Der Mathematische Monatskalender: Brook Taylor (1685–1731)
Einer der wichtigsten Sätze der Differenzialrechnung ist nach dem englischen Mathematiker Brook Taylor benannt. Die Bezeichnungen Satz von Taylor und Taylor'sche Reihenentwicklung verwendete im Jahr 1786 als Erster der Schweizer Mathematiker Simon Antoine Jean l'Huilier, der auch die \(lim\)-Schreibweise "erfand", nachdem Joseph-Louis Lagrange 1772 die Bedeutung des Satzes als grundlegend für die Analysis herausgestellt und die Aussage des Satzes präzisiert hatte.
Taylors Schrift Methodus Incrementorum Directa et Inversa aus dem Jahr 1715 enthält unter anderem die Aussage, dass und wie man den Funktionswert einer (beliebig oft differenzierbaren) Funktion an der Stelle \(x_0+h\), also in der Nähe einer Stelle \(x_0\), aus dem Funktionswert \(f(x_0)\) und den Werten der Ableitungen \(f'(x_0)\), \(f''(x_0)\), \(f'''(x_0)\), .... ermitteln kann, in heutiger Schreibweise:
\( f(x_0+h) = f(x_0) + h\cdot f'(x_0) + \frac{h^2}{2} \cdot f''(x_0) + \frac{h^3}{6} \cdot f'''(x_0) + ...\)
Die Schrift enthält typisch für den Entwicklungsstand der Mathematik zu Beginn des 17. Jahrhunderts – keine Überlegungen zur Konvergenz der Reihe und zur Abschätzung des Fehlers. Auch erscheint die veröffentlichte Herleitung aus heutiger Sicht umständlich und teilweise fehlerhaft, was einerseits mit der Newton'schen Fluxions-Schreibweise, andererseits mit den ungenauen Formulierungen und lückenhaften Schlussfolgerungen Taylors, aber auch mit Problemen des Setzers zusammenhängt.
Brook Taylor selbst hat nie den Anspruch erhoben, der "Erfinder" dieses Satzes zu sein. Ähnliche Gedanken hatten bereits Isaac Newton, Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Bernoulli und Abraham de Moivre geäußert – jeweils unabhängig voneinander. Das erste Beispiel einer Reihenentwicklung mithilfe von Ableitungen stammt von James Gregory (aus dem Jahr 1671):
\( \theta= \tan(\theta) -\frac{1}{3}\tan^3(\theta) + \frac{1}{5} \tan^5(\theta) -\frac{1}{7} \tan^7(\theta) + ...\), also \( \arctan(x) = x -\frac{1}{3}x^3 +\frac{1}{5}x^5-\frac{1}{7}x^7 +... \)
Brook Taylor wächst in einem wohlhabenden Elternhaus in Edmonton (Nähe London) auf. Bis zu seinem 17. Lebensjahr wird er durch Hauslehrer unterrichtet; der strenge Vater legt Wert darauf, dass hierbei Kunst und Musik eine besondere Rolle spielen. 1703 tritt Brook Taylor in das St. John’s College in Cambridge ein. Während seines Studiums lernt er den etwa gleichaltrigen John Machin kennen, der 1706 die Beziehung \(\frac{1}{4}\cdot \pi = 4 \cdot \arctan\left( \frac{1}{5}\right)-\arctan\left( \frac{1}{239}\right) \) entdeckt und mithilfe der Gregory'schen Reihenentwicklung des Arkustangens in der Lage ist, die Kreiszahl \(\pi\) auf 100 Dezimalstellen zu berechnen. Die zugrunde liegende Reihe konvergiert erheblich schneller als die von Leibniz (unabhängig von Gregory) gefundene Reihe:
\(\arctan(1) = \frac{1}{4}\cdot \pi = 1 -\frac{1}{3} + \frac{1}{5} – \frac{1}{7} +\frac{1}{9} \mp ...\)
Obwohl Taylor auf Wunsch des Vaters den universitären Abschluss als Bachelor und Doctor of Laws anstrebt und 1709 beziehungsweise 1714 auch erreicht, spielt die Mathematik während seines Studiums eine wichtigere Rolle. 1708 verfasst er einen Beitrag über Schwingungsmittelpunkte von Körpern, der allerdings erst 1714 veröffentlicht wird und einen heftigen, lebenslangen Prioritätsstreit mit Johann Bernoulli hervorruft.
Bereits 1712 wird er auf Empfehlung von Machin als Mitglied in die Royal Society aufgenommen und Mitglied der Kommission, die den Prioritätsstreit zwischen Newton und Leibniz entscheiden soll. Taylor ist jedoch – wie die Mehrzahl der Kommissionsmitglieder – zu befangen, um ein unparteiisches Urteil abgeben zu können. Von 1714 bis 1718 übernimmt Taylor sogar die einflussreiche Position als Sekretär der Royal Society, muss dann aber das Amt aus Gesundheitsgründen aufgeben.
