Der Mathematische Monatskalender: Grégoire de Saint-Vincent, der Pechvogel
Über die Herkunft und die ersten Lebensjahre von Grégoire de Saint-Vincent (lateinisch: Gregorius a Sancto Vincentio) ist nichts bekannt. Geboren wurde er in Brügge (heute Belgien, damals Spanische Niederlande), wo er auch ab 1595 das Jesuiten-Kolleg besuchte.
Von 1601 an studierte er Mathematik und Philosophie an der vom spanischen König Philipp II. gegründeten Universität in Douai (heute Region Hauts-de-France). 1605 trat er in Rom in den Jesuitenorden ein, zunächst als Novice, dann endgültig im Jahr 1607. Am Collegio Romano setzte er seine Studien fort.
Sein Lehrer war Christopher Clavius, der maßgeblich an der Durchführung der Gregorianischen Kalenderreform beteiligt war und bereits zu Lebzeiten als »Euklid des 16. Jahrhunderts« bezeichnet wurde. Dieser erkannte die hohe mathematische Begabung des jungen Mannes und förderte ihn bis zu seinem Tod im Jahr 1612. In jene Zeit fällt Galileis Entdeckung der Jupitermonde (1610), was auch bei Saint-Vincent Zweifel an der Gültigkeit des geozentrischen Weltbilds aufkommen ließ.
1612 kehrte Saint-Vincent in die Spanischen Niederlande zurück, beendete sein Theologiestudium in Leuven (Louvain) und erhielt die Priesterweihe. Von 1613 an lehrte er Griechisch in Brüssel und 's-Hertogenbosch. Als erste Unruhen durch die niederländische Unabhängigkeitsbewegung auftraten, wurde die Präsenz spanischer Truppen im Land verstärkt und Saint-Vincent zur Truppenbetreuung abgeordnet. In Kortrijk (Courtrai) legte er die drei Klostergelübde ab (Gehorsam, Keuschheit, Armut). Während der folgenden Jahre wurde er Lehrer für Mathematik an der Jesuitenschule in Antwerpen, anschließend an der Universität in Leuwen. In dieser Zeit veröffentlichte er wissenschaftliche Thesen über Kometen und zur Mechanik.
Zustimmung der Kirche benötigt
Unterstützt von seinen besten Studenten begann Saint-Vincent in den 1620er Jahren damit, Materialien für sein großes Werk »Opus geometricum quadraturae circuli et sectionum coni« (Geometrisches Werk über die Quadratur des Kreises und über Kegelschnitte) zusammenzustellen, das er jedoch nur mit Zustimmung seiner Vorgesetzten in Rom veröffentlichen durfte. Also stellte er einen Antrag an Mutio Vitelleschi, den Obersten General der Societas Jesu; der leitete die eingereichten Manuskripte weiter an Christoph Grienberger, den Nachfolger von Clavius, damit dieser die von Saint-Vincent entwickelten Methoden beurteilte. Um die Angelegenheit zu beschleunigen, reiste Saint-Vincent nach Rom, konnte aber auch nach zweijährigem Aufenthalt keine Entscheidung herbeiführen.
In der Zwischenzeit trafen zwei Angebote ein: König Philipp IV. von Spanien wünschte, dass Saint-Vincent als Erzieher seines jüngsten Sohnes nach Madrid kommt. Und Kaiser Ferdinand II. bot ihm den Mathematiklehrstuhl an der Universität Prag an, auch sollte er als persönlicher Kaplan des Kaisers tätig werden. Prag gehörte zuvor noch zum Einflussbereich des protestantischen Lagers, war aber jetzt von den kaiserlichen Truppen erobert worden.
Durch das Gehorsamkeitsgelübde gebunden, hatte Saint-Vincent selbst keine Wahl – seine Ordensvorgesetzten entschieden sich für den Einsatz in Prag. Bevor er die Lehrtätigkeit dort aufnahm, kehrte Saint-Vincent noch einmal nach Leuwen zurück, um seine Manuskripte zu ordnen, deren Bearbeitung er in Prag fortsetzen wollte.
