Der Mathematische Monatskalender: Die lebensrettenden Diagramme von Florence Nightingale
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Ein Kalenderblatt über Florence Nightingale in der Reihe über berühmte oder weniger berühmte Mathematiker zu finden, mag irritieren. Aber die Beiträge der berühmten Engländerin zur Sozialstatistik waren von besonderer Bedeutung; vor allem ihre Erfindung des so genannten Polar-Area-Diagramms. Als Erster hatte der schottische Ingenieur William Playfairs im Jahr 1801 ein Kreisdiagramm zur Veranschaulichung von statistischen Daten verwendet. 1858 erfand Florence Nightingale eine besondere Variante, die als »coxcomb« (abgeleitet von a cock's comb, Hahnenkamm) bezeichnet wird.
Wie kam Florence Nightingale dazu, diese Diagramme anzufertigen und Königin Victoria vorzulegen?
Florence Nightingale wurde in einer sehr vermögenden englischen Familie geboren. Als Vornamen wählten die Eltern William Edward Nightingale und Frances Smith den Namen des Geburtsorts ihrer Tochter: Florenz. Zu dieser Zeit befanden sich die Eltern noch auf ihrer ausgedehnten Hochzeitsreise; im Jahr zuvor war ihre erste Tochter in Neapel geboren worden (deren Name Parthenope war der ursprüngliche Name der um 700 v. Chr. von griechischen Siedlern gegründeten Stadt am Vesuv).
Die Erziehung der beiden Mädchen erfolgte standesgemäß durch Gouvernanten (je nach Jahreszeit im Anwesen der Familie in Derbyshire oder in Hampshire), bis der Vater, der in Cambridge studiert hatte, den Unterricht selbst übernahm und seinen Töchtern all das lehrte, was sonst eher an Eliteschulen für Jungen angeboten wurde: neben Geschichte, Literatur und Philosophie, Latein und Griechisch auch Französisch, Deutsch und Italienisch. Besonderes Interesse zeigte Florence jedoch an Mathematik. Als sie 20 Jahre alt war, bat sie ihre Eltern, den Unterricht in diesem Fach noch zu intensivieren – an Stelle der Übungen in Gesellschaftstanz und in textiler Arbeit. Nur widerstrebend gaben die Eltern ihrem Drängen nach, und endlich erhielt sie umfassenderen Fachunterricht von ausgebildeten Lehrern, darunter (vermutlich) auch von James Sylvester.
Florence Nightingales religiöse Sozialisation erfolgte zwar innerhalb der Church of England, jedoch hatte sie bereits in jungen Jahren ihre Zweifel an der traditionellen Lehre der Kirche. Hierin fühlte sie sich bestätigt, nachdem sie Adolphe Quetelet und dessen Schriften kennen gelernt hatte. Dieser hatte 1834 die British Association for the Advancement of Science dabei unterstützt, eine Abteilung für Statistik einzurichten. Sein 1835 veröffentlichtes Werk »Sur l'homme et le développement de ses facultés« gilt heute als der Beginn der modernen Sozialstatistik.
Ein Leben im Auftrag des Guten
Nightingale kam zur Überzeugung, dass es keinen Sinn macht, zu Gott, dem Schöpfer der Welt, zu beten (etwa, damit er in einer Notsituation hilft), sondern dass man sich vielmehr damit auseinandersetzen muss, wie man drohende Katastrophen verhindern kann. Aus geeigneten statistischen Daten, wie sie beispielsweise in den queteletschen Sozialstatistiken erfasst sind, könnten die Menschen lernen, was getan werden muss, um Gottes schöpferisches Werk zu unterstützen und um so ein Mitstreiter Gottes zu sein. Auf diesem Hintergrund entwickelte Nightingale zunehmend Interesse an sozialer Arbeit und konnte sich vorstellen, in der Pflege von Kranken tätig zu werden. Dies stieß jedoch in ihrer Familie auf massive Ablehnung, wurde eine solche Arbeit üblicherweise doch nur von Frauen aus der Unterschicht wahrgenommen und eigne sich daher nicht für Frauen ihrer gesellschaftlichen Herkunft.
1849 begab sie sich auf eine Studienreise durch europäische Länder bis nach Ägypten; dabei nahm sie jede Gelegenheit wahr, Krankenhäuser zu besichtigen und verschiedene Pflegesysteme kennen zu lernen. Auf ein erstes Praktikum in einem Krankenhaus in Alexandria folgten weitere unter anderem in der Diakonissenanstalt des evangelischen Pastors Theodor Fliedner in Kaiserswerth (bei Düsseldorf). Nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat fühlte sie sich im Jahr 1853 hinreichend darauf vorbereitet, die ehrenamtliche Stelle als Leiterin des Institute for the Care of Sick Gentlewoman in London zu übernehmen.