Die Schrift Methodus enthält außer dem erwähnten Satz selbst eine Reihe von erstaunlichen Anwendungen, unter anderem die Untersuchung der Abhängigkeit der Frequenz einer schwingenden Saite von der Spannung der Saite, von deren Gewicht und deren Länge, sowie den Ansatz, wie man mithilfe von Differenzengleichungen Näherungslösungen von Differenzialgleichungen findet (calculus of finite differences). Er erläutert, wie die Ableitung einer Umkehrfunktion mit der Ableitung einer Funktion zusammenhängt, außerdem leitet er die Integrationsmethode der partiellen Integration her. Wie Leibniz, der diesen Gedanken allerdings nicht veröffentlicht, verwendet er die Schreibweise \(y_1\), \(y_2\), \(y_3\), ... für die 1., 2., 3., ... Ableitung einer Variablen \(y\) sowie \(y_{-1}\) für eine Variable, deren Ableitung \(y\) ist, also für eine Stammfunktion von \(y\).
Neben diesem Werk ist insbesondere die Schrift Linear Perspective, or: A New Method of Representing Justly All Manner of Objects as They Appear to the Eye in All Situations aus dem Jahr 1715 hervorzuheben. Als Erster gibt Taylor eine formale Definition eines Fluchtpunkts (vanishing point) an und erläutert, wie die zugehörigen geometrischen Konstruktionen durchgeführt werden. Auch löst er das Umkehrproblem, also wie man aus dem perspektivischen Bild eines Quaders Hauptpunkt und Distanz der Perspektive sowie die wahre Größe der Seitenflächen bestimmen kann.
Diese erste mathematische Abhandlung der Methode der perspektivischen Darstellung ist allerdings sehr knapp gefasst und nicht nur wegen seines Definition-Satz-Beweis-Stils für Künstler schwer verständlich. Taylor selbst gibt vier Jahre später eine erweiterte Fassung heraus, und nach seinem Tod bemühen sich verschiedene Bearbeiter um eine bessere Lesbarkeit; insgesamt erscheint das Werk in 22 Auflagen und wird auch ins Französische und ins Italienische übersetzt.
Zwischen 1712 und 1724 veröffentlicht er 13 Beiträge zur mathematischen Theorie physikalischer Phänomene wie beispielsweise Kapillarität (Verhalten von Flüssigkeiten in engen Röhren) oder magnetische Anziehungskraft.
In einem posthum erschienenen Beitrag zeigt Taylor, dass die Newton'sche Methode zur Bestimmung der Krümmung einer Kurve äquivalent ist zu dem von ihm entwickelten Verfahren. Während Newton den Mittelpunkt eines Krümmungskreises als Grenzwert der Schnittpunkte von Kurven-Normalen definiert (oben), betrachtet Taylor Kreise durch drei Kurvenpunkte, die im Grenzfall zusammenfallen (unten).
In einer anderen Schrift greift er eine Idee von Edmond Halley auf und entwickelt eine rekursive Methode zur Nullstellenbestimmung mithilfe der ersten beiden Ableitungen: Hat man einen Näherungswert \(x_0\) für eine Nullstelle gefunden, die an der Stelle \(x_0 + h\) liegt, so folgt aus \[ 0=f(x_0+h) \approx f(x_0) + h\cdot f'(x_0) +\frac{h^2}{2}\cdot f''(x_0), \] dass Folgendes gilt: \[- f(x_0) \approx h \cdot \left(f'(x_0)+\frac{h}{2}\cdot f''(x_0)\right) \] und \[h \approx -\frac{f(x_0)}{f'(x_0)- \frac{h}{2}\cdot f''(x_0)} \approx -\frac{f(x_0)}{f'(x_0)} ,\] nach Einsetzen dann \[ x_0 + h \approx x_0 – \frac{f(x_0)}{f'(x_0)-\frac{f(x_0)\cdot f''(x_0)}{2f'(x_0)}} .\]
Trotz seiner uneingeschränkten Parteinahme für Newton und der vergifteten Atmosphäre zwischen den englischen und den kontinentalen Mathematikern freundet er sich mit Pierre Rémond de Montmort an und hat einen regen Briefwechsel mit ihm. Auch vermittelt er im Prioritätsstreit zwischen Montmort und de Moivre und gibt beiden Anregungen zur gemeinsamen Lösung des Springerproblems.
Brook Taylor erreicht ein Alter von nur 46 Jahren. Seine labile Gesundheit wird zusätzlich durch Schicksalschläge beeinträchtigt: Sein Vater ist mit der Wahl seiner Ehefrau nicht einverstanden, da sie zwar aus gutem Hause stammt, aber unvermögend ist; er bricht sämtliche Kontakte zu ihm ab. Nachdem die Ehefrau bei der Geburt des ersten Kindes gestorben ist und dann auch das Kind, versöhnt er sich wieder mit dem Vater. Taylor geht eine zweite Ehe ein (der Vater ist diesmal mit der Wahl einverstanden). Als der Vater im Jahr 1729 stirbt, hinterlässt er dem kränkelnden Sohn die Mühen der Verwaltung eines großen Grundbesitzes. Aber auch die zweite Ehe endet 1730 mit dem Tod der Ehefrau bei der Geburt des ersten Kindes; die Tochter überlebt. Jahrzehnte später sichtet ein Enkel die hinterlassenen unvollendeten Schriften, darunter eine Abhandlung zur Berechnung von Logarithmen, aber auch philosophische und religiöse Texte.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben