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Der Mathematische Monatskalender: Émile Borel, der mathematische Tausendsassa

Der Mathematiker legte eine steile Karriere hin – und dann kam der Erste Weltkrieg. Danach war nichts mehr so, wie es einmal war.
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Für Émile Borels Karriere ging es lange Zeit nur bergauf.

Félix Edouard Justin Émile Borel wurde als drittes Kind von Honoré Borel und seiner Frau Émilie im südfranzösischen Saint-Affrique geboren. Den ersten Unterricht erhielt er durch seinen Vater, einen Pastor, der eine Privatschule für Kinder aus protestantischen Familien leitete. Im Alter von elf Jahren wechselte Émile, der bereits zu diesem Zeitpunkt den Ruf eines Wunderkinds hatte, auf das Lycée in Montauban; dort lebte er in der Familie seiner 14 Jahre älteren Schwester.

Als Stipendiat des Collège Sainte-Barbe in Paris, dem ältesten Collège Frankreichs, belegte er Kurse am Lycée Louis-le-Grand, um sich auf die Aufnahmeprüfungen an der École Polytechnique und an der École Normale Supérieure (ENS) vorzubereiten. Beide Examina schloss er 1889 als Jahrgangsbester ab; außerdem erreichte er einen ersten Preis beim landesweiten Concours Général.

Von allen Seiten wurde er gedrängt, ein Studium an der angeseheneren École Polytechnique aufzunehmen; mit einem Abschluss dieser Hochschule wäre ihm eine gut bezahlte Stelle im Handel oder in der Industrie sicher.

Émile jedoch hatte andere Pläne: Während seiner Zeit am Lycée Louis-le-Grand hatte er sich mit Jean-Gaston Darboux angefreundet, dem Sohn eines Mathematikprofessors der Sorbonne, und durch dessen Familie auch andere Mathematiker kennen gelernt, unter anderem Émile Picard. So entschied er sich – mit Unterstützung seines Vaters – für ein Mathematikstudium an der École Normale Supérieure.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Für seine Schüler hat Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, den »mathematischen Monatskalender« geschrieben und mit passenden Briefmarken der vorgestellten Personen ergänzt. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie nun auch hier.

Bereits kurz nach Studienbeginn im Jahr 1889 veröffentlichte Borel erste Beiträge in einer Fachzeitschrift. Zwar musste er sein Studium wegen des obligatorischen Militärdienstes (in einem Ingenieurbataillon) unterbrechen, dennoch konnte er bereits 1892 sein Studium abschließen. Er gewann den nationalen Wettbewerb zur Einstellung von Mathematiklehrern, die an Gymnasien oder Hochschulen unterrichten sollen. Im Jahr darauf folgte seine Promotion bei Gaston Darboux mit der Arbeit »Sur quelques points de la théorie des fonctions«. Noch vor Ablauf des Promotionsverfahren erhielt der erst 22-Jährige das Angebot, als Dozent an der Université de Lille zu lehren.

Eine steile Karriere

Während seiner Zeit in Lille veröffentlichte Borel über 20 Artikel – nicht nur die Anzahl, sondern auch die Qualität seiner Beiträge sorgte in Fachkreisen für Aufsehen. Akademische Karrieren in Frankreich verlaufen heute noch üblicherweise so, dass man irgendwo an einer Hochschule in der Provinz beginnt und sich dann – sofern entsprechende Leistungsnachweise erfolgen – schrittweise mit weiteren Zwischenstationen zu den Elitehochschulen der Hauptstadt vorarbeitet.

Borel kehrte bereits 1897 nach Paris zurück – als Dozent an der École Normale Supérieure. Im August des Jahres übernahm er eine der Leitungsfunktionen bei der Organisation des ersten Internationalen Mathematikerkongresses in Zürich.

In den nächsten Jahren lehrte Borel auch am Collège de France und wurde zum Prüfer an der École Navale ernannt. 1898 erhielt er den Grand Prix der Académie des Sciences, 1901 den Prix Poncelet, weitere Auszeichnungen folgten. 1905 wurde er 34-jährig zum Präsidenten der Société Mathématique de France gewählt. Vier Jahre später richtete die Sorbonne eigens für ihn einen Lehrstuhl für Funktionentheorie ein. 1910 übernahm er für zehn Jahre zusätzlich die Stelle als stellvertretender Leiter der ENS.

Émile Borel | Der Mathematiker prägte insbesondere den Bereich der Wahrscheinlichkeitstheorie.

1901 heiratete Borel die erst 17-jährige Marguerite Appell, Tochter des Mathematikers Paul Appell, Professor der École Centrale Paris. Als die Ehe kinderlos blieb, adoptierte das Paar Fernand Lebeau, den Sohn von Borels älterer Schwester, nachdem dessen Eltern früh verstorben waren.

Marguerite Borel wurde eine angesehene Schriftstellerin; unter dem Pseudonym Marbo veröffentlichte sie eine Reihe von Romanen; 1913 wurde sie mit dem Prix Femina ausgezeichnet. Mit Hilfe der Preisgelder ihres Mannes startete sie die Monatszeitschrift für Literatur und Wissenschaft »La revue du mois«; während der Wirtschaftskrise 1920 musste die Zeitschrift eingestellt werden.

Nach Ausbruch des Weltkriegs befehligte Borel zunächst ein Bataillon, übernahm dann auf Bitten des (mit ihm befreundeten) Kriegsministers Paul Painlevé die Leitung des technischen Büros im Ministerium. Dieses hatte die Aufgabe, die Soldaten an der Front durch »Erfindungen im Dienste der Landesverteidigung« zu unterstützen. Marguerite Borel leitete während des Kriegs ein Lazarett.

