Der Mathematische Monatskalender: Evariste Galois (1811–1832): Revolutionär und Geometer
Evariste Galois wächst in einem Ort in der Nähe von Paris auf. Der Vater, Bürgermeister des Ortes, bleibt dies auch nach dem Sturz Napoleons. Die Mutter kümmert sich um die Bildung ihrer drei Kinder, lehrt sie Latein und Griechisch. Mit 12 Jahren besucht er das Collège Louis-le-Grand in Paris, zunächst mit großem Erfolg. Erst mit 15 Jahren wird sein besonderes Interesse für Mathematik deutlich; aber statt mit dem aktuellen Unterrichtsstoff beschäftigt er sich lieber mit Schriften von Adrien Marie Legendre (1752-1833) und Joseph Louis Lagrange (1736-1813).
Ohne Vorbereitungskurs meldet er sich mit 17 Jahren zur Aufnahmeprüfung an der École Polytechnique an, einer Eliteschule (Universität). Galois besteht die Aufnahmeprüfung nicht; an seiner alten Schule kümmert er sich noch weniger um das, was im Unterricht geschieht. Ein erster Beitrag des 18-Jährigen über Kettenbrüche wird von der Zeitschrift »Annales de mathématique« angenommen und abgedruckt. Im Frühsommer 1829 legt er der Akademie der Wissenschaften zwei Artikel über die Lösbarkeit von Gleichungen vor.
Im Sommer 1829 zeichnen sich in Frankreich erneut Machtkämpfe zwischen Royalisten und Liberalen ab; sein Vater, Anhänger der Liberalen, wird durch Verleumdung in den Selbstmord getrieben. Trotz dieses schockierenden Ereignisses meldet Galois sich kurze Zeit danach erneut zur Aufnahmeprüfung an der École Polytechnique an und besteht sie wiederum nicht: Er hat Schwierigkeiten zu verstehen, warum er etwas beweisen solle, was in seinen Augen offensichtlich ist. 20 Jahre später heißt es in den »Nouvelles Annales Mathématiques«: »Ein Kandidat von überlegener Intelligenz wurde von einem Prüfer von unterlegener Intelligenz zugrunde gerichtet.« Galois absolviert Ende 1829 mit Mühen die übliche Abschlussprüfung (Baccalauréat); danach darf er wenigstens an der École Normale Supérieure studieren.
Galois legt Augustin-Louis Cauchy (1789–1857) eine neue Arbeit über die Lösbarkeit von Gleichungen vor, erfährt, dass sie sich teilweise mit einem von Niels Hendrik Abel (1802–1829) vorgelegten Beitrag überschneidet, verfasst im Februar 1830 einen neuen Artikel, den Joseph Fourier (1768–1830) prüfen soll. Fourier stirbt im April des Jahres überraschend; in seinen Unterlagen ist der Beitrag von Galois nicht auffindbar. Erst im Juni erfährt Galois, dass der diesjährige Preis der Akademie posthum an den inzwischen verstorbenen Abel verliehen wird und dass sein Beitrag nicht begutachtet wurde.
Die politische Situation in Frankreich eskaliert im Juli 1830 nach einem Wahlsieg der liberalen Partei; der König flieht ins Ausland. Als der Schulleiter versucht zu verhindern, dass sich seine Studenten den Aufständischen anschließen, wird er von Galois öffentlich attackiert, was den Verweis von der Schule zur Folge hat. Galois ist nun mittellos und verzweifelt, weil er keine Hochschule mehr besuchen kann. Er schließt sich der republikanischen Nationalgarde an, die jedoch Ende 1830 vom neuen König Louis-Philippe (»Bürger-König«) verboten wird; einige der Offiziere werden wegen Hochverrats verhaftet.
Siméon Denis Poisson macht Galois das Angebot, den Beitrag erneut (also zum dritten Mal) der Akademie vorzulegen, was er sofort erledigt. Auf einer Feier anlässlich der Freilassung der Offiziere im Mai 1831 spricht Galois einen Trinkspruch auf den König aus – mit einem Dolch in der Hand; er wird verhaftet und wieder freigelassen. Am 14. Juli, dem Tag der Erstürmung der Bastille, wird er erneut verhaftet, als er schwer bewaffnet und in der Uniform der verbotenen Nationalgarde durch die Straßen zieht. Im Gefängnis erreicht ihn die Information, dass Poisson seinen Beitrag für »nicht ausreichend verständlich dargestellt« hält. Galois versucht, sich umzubringen, wird von seinen Mitgefangenen daran gehindert.
Als eine Cholera-Epidemie das Gefängnis erreicht, wird er in ein Krankenhaus gebracht; dort verliebt er sich in Stéphanie, die Tochter des behandelnden Arztes. Warum es am 30. Mai zu einem Duell mit einem republikanischen Gesinnungsgenossen kommt, wird wohl nie geklärt werden. In der Nacht vor dem Duell schreibt Galois alles auf, was er der Nachwelt noch mitteilen will; der Name Stéphanie wird mehrfach im Abschiedsbrief erwähnt.
