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Der Mathematische Monatskalender: Der notorische Bücherdieb Guglielmo Libri

Auch wegen fachlicher Streitigkeiten war der als arrogant geltende Mathematiker bei seinen Kollegen unbeliebt.
Schwebendes offenes Buch in einem Bücherfenster einer Bibliothek
Der unrechtmäßig erworbene Bücherschatz von Libri wurde vom italienischen Staat zurückgekauft.

Guglielmo Brutus Icilius Timeleone Libri Carucci dalla Sommaia wurde als Sohn von Rosa Del Rosso und dem Grafen Giorgio Libri Carucci dalla Sommaia geboren; beide Eltern stammten aus alten Adelsfamilien der Toskana. Die Ehe wurde geschieden, als der Junge vier Jahre alt war.

Dank des intensiven Unterrichts durch Privatlehrer konnte Guglielmo sich bereits mit 14 Jahren an der Universität von Pisa einschreiben. Er belegte Vorlesungen in den Rechtswissenschaften, interessierte sich aber zunehmend für Mathematik und die Naturwissenschaften. Als er 1820 sein Studium abschloss, veröffentlichte er einen ersten Beitrag »Memoria sopra la teoria die numeri« (Memorandum zur Zahlentheorie), zu dem er positive Rückmeldungen unter anderem von Charles Babbage, Augustin-Louis Cauchy und Carl Friedrich Gauß erhielt.

Mit gerade einmal 20 Jahren wurde Libri zum Professor für mathematische Physik an der Universität Pisa ernannt; er merkte aber sehr bald, dass ihm diese Tätigkeit nicht besonders lag. Es gelang ihm, die Verantwortlichen der Universität davon zu überzeugen, dass ein (bezahlter) Studienaufenthalt an anderen europäischen Universitäten für beide Seiten vorteilhaft wäre.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie  hier.

In Paris wurde Libri von Mathematikern wie François Arago, Augustin-Louis Cauchy, Siméon-Denis Poisson, André-Marie Ampère, Joseph Fourier und Pierre-Simon Laplace freundlich empfangen; der Académie des Sciences legte er weitere Veröffentlichungen vor. Auch pflegte er regen Kontakt zu kirchlichen und politischen Persönlichkeiten. Mit François Guizot, zu diesem Zeitpunkt Generalsekretär des Innenministers, schloss er eine dauerhafte Freundschaft.

Nach seiner Rückkehr in die Toskana nahm Libri vorübergehend das Amt als Leiter der Bibliothek der Accademia di Georgofili (Akademie zur Förderung der Kenntnisse von Land- und Forstwirtschaft) in Florenz an. In dieser Zeit verfasste er auch mehrere Beiträge zur Zahlentheorie, über unstetige Funktionen und zur Wärmelehre – wegen der besseren Verbreitungsmöglichkeiten in französischer Sprache.

1829 reiste Libri erneut nach Paris, wo er sich in der Bibliothèque Mazarine intensiv mit den Handschriften von Leonardo da Vinci beschäftigte.

Ein gescheiterter Umsturzversuch

Begeistert vom Erfolg der Julirevolution, die zum Ende der Bourbonen-Regentschaft in Frankreich führte, schloss er sich einer Geheimgesellschaft an, die den Großherzog der Toskana zwingen wollte, auch seinem Land eine liberale Verfassung zu geben. Der Umsturzversuch scheiterte, und Libri floh nach Paris, wo er zahlreiche Freunde hatte. Bereits nach drei Jahren wurde ihm die französische Staatsbürgerschaft verliehen.

1833 wurde Libri als Nachfolger von Adrien-Marie Legendre Mitglied in der Académie des Sciences; gleichwohl trug sein oft arrogantes Auftreten dazu bei, dass er nicht bei allen Mitgliedern willkommen war. François Arago, der ständige Sekretär der Académie, vermittelt ihm eine Dozentenstelle am Collège de France, später auch an der Sorbonne. Das zunächst gute Verhältnis zwischen Arago und Libri kühlte allerdings bald ab.

1838 wurde Libri Mitglied der Redaktion des »Journal des Sçavans«. Er verfasste weitere Beiträge zur Wärmelehre, zur Zahlentheorie und zur Lösung von Differenzialgleichungen, über die es während der Sitzungen der Académie zu heftigen fachlichen Auseinandersetzungen kam; insbesondere geriet er regelmäßig mit Joseph Liouville aneinander.

Guglielmo Libri

Als Liouville dann 1839 in einem Bewerbungsverfahren um eine feste Professur am Collège seinem verhassten Konkurrenten Libri unterlag (auch Augustin-Louis Cauchy gehört zu den nicht berücksichtigten Bewerbern), fühlte er sich regelrecht gedemütigt und gab deswegen sogar seine bisherige Dozententätigkeit am Collège auf. Erst 1851, nach Libris überstürzter Flucht nach England, wurde Liouville zu dessen Nachfolger als Professor am Collège de France ernannt.

Möglicherweise waren es die Auseinandersetzungen in der Académie, die Libri dazu brachten, sich in den 1840er Jahren weniger mit mathematischen Theorien als mit deren Entwicklungsgeschichte zu beschäftigen. Sein vierbändiges Werk zur »Geschichte der Mathematik in Italien von der Renaissance bis zum Ende des 17. Jahrhunderts« fand allgemein große Anerkennung, auch wenn er die Verdienste italienischer Mathematiker um die Entwicklung der Mathematik oft überbetonte. Es ist aber zweifelsohne Libris Verdienst, dass Leonardo von Pisas »Liber abbaci« von der Wissenschaft (wieder)entdeckt wurde – Libri war der Erste, der den Namen »Fibonacci« verwendete.