Eine schwere Rückkehr

Nach dem Krieg sah sich Borel emotional außer Stande, die Tätigkeiten an seiner bisherigen Wirkungsstätte fortzusetzen: die Hälfte seiner Studenten der École Normale war im Krieg umgekommen. Auch sein Adoptivsohn Fernand war 1915 bei einem Fronteinsatz gestorben. So beendete er seine Tätigkeit am ENS und nahm stattdessen einen Ruf auf den Lehrstuhl für Wahrscheinlichkeitsrechnung und Mathematische Physik an der Université de Paris an. Das von ihm initiierte Institut de Statistique hatte die Aufgabe, Statistiker auszubilden, die die wissenschaftliche Arbeit der anderen Fakultäten (Jura, Literatur, Medizin, Naturwissenschaften) unterstützen sollten.

1921 wurde Borel Mitglied in der Académie des Sciences; 1933/34 war er Vizepräsident und Präsident dieser Einrichtung. Mit finanzieller Unterstützung der Rockefeller-Stiftung gründete er 1928 gemeinsam mit Jacques Hadamard, Émile Picard und George David Birkhoff die Forschungsstätte Institut Henri Poincaré in Paris, das Borel dann fast 30 Jahre lang leitete. Zu den Einrichtungen des Instituts gehört heute das Centre Émile Borel sowie eine der weltweit größten mathematischen Fachbibliotheken.

Parallel zu den akademischen Aktivitäten begann Borel eine politische Karriere, trat der republikanisch-sozialistischen Partei von Aristide Briand bei (der 1926 zusammen mit Gustav Stresemann den Friedensnobelpreis erhielt), war von 1924 bis 1936 direkt gewähltes Mitglied der französischen Abgeordnetenkammer und im Jahr 1925 sogar für einige Monate Marineminister. Nach der Besetzung von Teilen Frankreichs durch deutsche Truppen im Jahr 1940 wurde Borel vorübergehend verhaftet, schloss sich dann der Resistance an; zeitweise übernahm er in seiner Heimatstadt Saint-Affrique das Amt des Bürgermeisters.

Dass all dies gleichzeitig möglich war, ohne dass er seine mathematischen Aktivitäten einschränken musste, ist seiner außergewöhnlichen Intelligenz und beeindruckenden Tatkraft zu verdanken. Borel war stets bereit, Zeit und Energie für ein Anliegen aufzubringen, das er für wichtig hielt. Im Lauf der Jahre wurde er jedoch immer ungeduldiger und wirkte gelegentlich nahezu unhöflich, wenn er den Eindruck hatte, dass jemand seine zur Verfügung stehenden Zeit über Gebühr in Anspruch nahm.

Der bis zuletzt aktive Émile Borel starb im Alter von 85 Jahren in Paris – von den Folgen eines Sturzes, den er während der Schiffsrückfahrt von einer Tagung in Brasilien erlitt, hatte er sich nicht mehr erholt. Der weltweit vielfach geehrte Mathematiker wurde auf dem Friedhof seines Heimatortes beigesetzt.

Wichtige mathematische Erkenntnisse

Borel verdanken wir eine Reihe von mathematischen Sätzen: In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Verallgemeinerung von analytischen Fortsetzungen einer komplexwertigen Funktion. In einem Hilfssatz zeigte er dabei, dass jede abzählbare Überdeckung eines abgeschlossenen Intervalls durch offene Mengen bereits mit endlich vielen Mengen erfolgen kann. Hieraus ergab sich der nach ihm (und nach dem deutschen Mathematiker Eduard Heine) benannte Satz von Heine-Borel: Eine Teilmenge des IRn ist genau dann abgeschlossen und beschränkt, wenn jede Überdeckung durch offene Mengen bereits eine endliche Teilüberdeckung hat.

In der Maßtheorie erinnern eine Reihe von Bezeichnungen (etwa der Begriff der Borel-messbare Menge) an seine grundlegenden Arbeiten aus dem Jahr 1898. Diese wurden unter anderem von seinem Doktoranden Henri Lebesgue weiterentwickelt.

Von 1905 an beschäftigte sich Borel zunehmend mit Wahrscheinlichkeitstheorie; insgesamt veröffentlichte er mehr als 50 Beiträge zu diesem Fachgebiet. Dabei interessierte ihn weniger die Axiomatik als die konkreten Anwendungen in anderen Fachbereichen. 1909 bewies Borel eine Version des so genannten »Starken Gesetzes der großen Zahlen«: Der Mittelwert einer Folge von unabhängigen, binomialverteilten Zufallsvariablen mit Parameter p (0 < p< 1) konvergiert fast sicher gegen diesen Parameter.

Von Borel stammt auch »Le paradoxe du singe savant«: Ein Gedankenexperiment, das besagt, dass ein Affe, der unendlich oft nach dem Zufallsprinzip Tasten auf einer Schreibmaschine anschlägt, fast sicher jeden beliebigen Text schreiben kann. Allerdings ist die Chance, dass dies in einem Zeitraum in der Größenordnung des Alters des Universums geschieht, winzig, wenn auch nicht null.

In den 1920er Jahren beschäftigte er sich (unabhängig von und zeitlich vor John von Neumann) mit den Grundlagen der Spieltheorie und untersuchte bereits optimale Strategien für einfache Spiele.

Émile Borel

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