Der Mathematische Monatskalender: Charles de la Vallée Poussin (1866–1962) wollte eigentlich Priester werden
Sucht man den Namen Charles-Jean Gustave Nicolas Baron de la Vallée Poussin in einem Stichwortverzeichnis, dann wird man vermutlich unter dem Anfangsbuchstaben L fündig, denn ursprünglich führte die aus Frankreich stammende Familie den Namen Lavallée. Als einer der Urgroßväter des hier zu würdigenden Mathematikers eine Nachfahrin des französischen Barockmalers Nicholas Poussin (1594–1665) heiratete, fügte dieser – er war selbst ein Künstler – noch den Namen Poussin hinzu. Und schließlich kam 1930 noch der Adelstitel Baron hinzu (Ehrung und Anerkennung der Verdienste des Mathematikers durch den belgischen König).
Charles wächst als Sohn eines Professors für Mineralogie und Geologie im belgischen Leuven (dt. Löwen, frz. Louvain) auf. Louis-Philippe Gilbert, ein Cousin des Vaters und Professor für Mathematik an der Université Catholique de Louvain, versucht vergeblich, seinen Neffen für Mathematik zu interessieren – der Junge besteht darauf, Priester zu werden und wechselt an das Jesuitenkolleg Saint-Stanislas in Mons (in der wallonischen Provinz Hainaut/Hennegau).
Mit 17 Jahren beginnt Charles ein Studium der Philosophie, ist aber bald von diesem Fach enttäuscht und wechselt in ein Ingenieurstudium, das er mit einem Diplom abschließt. Erst während des Ingenieurstudiums wächst sein Interesse für die Mathematik. Er besucht die Vorlesungen seines Onkels Louis-Philippe Gilbert, wird 1891 als dessen Assistent angestellt und promoviert auch bei ihm. Als der Onkel überraschend stirbt, wird er von der Universitätsleitung mit der Übernahme der Vorlesungen in Differenzial- und Integralrechnung beauftragt. Im Jahr 1892 erhält er für eine Arbeit über Differenzialgleichungen bei einem ausgeschriebenen Wettbewerb den Preis der Belgischen Akademie der Wissenschaften; im gleichen Jahr erfolgt seine Ernennung zum außerordentlichen Professor, 1897 zum Ordinarius.
Zwischenzeitlich verbringt er noch ein Studienjahr an den Universitäten in Paris (Camille Jordan, Henri Poincaré, Émile Picard) und Berlin (Hermann Schwarz, Ferdinand Frobenius, Lazarus Fuchs).
Durch eine Veröffentlichung im Jahr 1896 wird Charles de la Vallée Poussin auf einen Schlag berühmt. Etwa zur selben Zeit wie der französische Mathematiker Jacques Salomon Hadamard (1865–1963) und unabhängig von diesem gelingt ihm der Beweis des so genannten Primzahlsatzes, der Folgendes besagt:
Für die Funktion π(x), welche die Anzahl der Primzahlen kleiner gleich x angibt, gilt: \[ \lim_{x \to \infty} \left(\frac{\pi(x)}{x / \text{ln} (x)} \right) = 1 \]
Erste Untersuchungen zu diesem Satz hatten – unabhängig voneinander – Carl-Friedrich Gauß (1755–1855) und Adrien-Marie Legendre (1752–1833) durchgeführt. In der ersten Auflage seines Buchs »Théorie des nombres« aus dem Jahr 1798 hatte Legendre den Zusammenhang mit dem Logarithmus als Vermutung veröffentlicht, dann in der zweiten Auflage eine Näherung angegeben: \[ \pi(n) \approx \frac{n}{\text{ln}(n)- 1{,}08366} \]
Daraufhin war es zu einem Prioritätenstreit mit Gauß gekommen, der sich bereits als 15-Jähriger mit den Primzahlen und ihrer Verteilung beschäftigt, aber seine empirischen Ergebnisse nicht weiter publiziert hatte. Gauß hatte herausgefunden, dass der Zuwachs von x/π(x) pro Zehnerpotenz ungefähr ln(10) ≈ 2,3 beträgt.