König Philipp IV. hatte allerdings nicht aufgegeben, und es gelang ihm tatsächlich, den Leiter des Jesuitenordens zu veranlassen, Saint-Vincent nach Spanien zu beordern – als dieser jedoch einen (ersten) Schlaganfall erlitt, blieb er zunächst in Prag.
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Vom Feuer vernichtet
1631 wurde Prag von den mit dem schwedischen König Gustav Adolph verbündeten sächsischen Truppen erobert, ein großer Teil der Manuskripte Saint-Vincents wurde dabei durch einen Brand vernichtet; er selbst konnte sich retten. Mit Zustimmung seiner Vorgesetzten kehrte er in die flandrische Heimat zurück, wo er bis zu seinem Lebensende am Jesuitenkolleg in Gent unterrichtete; trotz eines weiteren Schlaganfalls erreichte Saint-Vincent das – für die damalige Zeit – hohe Alter von 82 Jahren.
Die von Studenten in Prag geretteten Manuskripte gelangten erst zehn Jahre später wieder in seine Hände. So konnte dann – mit über 20-jähriger Verzögerung – 1647 endlich sein Buch »Opus geometricum quadraturae circuli et sectionum coni« erscheinen. Ein weiteres Werk zum Problem der Würfelverdopplung (»Opus geometricum ad mesolabium«) veröffentlichten seine Schüler posthum im Jahr 1668.
Während René Descartes nicht viel Brauchbares in den beiden Büchern sah, »was man nicht auf ein bis zwei Seiten aufschreiben könne« – ein durchaus typisches Urteil für Descartes –, lobten sowohl Christiaan Huygens als auch später Gottfried Wilhelm Leibniz den Scharfsinn des Autors.
Ein verhängnisvoller Fehler
Dass Saint-Vincent als Mathematiker eher unbekannt blieb, hängt wohl mit einem schwer wiegenden Fehler zusammen, der ihm unterlief, als er zu zeigen glaubte, dass die Quadratur des Kreises möglich sei. Huygens fand den Fehler im Beweis auch erst nach dreijähriger Suche auf Seite 1121 des Buches (von insgesamt 1250 Seiten).
Dieser Fehler überschattete – zu Unrecht – die sonstigen Leistungen Saint-Vincents; die Fortschritte, die er machte, waren von großer Bedeutung für die Entwicklung der Infinitesimalrechnung. Mathematikhistoriker zählen Saint-Vincent auch zu den Vätern der analytischen Geometrie. Die Situation in Mitteleuropa während des 30-jährigen Kriegs trug allerdings wesentlich dazu bei, dass seine Beiträge erst mit Verzögerung gedruckt wurden und danach Verbreitung fanden.
Saint-Vincent war der Erste, der den Begriff »Terminus« für den Grenzwert einer Folge verwendete und ihn offensichtlich auch so verstand.
Dass er eine Vorstellung davon hatte, zeigte sich beispielsweise an den folgenden beiden Problemen, die er als Erster löste:
- Das so genannte Paradoxon von Achilles und der Schildkröte ist nur scheinbar ein Paradoxon, da die Laufzeiten der beiden eine geometrische Reihe bilden und der gemeinsame Grenzwert den Zeitpunkt bestimmt, in dem Achilles die Schildkröte überholt.
- Eine Winkel-Drittelung kann dadurch erfolgen, dass man fortlaufend Teilwinkel geeignet halbiert, denn: 1 − 1/2 + 1/4 − 1/8 + … − …= 2/3.
Seine Methode zur Bestimmung von Volumina, »ductus plani in planum« (Vervielfältigung einer Fläche), ist vergleichbar mit der Methode der Indivisiblen von Bonaventura Cavalieri (unabhängig von diesem und ungefähr zeitgleich entwickelt). Saint-Vincent war der erste Mathematiker, der in dem Zusammenhang den Begriff »Exhaustion« verwendete (von Latein exhaurire = ausschöpfen).
Bei der Bestimmung des Inhalts des Flächenstücks unterhalb des Graphen der Hyperbelfunktion entdeckte Saint-Vincent eine besondere Eigenschaft. Dass es sich hierbei um die Funktionalgleichung der Logarithmusfunktion handelt, stellte erst sein Schüler Alphonse Antonio de Sarasa fest.
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