Eine besondere Stärke von Libris Werk ist zudem, dass es umfangreiche Zitate aus Schriften enthält – auch aus solchen, die als verschollen galten.

Die kleptomanische Seite des Mathematikers

Über die Jahre hinweg hatte Libris Sammlung von Originalschriften (Briefe, Manuskripte und Bücher) einen beträchtlichen Umfang angenommen. Diese wuchs weiter, als er – nicht zuletzt dank seiner Beziehungen zu Guizot – 1841 zum staatlichen Aufseher über alle Bibliotheken Frankreichs ernannt wurde. Zu seinen Aufgaben gehörte es unter anderem, die nach der Französischen Revolution von 1789 beim Adel beschlagnahmten Bücher zu inventarisieren. In der Folgezeit gingen bei der Regierung aus dem ganzen Land Meldungen von Bibliotheken über den Verlust wertvoller Bücher ein – auffälligerweise jedes Mal, nachdem Libri diese Einrichtungen zuvor besucht hatte.

Eine eingeleitete Untersuchung wurde halbherzig verfolgt und ergebnislos abgebrochen. 1847 verkaufte Libri seine wertvolle Handschriftensammlung, darunter ein Exemplar des »Pentateuch« aus dem 7. Jahrhundert, für 200 000 Franc an den Earl of Ashburnham (zum Vergleich: Der Tageslohn eines Arbeiters lag in dieser Zeit bei vier Franc).

Erneute Flucht

Als jedoch nach der Revolution 1848 Libris Freund Guizot, mittlerweile Ministerpräsident Frankreichs, seines Amtes enthoben wurde, erging ein Haftbefehl gegen Libri. Dieser konnte – auf Grund einer Warnung – seiner Verhaftung entkommen; vor seiner Flucht gelang es ihm sogar, noch zirka 30 000 Bücher und Manuskripte beiseitezuschaffen und nach England zu versenden. In einem Prozess wurde Libri in absentia zu zehn Jahren Haft verurteilt; daraufhin wurden auch seine Ernennungen zum Ritter der Ehrenlegion und zum Mitglied der Académie rückgängig gemacht. Der französische Schriftsteller Prosper Mérimée (unter anderem Dichter der Novelle »Carmen«), Leiter der französischen Denkmalbehörde, war von der Unschuld seines Freundes überzeugt und kritisierte den Ablauf der Gerichtsverhandlung öffentlich; auch ihm wurde der Prozess gemacht.

In London wurde Libri als vermeintliches Opfer der politischen Verhältnisse in Frankreich herzlich aufgenommen. Dem aus Italien stammenden Leiter der Bibliothek des Britischen Museums Antonio Panizzi, der zuvor den Verkauf an den Earl of Ashburnham vermittelt hatte, gelang es sogar, Augustus de Morgan davon zu überzeugen, öffentlich für Libri einzutreten: Dessen Flucht aus Frankreich habe rein politische Gründe und vor allem mit dessen italienischer Herkunft zu tun. Was den Bücherdiebstahl betraf, gehe es Libri wie vielen bibliophilen Menschen – sie gerieten allzu leicht in den Verdacht, sich die wertvollen Objekte ungerechtfertigt angeeignet zu haben.

Libri war ohne finanzielle Mittel nach England gekommen, doch bald war er wieder ein vermögender Mann. Nach und nach verkaufte er Bücher und Manuskripte aus seinen »Beständen«, darunter 72 der 75 Briefe von René Descartes an Marin Mersenne sowie zahlreiche Originalschriften von Galilei, Kepler, Kopernikus und Cardano. 1861 wurden große Teile seiner Sammlung in aufwändigen Auktionen versteigert. Aus Anlass der Versteigerungen (unter anderem bei Sotheby's) gab Libri einen Katalog heraus, in dem er die Bedeutung der einzelnen Objekte ausführlich darstellte – das wurde zum Muster für zukünftige Versteigerungskataloge.

Um das Jahr 1868 traten bei Libri gesundheitliche Probleme auf. Da eine Rückkehr nach Frankreich ausgeschlossen war, begab er sich zurück in seine Heimat, wo er einige Monate später starb.

Nach Libris Tod untersuchte der international angesehene Historiker und Bibliothekar Léopold Delisle, Administrateur général de la Bibliothèque nationale de France, noch einmal den »Fall Libri« – mit dem Ergebnis, dass dieser sich tatsächlich den größten Teil der Bücher und Schriften zu Unrecht angeeignet hatte. Nach langwierigen Verhandlungen auf Regierungsebene gelang es ihm, den größten Teil der entwendeten Exemplare gegen hohe Entschädigungen wieder nach Frankreich zurückzuführen, darunter auch die Sammlung, die der Earl of Ashburnham 1847 gekauft hatte. Wie sich weiter herausstellte, hatte Libri bereits vor seinem Aufenthalt in Frankreich Bücher aus Bibliotheken in Italien entwendet; auch diese wurden in den 1880er Jahren vom italienischen Staat zurückgekauft.

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