Der Mathematische Monatskalender: Charlotte Scott, die Mathe-Pionierin
Dass Charlotte Angas Scott eine Karriere als Mathematikerin machen konnte, hing nicht unwesentlich mit der Tatsache zusammen, dass ihr Vater Reverend Caleb Scott, Pfarrer der Congregational Church, Schulleiter einer der beiden einzigen weiterführenden Schulen in England war, die von Mädchen besucht werden durften. Die protestantische Freikirche (»Nonconformists«) war eine der ersten Institutionen in England, die sich aktiv für die Rechte der Frauen einsetzte – dazu gehörte insbesondere auch der freie Zugang von Mädchen zu allen Bildungseinrichtungen.
Als Schulleiter konnte Caleb Scott dafür sorgen, dass seine Tochter Charlotte im normalen Schulunterricht auf ein Studium vorbereitet wurde und sie nicht – wie sonst allgemein für Mädchen üblich – auf Privatlehrer angewiesen war. Dank eines Stipendiums gehörte Charlotte Scott zu den elf Studentinnen, die 1876 ein Studium der Mathematik am Girton College aufnahmen.
Als Frau wurde es ihr schwer gemacht
Vorlesungen an der University of Cambridge durften die jungen Frauen vom Girton College nur besuchen, wenn die jeweiligen Dozenten ihre Zustimmung gegeben hatten (was nicht immer der Fall war). Eigentlich mussten die Studentinnen für die Teilnahme sogar zusätzliche Gebühren zahlen; doch in den meisten Fällen wurden sie als Begleitpersonen akzeptiert. 1880 erhielt Charlotte Scott auf Antrag die Erlaubnis, an den »Mathematical Tripos Examinations« der University of Cambridge teilzunehmen. Aber: Selbst wenn die Prüfung erfolgreich verlief, war damit kein irgendwie gearteter offizieller Abschluss verbunden.
Ein mathematischer »Tripos« bestand in den 1880er Jahren aus einer Reihe von Teilprüfungen, die, verteilt auf neun Tage, insgesamt 50 Stunden dauerten. Die Prüfungsaufgaben kamen aus den Fachbereichen Algebra, Geometrie, analytische Geometrie, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Analysis und aus der Physik (Grundlagen von Statik, Dynamik, Hydrostatik, Optik und Astronomie unseres Sonnensystems).
Während der vier Studienjahre hatte sich auch unter den männlichen Studierenden herumgesprochen, dass Charlotte Scott eine außergewöhnliche Begabung für Mathematik besaß, und irgendwie sicherte auch durch, dass sie die achtbeste Prüfungsleistung des Jahrgangs erzielt hatte. Bei der feierlichen Verkündung der Namen der erfolgreichen (männlichen) Prüflinge schaffte es der Redner nicht, den Namen des nominierten achten Preisträgers zu verkünden, weil die anwesenden Studenten (nur Männer waren zugelassen) laut »Scott of Girton« skandierten und Beifall klatschten. Sogar die »Times« und die Zeitschrift »Punch« berichteten von dem Ereignis, und innerhalb von drei Monaten unterzeichneten 8000 Personen eine Petition zur Öffnung der Studiengänge und Abschlüsse der University of Cambridge auch für Frauen. Doch das Einzige, was sich danach änderte, war, dass vom folgenden Jahrgang an Frauen ohne besonderen Antrag am »Tripos« teilnehmen durften, allerdings weiterhin ohne rechtliche Relevanz.
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Unterstützung von Arthur Cayley
Während der folgenden vier Jahre wurde Scott als Lehrerin am Girton College angestellt, gleichzeitig besuchte sie die Vorlesungen von Arthur Cayley, der seit 1863 einen Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge innehatte. Unter den Studenten war Cayley nicht allzu beliebt, weil er in seinen Vorlesungen durchweg diejenigen Themen behandelte, an denen er gerade arbeitete, und diese hatten mit den »Tripos Examinations« wenig zu tun – für Charlotte Scott war das jedoch eine wunderbare Gelegenheit zu erfahren, mit welchen Themen sich die mathematische Forschung damals beschäftigte.
Außerdem meldete sie sich am University College London (UCL) an, das im Unterschied zu den Universitäten in Cambridge, Oxford und Durham auch für Nichtmitglieder der Church of England offen war und an der seit 1879 auch Frauen einen Abschluss machen konnten. Das UCL war insbesondere deshalb eingerichtet worden, damit Studierende der Colleges aus dem ganzen Land überhaupt ein Zertifikat erwerben konnten; erst später wurden dort auch Vorlesungen angeboten.
Charlotte Scott absolvierte 1882 die Prüfung zum Bachelor of Science, und 1885 erwarb sie – unter der Betreuung von Arthur Cayley – den akademischen Titel als Doctor of Science. Beide Prüfungen bestand sie mit Bestnoten.