Im Duell verwundet, von den eigenen Sekundanten im Stich gelassen, stirbt er am folgenden Tag. Ein Freund schreibt Galois' mathematisches Vermächtnis ab und sendet die Schrift an berühmte Mathematiker, zum Beispiel an Gauß – ohne Reaktion. Erst elf Jahre später erkennt Joseph Liouville die Bedeutung der von Galois entwickelten Theorien und veröffentlicht sie 1846 in seiner Zeitschrift.
Mitte des 16. Jahrhunderts war es Mathematikern gelungen, rechnerische Lösungsverfahren für Gleichungen dritten und vierten Grades zu entwickeln; die Lösungen berechnen sich aus den Koeffizienten ausschließlich mithilfe der Grundrechenarten und von Wurzeloperationen. Francois Viète (1540–1603) stellte durch einen nach ihm benannten Satz (Vietascher Wurzelsatz, Wurzel = Lösung) Beziehungen zwischen den Koeffizienten und den Lösungen von Gleichungen heraus, zum Beispiel für den Grad zwei: »Wenn \(x^² – (x_1+x_2) \cdot x + x_1 \cdot x_2 = 0\), dann sind \(x_1\) und \(x_2\) die beiden Wurzeln«, oder für den Grad drei: »Wenn
\(x^³ – (x_1+x_2+x_3) \cdot x^²\) \( + (x_1 \cdot x_2 + x_1 \cdot x_3 + x_2 \cdot x_3) \cdot x – x_1 \cdot x_ 2 \cdot x_3 = 0\), dann sind \(x_1, x_2, x_3\) die Wurzeln.«
Vergeblich war jedoch die Suche nach allgemeinen Lösungswegen für Gleichungen fünften Grades. Gauss wies 1799 in seiner Dissertation nach, dass jede Gleichung n-ten Grades in der Menge der komplexen Zahlen genau n Lösungen hat; dieser sogenannte »Fundamentalsatz der Algebra« garantiert die Existenz der Lösungen, gibt aber keinerlei Hinweise auf eine Berechnungsmethode.
Abel gelang 1824 der Nachweis, dass es kein allgemeines Verfahren für die Bestimmung der Nullstellen von Polynomen höheren als vierten Grades geben kann, da sich nicht alle Lösungen mithilfe von Wurzeltermen (»Radikale«) darstellen lassen.
Die Theorien von Galois schließlich ermöglichten es, aufgrund der Koeffizienten des Polynoms zu entscheiden, ob es für dieses spezielle Polynom ein Lösungsverfahren gibt oder nicht. Galois hatte bei der Beschäftigung mit den so genannten Permutationsgruppen erkannt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Struktur der Gruppe und der Lösbarkeit von Gleichungen gibt: Jeder Gleichung lässt sich eine Permutationsgruppe zuordnen, aus deren Struktur man dann die Darstellbarkeit der Lösungen durch Radikale ablesen kann.
Eine Gruppe (die Bezeichnung wurde von Galois eingeführt) ist eine Menge, auf der eine Verknüpfung definiert ist und für die gilt: Die Verknüpfung von zwei Elementen der Menge ergibt wieder ein Element der Menge, in der Menge existiert ein »neutrales Element«, das alle Elemente der Gruppe bezüglich der Verknüpfung unverändert lässt, und zu jedem Element der Gruppe existiert ein »inverses Element« in der Gruppe, sodass die Verknüpfung der beiden Elemente das neutrale Element ergibt. Permutationen sind Abbildungen einer Menge von Objekten auf sich selbst. Beispiel: Für drei Objekte beispielsweise gibt es \(3! = 6\) Permutationen:
\[ p_0=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 1 & 2 & 3 \end{pmatrix}, p_1=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 1 & 3 & 2 \end{pmatrix}, p_2=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 2 & 1 & 3 \end{pmatrix}, \] \[ p_3=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 2 & 3 & 1 \end{pmatrix}, p_4=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 3 & 1 & 2 \end{pmatrix}, p_5=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 3 & 2 & 1 \end{pmatrix} \]Diese Gruppe von Permutationen kann auch als Gruppe der Spiegelungen und Drehungen eines gleichseitigen Dreiecks interpretiert werden; sie wird als »symmetrische Gruppe« \(S_3\) bezeichnet. Aus der Tabelle der Hintereinanderausführung von zwei Permutationen lassen sich Eigenschaften ablesen: Das Assoziativgesetz ist erfüllt; die Verknüpfung ist nicht kommutativ. Die Gruppe besitzt verschiedene Untergruppen, das sind Teilmengen, die bzgl. der Verknüpfung in sich abgeschlossen ist: \({p_0, p_1}, {p_0, p_2}, {p_0, p_5}\) sowie \(A3 = {p_0, p_3, p_4}; A_3\) wird als alternierende Permutationsgruppe bezeichnet und enthält die »geraden« Permutationen (das heißt beim gleichseitigen Dreieck: die Drehungen mit 120° bzw. 240°).
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