Als im März 1854 Großbritannien und Frankreich dem russischen Zaren den Krieg erklärten, um dessen Expansionsdrang nach Süden einzudämmen, kam es zu einem Krieg neuen Typs mit gewaltigem Materialeinsatz und hohen personellen Verlusten auf beiden Seiten. Dank der Erfindung der Telegrafie war ganz Europa ständig auf dem Laufenden. Dieser so genannte Krimkrieg endete nach der Eroberung Sewastopols zwar bereits im September durch den Sieg der alliierten Truppen, in den Lazaretten herrschten aber weiterhin katastrophale Zustände, wie die Reporter der »Times« täglich berichteten. Dadurch sah sich der britische Kriegsminister Sidney Herbert veranlasst, Florence Nightingale um Hilfe zu bitten: Sie möge die Leitung einer Gruppe von Krankenschwestern für das britische Lazarett in Skutari (heute ein Stadtteil von Istanbul) übernehmen.
Anfang November traf sie mit 38 freiwilligen Helferinnen ein und fand »a kingdom of hell« vor. Nightingale kümmerte sich um alles: Die hoffnungslos überfüllten Lazarettstationen wurden gesäubert und Entwässerungsanlagen angelegt, Patienten mit ansteckenden Krankheiten (wie Cholera und Typhus) von den übrigen getrennt, die Verwundeten wurden gewaschen, mit sauberen Verbänden und mit neuer Kleidung versorgt und erhielten endlich auch wieder ausreichend Nahrung – finanziell ermöglicht durch Spendenaufrufe der »Times«. Auch nachts gönnte sich die »Lady with the Lamp«, wie sie liebevoll genannt wurde, keine Pause, ging tröstend von Bett zu Bett.
Nightingale hielt alle Details minuziös fest: In ihrem Bericht, den sie Königin Victoria, Prinz Albert und Premierminister Lord Palmerston vorlegte, konnte sie mit Hilfe ihrer Grafiken verdeutlichen, wie ihre strikt durchgeführten Maßnahmen die Situation verbessert hatten. Durch ihre Lazaretterfahrungen alarmiert, untersuchte sie auch die Mortalitätsraten in den heimatlichen Kasernen sowie in Indien, die beide deutlich über denen der normalen Zivilbevölkerung lagen, was zu umfassenden Reformen durch die Royal Commission on the Health of the Army führte. Für ihre aufklärerische statistische Arbeit (Entwicklung von standardisierten Datenerhebungen insbesondere im Gesundheitsbereich) wurde Nightingale im Jahr 1858 als erste Frau als Mitglied in die Royal Statistical Society aufgenommen.
1860 konnte Nightingale dank übrig gebliebener Spendenmittel eine erste Training School and Home for Nurses einrichten, eine Krankenhausschule mit angeschlossenem Schwesternwohnheim. Das diente als Vorbild für eine allgemeine Krankenhausreform; der Beruf einer Krankenschwester erhielt eine deutliche gesellschaftliche Aufwertung.
Während ihres Aufenthalts im Kriegsgebiet hatte Nightingale sich durch verdorbene Lebensmittel an Brucellose infiziert; unter den Folgen (chronische Schmerzen und immer wieder auftretende Fieberschübe) litt sie bis zu ihrem Lebensende. Trotzdem verfasste sie zahlreiche Schriften, unter anderem die Bestseller »Notes on Nursing« und »Notes on Hospitals«, die auch in andere Sprachen übersetzt wurden. Sie war jedoch daran gehindert, an internationalen Statistikerkongressen teilzunehmen. Um ihre Verdienste machte sie nie ein Aufsehen; bescheiden verwies sie stets darauf, dass sie nur einen Auftrag Gottes umgesetzt habe. Dies war auch der Grund, warum sie für sich den Gedanken an eine Eheschließung ausschloss.
Für ihre Lebensleistungen wurde sie durch die Verleihung des Royal Red Cross durch Königin Victoria, den Order of the Merit durch König Edward VII. sowie die Ehrenmitgliedschaft in der American Statistical Society geehrt. Sie starb im Alter von 90 Jahren, eine Trauerfeier in Westminster Abbey hatte sie noch zu Lebzeiten abgelehnt.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.