Infektionskrankheiten: Fünf Dinge, die man über die Pocken wissen sollte
Die Pocken, eine der größten Seuchen der Menschheitsgeschichte, sind seit 1980 ausgerottet. Doch in weltweit zwei Labors schlummern noch immer infektionstüchtige Variolaviren. Unfälle schüren die Angst, die gefährlichen Viren könnten eines Tages – gewollt oder unbeabsichtigt – in die Umwelt gelangen. Warum hat die WHO sie nicht längst vernichten lassen?
Ein Unfall im Hochsicherheitslabor heißt nicht immer »Alarmstufe rot«
Im fünften Stock des russischen State Research Center of Virology and Biotechnology (Vector) im westsibirischen Kolzowo explodierte kürzlich ein Gasbehälter. Eine Fläche von 30 Quadratmetern habe gebrannt, schreibt das Institut in einer spärlichen Pressemitteilung. Dabei wurde eine Person verletzt. Der Brand war schnell gelöscht und hätte wohl keinerlei mediales Aufsehen erregt – wären im so genannten »Vector«-Labor keine lebensgefährlichen Viren gelagert. Neben Ebola- und Hepatitisviren gibt es dort einen der beiden letzten Bestände von Variolaviren, den Erregern der Pocken. Zwar sollen laut der Pressemitteilung in dem betroffenen Gebäudeteil »keine biologischen Materialien« gelagert gewesen seien. Doch die Verunsicherung bleibt. Denn zu Sowjetzeiten arbeitete die Belegschaft des »Vector«-Labor an Biowaffen. Sowohl die USA als auch Russland forschten während des Kalten Krieges daran, Variolaviren als Waffe zu gebrauchen.
Könnte ein Unfall wie dieser gefährliche Viren – insbesondere Pockenviren – in die Umwelt freisetzen und gar Menschen infizieren? Andreas Nitsche, Leiter des Fachgebiets Hochpathogene Viren am Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin hält dies für sehr unwahrscheinlich. »Die Labore sind so konstruiert, dass selbst in extremen Notsituationen nichts passieren kann.« Außerdem machen bereits Temperaturen von 100 Grad Celsius die meisten Viren unschädlich. In der Flamme eines Bunsenbrenners – mit welcher der Brand eines Gasbehälters vielleicht am ehesten verglichen werden kann – herrschen Temperaturen von bis zu 1500 Grad Celsius. Von einem Röhrchen mit Variolaviren bliebe da nichts Infektiöses übrig, meint Nitsche.
Alles, was mit Viren in Kontakt war und das Hochsicherheitslabor verlassen soll, läuft standardmäßig durch einen Autoklaven, wo es bei 121 bis 134 Grad Celsius unter Dampfdruck sterilisiert wird. Diese und weitere strenge Vorschriften verhindern, dass gefährliche Viren aus Labors wie dem »Vector« versehentlich ausgeschleust werden. »Solange die Leute sich an die Regeln halten, sind die Labore zu 100 Prozent sicher«, erklärt Virologe Nitsche.
Für wahrscheinlicher hält Nitsche es, dass alte Variolavirus-Proben außerhalb eines Sicherheitslabors auftauchen – wie etwa im Juli 2014. Damals wurden sechs Röhrchen mit gefriergetrockneten Pockenererregern in einem alten Lagerraum der US-Lebensmittel- und Medikamentenbehörde FDA gefunden. Seit die Krankheit 1980 weltweit ausgerottet wurde, wurden alle Pockenvirusbestände gesammelt und lagern nun – eigentlich ausschließlich – in zwei streng von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) überwachten Labors: dem russischen »Vector«-Labor und den Centers for Disease Control and Prevention in den USA.
Hermann Meyer, Professor am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München sieht in den gelagerten Virusstämmen keine Gefahr für die Menschheit. Die Hochsicherheitslabore seien mit entsprechenden Zutrittsregelungen und Überwachungen ausgestattet, und das Personal sei geschult und sicherheitsüberprüft. Ein Täter, der im Labor selbst arbeitet, könne diese Hürden zwar überwinden, dies sei aber sehr unwahrscheinlich.
Warum es überhaupt noch Variolaviren gibt
»Wenn diese Viren in falsche Hände geraten, können sie eine Gefahr darstellen«, sagt Thomas Mertens, Virologe und Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO). Variolaviren sind im Labor vergleichsweise leicht zu vermehren und zu handhaben. Außerdem sind die Krankheitserreger besonders widerstandsfähig. So können sie selbst ausgetrocknet, etwa in Hautkrusten, monate- bis jahrelang überleben. Die oft tödlich verlaufende Krankheit überträgt sich meist über virushaltige Tröpfchen von Mensch zu Mensch – etwa beim Husten. Sogar kontaminierter Staub kann eine Infektion auslösen. Um eine geeignete biologische terroristische Waffe herzustellen, müsste allerdings noch eine geeignete Technologie für die Verbreitung dazukommen, meint Mertens.
Das wirklich Bedrohliche an Variolaviren ist, dass heutzutage kaum mehr jemand dagegen geimpft ist. Seit die Pocken – übrigens als erste Infektionskrankheit – weltweit ausgerottet wurden, ist eine ganze Generation ohne Kontakt zum Impfstoff herangewachsen. Die Menschen sind also schlecht vorbereitet auf einen Unfall, eine Sabotage oder gar einen terroristischen Angriff, bei dem Pockenviren freigesetzt werden.
