen und dritte Wurzel. Nach Nennen der Regel folgt jeweils eine Aufgabe, die der Leser bearbeiten soll (Mein Freund, sage mir schnell, was das Quadrat von 3 1/2 ist und was die Wurzel aus dem Quadrat ist ...). Wie Brahmagupta hält er die Division durch null für zulässig, gibt unendlich als Ergebnis der Division an, mit der Konsequenz, dass dann gilt: \( \frac{a}{0} \cdot 0 = a\).
Die nächsten Verse enthalten Aufgaben, die zur Lösung ein Rückwärts-Rechnen verlangen. (Ein Pilger gab die Hälfte seines Geldes in Prayaga aus, zwei Neuntel des Restbetrages in Kasi, ein Viertel des übrig gebliebenen Geldes für Gebühren und sechs Zehntel des Rests in Gaya. 63 Goldmünzen waren übrig, als er nach Hause zurückkehrte. Welchen Betrag hatte er ursprünglich mitgenommen?)
Dann folgt ein Problem, das auch schon Brahmagupta untersucht hatte: Gesucht sind zwei rationale Zahlen \(x\) und \(y\), sodass \(x^2\pm y^2- 1\) eine rationale Quadratzahl ist. (Hinweis: Zahlenpaare (\(x\);\(y\)) mit \(x = 8a^4 + 1\), \(y = 8a^3\) erfüllen diese Bedingung.)
Nach Dreisatz-Aufgaben und Zinsberechnungen folgen Mischungsaufgaben, darunter die Bestimmung des Goldgehalts einer Legierung. Im Zusammenhang mit einfachen kombinatorischen Überlegungen wird die Frage untersucht, wie viele Arten von unterschiedlichen Versformen ein Gedicht haben kann. Auch beschäftigt er sich mit dem Problem, wie viele \(n\)-stellige Zahlen (im Dezimalsystem) mit von null verschiedenen Ziffern eine bestimmte Quersumme \(S\) haben. Und an späterer Stelle bestimmt er die Anzahl der Permutationen am Beispiel der Frage, wie viele verschiedene Statuen der Gottheit Shiva hergestellt werden können, die in ihren 10 Händen 10 verschiedene Gegenstände hält – es sind 3 628 800 (= 10!) Möglichkeiten.
Im 5. Kapitel beschäftigt er sich mit arithmetischen und geometrischen Folgen, zum Beispiel: Bei einer Expedition, bei der ein König versucht, sich der Elefanten seines Feindes zu bemächtigen, marschiert er am ersten Tag 2 yojanas. Sage, kluger Rechner, um welchen Betrag muss er die täglich zurückgelegte Strecke vergrößern, damit er nach einer Woche sein Ziel, die feindliche Stadt, erreicht, die 80 yojanas entfernt ist?
Das Kapitel über Geometrie beginnt mit Anwendungen des Satzes von Pythagoras. Hier findet man die Aufgabe, für ein Dreieck mit den Seiten 10, 17 und 9 Längeneinheiten die Längen der Höhenabschnitte zu bestimmen. Bhaskara löst sie mithilfe der Formel, die bereits Brahmagupta kannte: \(q=\frac{1}{2}\cdot\left( c-\frac{b^2-a^2}{c}\right) \). Mit \(c = 9\), \(b = 17\) und \(a = 10\) ergibt sich hier \(q = -6\), was Bhaskara wie folgt kommentiert: Dies ist negativ, das heißt in entgegengesetzter Richtung.
Im Rahmen der Kreis- und Kugelgeometrie gibt er als erster Mathematiker seines Kulturkreises die korrekten Zusammenhänge \(A = \frac{1}{4}\cdot d \cdot u\) für den Flächeninhalt \(A\), den Umfang \(u\) und den Durchmesser \(d\) eines Kreises sowie \(O = d \cdot u\) und \(V = \frac{1}{6} \cdot O \cdot d\) für die Oberfläche \(O\) und das Volumen \(V\) einer Kugel an. Für das Verhältnis \(u/d\) verwendet er den Näherungswert 22/7 ; den Bruch 3927/1250 = 3,1416 bezeichnet er als exakt.
Ein zweites Werk, Bīja-ganita (bīja = Samen; Grundlagen der Mathematik) genannt, wendet sich an fortgeschrittene Studenten. Es enthält überwiegend algebraische Methoden und beschäftigt sich unter anderem mit der Umformung von Wurzeltermen. Berühmt wurde das Buch, weil es die "zyklische Methode" zur Lösung von quadratischen diophantischen Gleichungen des Typs \(Nx^2 + k = y^2\) weiterentwickelt, die bereits von Brahmagupta untersucht worden war.
Unter den Beispielen mit quadratischen Gleichungen findet man folgende oft zitierte Aufgabe: Der fünfte Teil einer Herde Affen, weniger drei, quadriert, ging in eine Höhle. Nur ein Affe war noch zu sehen. Wie viele Affen waren es? – Von den beiden Lösungen, 5 und 50, wird die erste verworfen, weil der Term (\(x/5-3\)) negativ wäre.