1851 konnte der russische Mathematiker Pafnuti Lwowitsch Tschebyschow (1821–1894) dann zeigen, dass für den Quotienten der beiden Funktionen gilt: \(0{,}92929 \leq \frac{\pi(x)}{x/\text{ln}(x)} \leq 1{,}1056, \) was die Abweichungen zwischen beiden Funktionen auf ungefähr zehn Prozent nach oben und unten einschränkte. Aus Untersuchungen von \( \frac{\pi(x)}{x/\text{ln}(x)} \) sowie der Integralfunktion \(\text{Li}(x) = \int_2 ^x \frac{1}{\text{ln}(t)}\ dt , \) die von Peter Gustav Lejeune Dirichlet (1805–1859) eingeführt worden war, folgerte er: Falls der Grenzwert \(\lim_{x \to \infty} \frac{\pi(x)}{x/\text{ln}(x)} \) überhaupt existiert, muss dieser gleich 1 sein. Dem englischen Mathematiker James Joseph Sylvester (1814–1897) gelang es im Jahr 1892, die tschebyschowsche Abschätzung weiter zu verbessern: \(0{,}95695 \leq \frac{\pi(x)}{x/\text{ln}(x)} \leq 1{,}04423 \)
Die Beweise von de la Vallée Poussin und Hadamard stützen sich auf einen Zusammenhang zwischen der Primzahlverteilung und der von Euler eingeführten Zetafunktion: \[ \zeta(s) = \sum_{n=1}^\infty \frac{1}{n^s} = \prod_p \frac{1}{1-\frac{1}{p^s}} \]
Ihre komplexe Fortsetzung hatte Bernhard Riemann (1826–1866) im Jahr 1859 untersucht. Die beiden äußerst komplizierten Beweise von de la Vallée Poussin und Hadamard können zwar später von Atle Seberg und Paul Erdős vereinfacht werden; aber auch deren Vorgehensweise kann man kaum als elementar bezeichnen.
Auch wenn es der Beweis des Primzahlsatzes war, durch den VP (so die übliche abgekürzte Zitierweise des Namens) berühmt wurde, so ist es vor allem ein Lehrbuch, das ihm große Anerkennung einbringt. 1882 hatte der französische Mathematiker Camille Jordan die Ausarbeitung seiner Vorlesungen zur Analysis herausgebracht; nach Godfrey Harold Hardy war dies dasjenige Fachbuch, das ihm und seinen Mitstudenten »die Augen öffnete«, was Analysis eigentlich ist. 1903 veröffentlicht VP in Fortführung dieses jordanschen Werks die Ausarbeitung seiner Vorlesungen über die Differenzialrechnung für Funktionen mit einer und mit mehreren Variablen sowie die Einführung in die Integralrechnung als Band I des »Cours d’Analyse Infinitésimale«; 1906 folgt der zweite Band über Mehrfachintegrale, Differenzialgleichungen und Differenzialgeometrie – gesetzt in zwei Schriftgrößen: in Normalschrift die Ausführungen für Anfänger und Ingenieurstudenten, in kleinerer Schrift die Vertiefungstexte für »Spezialisten«. Nach Meinung der Kritiker übertreffen die beiden Bände alle vergleichbaren Werke hinsichtlich der Verständlichkeit und der Genauigkeit. 1909 und 1912 folgt die zweite Auflage der Bücher, in die VP unter anderem die aktuellen Beiträge Henri Lebesques zur Integralrechnung sowie gerade erst veröffentlichte Erkenntnisse zur Mengenlehre aufnimmt. Anfang 1914 erscheint die dritte Auflage des ersten Bands, eine Übersetzung ins Deutsche wird vorbereitet.
Im August 1914 liegt auch das Manuskript des zweiten Bands vor; der Druck kann aber nicht mehr erfolgen, da die deutsche Armee nach dem Überfall auf das neutrale Belgien im Rahmen einer »Strafaktion« am 29. August die Bevölkerung Leuvens vertreibt und die Stadt in Brand steckt. Unermessliche Kunstschätze gehen verloren, darunter die 300 000 Bände der über 500 Jahre alten Universitätsbibliothek; auch das Manuskript des zweiten Bands verbrennt.
VP flieht ins Ausland, übernimmt Vorlesungen in Harvard und Cambridge (Massachusetts); ab 1916 lehrt er am Collège de France und an der Sorbonne in Paris. Nach dem Krieg kehrt er nach Belgien zurück; von der neu gegründeten Internationalen Union der Mathematiker wird er zum ersten Präsidenten gewählt. In den Folgejahren (bis 1959) erscheinen weitere Auflagen seiner beiden Analysis-Bände, auch in englischer und russischer Sprache, wobei er auf die Abschnitte für »Spezialisten« verzichtet. Seine Forschungstätigkeiten verlagert er auf Untersuchungen über die Approximation von Polynomen durch Fourier-Reihen (Summen trigonometrischer Funktionen).
Während der 1920er Jahre hält VP weltweit Vorträge; er wird Ehrenmitglied verschiedener wissenschaftlicher Akademien (Paris, Straßburg, Haarlem, Utrecht, Rom, Neapel, Madrid, Oslo, Boston, Toronto) und erhält vier Ehrendoktorwürden. Zweifach wird er von der Belgischen Akademie der Wissenschaften als Mathematiker des Jahrzehnts ausgezeichnet.
Erst 1943 (also im Alter von 79 Jahren) beendet er seine Vorlesungstätigkeit in Leuven. Ende 1961 stürzt de la Vallée Poussin so unglücklich, dass er sich von den Folgen des erlittenen Schulterbruchs nicht mehr erholt und im Alter von 95 Jahren stirbt.
Übrigens: Einer der Doktoranden VPs war der Astrophysiker und Theologe Georges Lemaître, der Begründer der Urknalltheorie.
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