Schlichting!: Das Geheimnis im Spülbecken
Dreht man den Wasserhahn über einer Spüle vorsichtig auf – der Strahl sollte kompakt, aber nicht zu kräftig sein –, beobachtet man eine scheinbar wasserfreie, nahezu kreisrunde Fläche um die Auftreffstelle. Sie entpuppt sich als sehr dünner und glatter Strom, der radial nach außen strebt. In einem bestimmten Abstand türmt er sich unvermittelt wesentlich höher auf. Von dort fließt das Wasser dann langsam weiter in den Ausfluss.
Das Küchenphänomen ist allgegenwärtig und wird dennoch meist nicht bewusst wahrgenommen. Es ist ein Spezialfall eines so genannten hydraulischen Sprungs oder Wechselsprungs und kommt bei Flüssigkeiten in ganz unterschiedlichen Ausprägungen vor. Der kreisförmige oder zirkuläre hydraulische Sprung ist seit Jahren Gegenstand der Forschung, und Physiker finden immer wieder neue Aspekte. Unter gewissen Voraussetzungen kann sich beispielsweise die runde Form auflösen und zu einem Polygon werden, also regelrechte Ecken ausbilden.
»Durch eine Bewegung oder einen Sprung kann Wasser sich erheben«
Leonardo da Vinci, 1452–1519
Die Entstehung der Kreisstruktur ist für sich bereits erstaunlich genug. Schon einfache Experimente in der Spüle enthüllen: Der Wasserkreis ist äußerst stabil. Nach jeder noch so starken Störung bildet er sich sofort aufs Neue. Abweichungen von einem idealen Kreis gibt es nur wegen Inhomogenitäten im Strahl und Unebenheiten in der Oberfläche der Spüle. Dreht man den Wasserhahn weiter auf oder zu, wächst oder schrumpft der Radius.
Wer das Geschehen genauer untersuchen will, kann beispielsweise in einer kleinen Wanne mit einer Pumpe, einem Schlauch und einer horizontal ausgerichteten Glasscheibe einen kontinuierlichen Kreislauf aufbauen. So bekommt man eine nahezu perfekte Form. Die Auswirkungen der aufgestauten Flüssigkeit auf das Geschehen lassen sich mit einer höhenverstellbaren, ringförmigen Barriere in einigem Abstand vom hydraulischen Sprung analysieren.
Was steckt hinter dem Phänomen? Der Strahl, also ein kompakter, in vertikaler Richtung strömender Flüssigkeitszylinder, schießt nach dem Auftreffen auf den Boden symmetrisch nach allen Seiten. Dabei wird er zu einer dünnen Scheibe, in der das Wasser radial wegfließt. Beim Aufprall vergrößert sich dessen Grenzfläche zur umgebenden Luft enorm. Außerdem entsteht eine neue Grenzfläche zwischen der Flüssigkeit und dem Untergrund. Für beides ist eine Menge Energie nötig (siehe »Spektrum der Wissenschaft« Juli 2018). Sie kann nur aus der ursprünglichen Bewegungsenergie des fallenden Wassers stammen.
Die Grenzfläche mit der Luft und dem Untergrund wächst quadratisch mit dem Radius des Kreises. Die Flüssigkeitsschicht wird also mit zunehmender Entfernung vom Auftreffpunkt des Strahls nicht nur immer dünner auseinandergezogen, sondern vor allem nehmen ihre Bewegungsenergie und damit die Geschwindigkeit rapide ab. Hinzu kommt die innere Reibung der strömenden Flüssigkeit auf Grund ihrer Zähigkeit (Viskosität). Auch sie muss überwunden werden, was ebenfalls zu Lasten der kinetischen Energie geht.
Wasser, das schneller schießt als sein Schatten
Physiker bezeichnen die sich ungewöhnlich rasch radial ausbreitende Flüssigkeit auch als schießend: Sie ist schneller, als sich Wellen und damit jede Form einer Störung auf der Oberfläche ausbreiten können. Das bedeutet, dass die Grenzflächen sich nicht ein für alle Mal ausbilden und das Wasser gewissermaßen umhüllen – wie bei einem fallenden Tropfen oder einer Seifenblase –, sondern fortwährend neu entstehen. Dafür ist ständig Energie nötig.
Weil ihre Bewegungsenergie mit zunehmendem Radius aufgebraucht wird, müsste die schießende Flüssigkeit anschaulich gesprochen irgendwann stehen bleiben. Das tut sie auch – sie staut sich auf. Die größere Höhe des Walls kompensiert dann seine kleinere Geschwindigkeit. Es stellt sich ein Fließgleichgewicht ein, bei dem genauso viel Volumen nach außen abfließt, wie von innen nachgeliefert wird.
Der Radius des Übergangs hängt von der Auftreffgeschwindigkeit ab und ist bei sonst unveränderten Bedingungen immer gleich, unabhängig davon, wie die Fläche im Raum orientiert ist. Ob der Strom von oben, von unten oder waagrecht aufprallt, macht also kaum einen Unterschied, solange er dabei gleich schnell ist. Die Schwerkraft spielt beim kreisförmigen hydraulischen Sprung im Allgemeinen praktisch keine Rolle.
Dort, wo die schießende Flüssigkeit zum Stillstand kommt und sich auftürmt, wird der Strom im unteren Bereich der Schicht unmittelbar über dem Grund am stärksten abgebremst. Nachlaufende Flüssigkeit stolpert gewissermaßen darüber, kippt nach vorn und läuft teilweise entgegen der allgemeinen Bewegungsrichtung zurück. Es bildet sich ein Wirbel beziehungsweise ein Schlauch von Wirbeln, der sich im gleichen Radius rund um die Kreismitte legt (1. Wirbel, Illustration oben). Hier steigt das Wasser nach oben.
Wird der Abfluss nach dem Sprung zusätzlich durch eine Barriere behindert, so staut sich das Wasser jenseits des Sprungs weiter auf. Die Sprungkante wird schließlich unterströmt und kippt – auf diese Weise instabil geworden – entgegen der allgemeinen Strömungsrichtung nach hinten über. So entsteht ein neuer stationärer Zustand mit einem zweiten Wirbel. Er hat die umgekehrte Drehrichtung und befindet sich direkt unter der Oberfläche an der Stirnseite des Walls (2. Wirbel, Illustration oben). Nachkommende Flüssigkeit strömt im Slalom zwischen den Wirbeln hindurch und treibt dadurch beide an.
Die Figur ist nicht immer stabil. Die Kreisform kann durch kleinste Störungen zerfallen und Ecken bilden. Diese dominieren dann das Geschehen und sind zunächst unregelmäßig und unbeständig. Durch sorgfältige Variationen der wesentlichen Parameter, insbesondere der Viskosität, lassen sich die so entstandenen Ecken jedoch stabilisieren: als regelmäßige und dauerhafte Vielecke sowie ästhetisch ansprechende andere Formen.
Eine umfassende Erklärung dafür steht allerdings noch aus. Die Physiker sind sich immerhin einig, dass der zweite, obere Wirbel für den Symmetriebruch der Kreisform entscheidend ist. Der Vorgang, bei dem sich der Torus an der Sprungkante in einzelne Teilströme separiert, kann als Analogon zur so genannten Rayleigh-Plateau-Instabilität angesehen werden. Hinter dem Begriff steht ein Effekt, der sich ebenfalls an dem Wasserhahn einer Spüle beobachten lässt: der Zerfall eines dünnen, langen Wasserstrahls in einzelne Tropfen. Ein Phänomen kommt schließlich selten allein.
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