Der Satz des Pythagoras wird mithilfe der Ähnlichkeit begründet, die zwischen dem rechtwinkligen Dreieck und den beiden (durch die Höhe \(h_c\) entstandenen) Teildreiecken besteht.
Einen weiteren Beweis kommentiert Bhaskara nur mit dem Ausruf: Siehe! – Ein Quadrat der Seitenlänge \(c\) wird in vier zueinander kongruente rechtwinklige Dreiecke mit den Katheten \(a\), \(b\) (wobei \(a < b\)) und der Hypotenuse \(c\) sowie ein Quadrat der Seitenlänge \(b – a\) zerlegt. Aus \(c^2 = \frac{4}{2} \cdot a \cdot b + \left( b-a\right)^2 \) ergibt sich dann die Beziehung \(c^2=a^2+b^2\).
Am Ende des Buches werden lineare Gleichungssysteme mit unendlich vielen Lösungen behandelt, zum Beispiel: Vier Männer besitzen Tiere, die für jeden zusammen jeweils den gleichen Wert haben. Ihnen gehören 5 beziehungsweise 3 beziehungsweise 6 beziehungsweise 8 Pferde, 2, 7, 4, 1 Kamele, 8, 2, 1, 3 Maultiere und 7, 1, 2, 1 Ochsen. Sage mir schnell, welchen Wert die Pferde, Kamele, Maultiere beziehungsweise Ochsen jeweils haben. (Die kleinstmögliche Lösung ist: Pferde 85 Geldeinheiten, Kamele 76, Maultiere 31, Ochsen 4.)
Im Jahr 1150 verfasst Bhaskara das Werk Siddhānta-śiromani (Schönstes Juwel der Abhandlungen), das vor allem auf typisch astronomische Fragestellungen wie Planetenkonstellationen und Mond- und Sonnenfinsternisse sowie auf die Handhabung astronomischer Instrumente eingeht. – Im Rahmen der Untersuchung der Planetenbewegungen beschäftigt er sich mit der Frage, wie man die Momentangeschwindigkeit eines Planeten bestimmen kann. Seine Idee, dazu die Positionen für immer kleiner werdende Zeitintervalle zu vergleichen, wird von manchen Wissenschaftshistorikern als infinitesimale Betrachtungsweise angesehen. Insbesondere sehen sie dies durch seine Beschreibung bestätigt, dass die Planeten am höchsten Punkt ihres täglichen Umlaufs die Momentangeschwindigkeit null haben.
Im mathematischen Teil präsentiert er ein Verfahren zur Herleitung der Volumenformel der Kugel. Hierzu betrachtet er ein Koordinatennetz aus Längen- und Breitenkreisen. Die Kugeloberfläche wird durch 48 Großkreise in 96 Kugelzweiecke, durch 48 Breitenkreise in trapezförmige Flächenstücke unterteilt. Die Flächeninhalte der Trapeze berechnen sich als arithmetisches Mittel aus der Länge der beiden Abschnitte auf den zueinander parallelen Breitenkreisen, die mit den Höhen (= Bogenstücke des Großkreises) multipliziert werden. Die Länge der Abschnitte auf den Breitenkreisen lassen sich mithilfe des Sinus berechnen. Daher geht in die Berechnung der Oberfläche der Kugel eine Summe von Sinus-Werten ein. Bhaskara führt dies mithilfe einer Sinus-Tabelle mit Schrittweite 90°/24 = 3° 45’ durch und bestätigt so die Gültigkeit der Formel \(O = d \cdot u\) für den Flächeninhalt der Oberfläche. Dann stellt er sich die Oberfläche in winzige quadratische Flächenstücke zerlegt vor, deren Eckpunkte, mit dem Mittelpunkt der Kugel verbunden, eine pyramidenartige Zerlegung der Kugel ergeben. Das Volumen berechnet sich gemäß der Volumenformel für Pyramiden als \(V = \frac{1}{3}\cdot O \cdot d\), also wegen \(d = \frac{1}{2} \cdot r\) daher \(V = \frac{1}{6} \cdot O \cdot r\).
In der Schrift jyotpatti erläutert Bhaskara, wie man möglichst genaue Sinus-Werte aus bekannten Grundwerten \(\sin(30^o) = \frac{1}{2}\), \(\sin(45^o)=\frac{1}{\sqrt{2}}\), \(\sin(36^o)=\sqrt{\frac{5-\sqrt{5}}{8}}\) berechnen kann.
Darüber hinaus enthält das Werk Regeln wie zum Beispiel \(\sin\left( \frac{90^o\pm \alpha}{2} \right) = \sqrt{\frac{1\pm \sin(\alpha)}{2}}\) und nützliche Näherungsformeln wie:
\(\sin(\alpha \pm 3,75^o) \approx \frac{466}{467} \cdot \sin(\alpha) \pm \frac{100}{1529} \cdot \cos(\alpha) \).
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.