Karriere als Professorin
Als im selben Jahr in Bryn Mawr, heute ein Vorort von Philadelphia (Pennsylvania), durch eine großzügige Stiftung eine Privathochschule für Frauen gegründet wurde, an der junge Frauen alle akademischen Abschlüsse erreichen konnten, erhielt Charlotte Scott (dank der Empfehlung Arthur Cayleys) das Angebot, dort als Associate Professor tätig zu werden – mit einem Jahresgehalt von 2000 US-Dollar.
Mehr als 30 Jahre lang setzte sich die außergewöhnlich befähigte Lehrerin mit all ihren Kräften und Fähigkeiten für ihre Studentinnen ein, engagierte sich besonders für junge Frauen aus benachteiligten Schichten. Sie war eine strenge und leistungsorientierte Lehrerin, aber alle Lernwilligen erhielten von ihr eine faire Chance.
Als Leiterin der mathematischen Abteilung prägte sie das Anspruchsniveau der gesamten Hochschule (Einführung von bisher nicht üblichen Eingangsprüfungen sowie die einheitliche Gestaltung der Abschlussprüfungen). Als der Präsident des Bryn Mawr College den Lehrenden – wohl etwas herablassend – vorschlug, die Anforderungen zu senken, um sie »den Fähigkeiten von Frauen anzupassen«, verfasste sie einen wütenden Protestbrief.
Charlotte Scott war bekannt für ihre Prinzipientreue, dazu gehörten auch die Vorsätze, ledig zu bleiben, kein Make-up zu benutzen und nicht zu rauchen.
Wissenschaftliche Werke
Sie verfasste das Lehrbuch »An Introductory Account of Certain Modern Ideas and Methods in Plane Analytical Geometry« (Titel ab der dritten Auflage: »Projective Methods in Plane Analytic Geometry«). Insgesamt betreute sie sieben Doktorarbeiten. 1894 war sie Gründungsmitglied der American Mathematical Society, 1906 Vizepräsidentin der Vereinigung. 1899 wurde sie Mitherausgeberin des von James Joseph Sylvester (1814–1897) gegründeten »American Journal of Mathematics«. Sie war eine der vier Frauen, die 1897 am ersten Internationalen Mathematikerkongress in Zürich teilnahmen.
Zudem schrieb sie mehr als 30 Beiträge für Fachzeitschriften, darunter »Note on Regular Polygons«. Hier zeigte sie, dass sich rechtwinklige Hyperbeln so legen lassen, dass ihre vier Schnittpunkte mit dem Einheitskreis Eckpunkte eines regelmäßigen Fünf-, Sieben- beziehungsweise Neunecks sein können.
Aufsehen erregte »A Proof of Noether's Fundamental Theorem«. Das war der erste Beitrag aus einer US-amerikanischen Fachzeitschrift, der auch in Europa zur Kenntnis genommen wurde; 1899 wurde er in den »Mathematischen Annalen« abgedruckt. Die Abhandlung bezieht sich auf einen Satz von Max Noether (1844–1921, Vater von Emmy Noether) aus dem Jahr 1869. Seit Scotts Beweis sind verschiedene Beweisvarianten veröffentlicht worden, aber alle mit ähnlichen Ansätzen.
Noetherscher Fundamentalsatz für algebraische Funktionen
Sind U(x,y) und V(x,y) zwei Polynome m-ten beziehungsweise n-ten Grades, dann werden durch die Gleichungen U(x,y) = 0 und V(x,y) = 0 zwei algebraische Kurven in der x-y-Ebene beschrieben. Ist dann W(x,y) ein Polynom vom Grad m+n, dessen zugehörige Kurve durch die Schnittpunkte der beiden algebraischen Kurven verläuft, dann lassen sich stets zwei Polynome A(x,y) und B(x,y) finden, so dass W(x,y) dargestellt werden kann als W = A · U + B · V.
Späte Anerkennung
Im Lauf der Jahre kehrte Charlotte Scott mehrfach nach Europa zurück; durch ihren alternativen Beweis des noetherschen Satzes war sie auch dort bekannt. Sie wurde Ehrenmitglied der Mathematischen Gesellschaften in London, Edinburgh, Palermo und Amsterdam sowie der Deutschen Mathematiker Vereinigung.
Von 1904 an ließ ihr Hörvermögen, das bereits am Girton College beeinträchtigt war, dramatisch nach und sie wurde fast taub. Zudem quälte sie eine rheumatoide Arthritis. Dennoch setzte sie ihre Unterrichtstätigkeit fort, bis es nicht mehr ging. Nach der Betreuung ihrer letzten Doktorandin wurde sie feierlich vom Department of Mathematics of Bryn Mawr College verabschiedet. Eigens aus England reiste als Festredner der Philosoph Alfred North Whitehead an (der zusammen mit Bertrand Russell die »Principia Mathematica« verfasst hatte). Er würdigte ihre Verdienste als Wissenschaftlerin und als Dozentin, vor allem aber ihre Menschlichkeit.
Nach ihrer Emeritierung kehrte sie nach Cambridge zurück, kaufte sich ein Haus und züchtete Chrysanthemen. Charlotte Scott starb 1931 nach einem erfüllten, trotz der gesundheitlichen Probleme glücklichen Leben im Alter von 73 Jahren.
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