Zwar haben sich die Industrieländer nach den Terroranschlägen vom 11. September einen Impfstoffvorrat zugelegt. Entwicklungsländer können sich solche Vorsichtsmaßnahmen allerdings nicht leisten. Für den Ernstfall hält die Weltgesundheitsorganisation (WHO) selbst 2,4 Millionen Impfstoffdosen und einen Notfallplan bereit. Fünf WHO-Mitgliedsstaaten – Frankreich, Deutschland, Neuseeland, Großbritannien und die USA – beherbergen außerdem einen zusätzlichen Vorrat von etwa 31 Millionen Dosen. Die WHO betont, dass dieses Kontingent nicht ausreiche, um die Bevölkerung flächendeckend zu impfen. Der Vorrat soll lediglich zur unmittelbaren Reaktion auf das Virus dienen und Arzneimittelherstellern als Muster dienen, um die Impfstoffproduktion wieder anzuwerfen.
Seit Jahren diskutiert die WHO deshalb darüber, ob die letzten Pockenviren vernichtet werden sollen. Viele sehen in der Vernichtung dieser Stämme den letzten, konsequenten Schritt, um die Seuche aus unserer Welt zu verbannen. Nach Mertens Erachten gibt es keinen vernünftigen Grund für eine Aufbewahrung von infektionstüchtigen Variolaviren. Auch Meyer ist dafür: »Die notwendigen Arbeiten mit vermehrungsfähigen Variolaviren sind abgeschlossen.« So sei die Wirksamkeit antiviraler Mittel erwiesen, und es habe sich gezeigt, dass Menschen durch Impfstoffe im Stande sind, effektive Antikörper zu bilden.
Um die Vernichtung durchzusetzen, müssten sich die Mitglieder des World Health Assembly (WHA), des entscheidungsfähigen Organs der WHO, einstimmig dazu entschließen. Eine Entscheidung, die bis heute immer wieder vertagt und verzögert wurde. Denn so eindeutig ist die Sache nicht: Wie immer gibt es auch gute Argumente dagegen.
»Es gibt viele ungeklärte Fragen, auf die wir gerne eine Antwort hätten«, sagt Nitsche. Er ist Mitglied jenes Ausschusses (WHO Advisory Committee on Variola Virus Research), der entscheidet, welche Versuche mit den verbliebenen Virusstämmen durchgeführt werden dürfen. Er könne die Kollegen, die Variolaviren weiterhin untersuchen wollen, gut verstehen, erklärt Nitsche. Zwar sind die Pocken durch die Impfung besiegt worden – gelernt hätte man dabei aber wenig. Er findet es besser, durch gut kontrollierte Experimente Wissen zu generieren, als sich in Sicherheit zu wähnen und einem eventuellen, neuen Ausbruch unvorbereitet gegenüberzustehen.
So sei es Forschern und Ärzten beispielsweise ein Rätsel, weshalb die Pockenkrankheit im gesamten Körper synchron abläuft. An jeder Stelle, an der ein Patient den charakteristischen Ausschlag entwickelt, bilden sich exakt zum selben Zeitpunkt Pusteln, die sich mit Flüssigkeit füllen und schließlich alle gleichzeitig eine Kruste bilden. Bei anderen Krankheiten, wie etwa den Windpocken, befinden sich verschiedene Körperzonen zu einem Zeitpunkt meist in unterschiedlichen Stadien.
Damit ein Forschungsprojekt von der WHO genehmigt wird, müssen die vorgeschlagenen Arbeiten eindeutige Fortschritte in der Therapie, Diagnostik oder Prävention der Pocken versprechen. Das große Problem bei all diesen Ansätzen ist, dass man die Wirksamkeit neuer antiviraler Substanzen oder Impfstoffe nicht anhand von klinischen Studien beweisen kann. Es gibt schließlich keine Patienten mehr. Darum sind – abgesehen von der Schutzimpfung – in Deutschland bis heute keine Medikamente gegen die Pocken zugelassen. Lediglich in den USA ist seit Kurzem der Wirkstoff Tecovirimat auf dem Markt. Zwei Millionen Dosen des Präparats TPOXX bunkert das Land seither als Vorbereitung auf einen pockenvirenbasierten Biokampfstoffangriff. Indem der Wirkstoff ein in allen Orthopoxviren vorhandenes Protein ausschaltet, hindert er diese daran, sich im Körper auszubreiten. Makaken und Kaninchen, die mit Affen- beziehungsweise Kaninchenpocken infiziert waren, überlebten, wenn sie mit Tecovirimat behandelt wurden. Das zeigte ein Forscherteam jener Firma, die das antivirale Medikament produziert. Ob TPOXX auch bei Menschen mit einer Variolavirusinfektion anschlägt, weiß niemand. Bei gesunden Menschen verursachte der Stoff zumindest keine gravierenden Nebenwirkungen.
Dank der modernen Gentechnik könnte man das Variolavirus heute sogar recht einfach im Labor nachbauen. Das Pferdepockenvirus, das in der Natur ebenfalls nicht mehr vorkommt, hat ein Forscherteam um den kanadischen Mikrobiologen David Evans von der Universität von Alberta bereits wieder zum Leben erweckt. Dasselbe mit dem menschlichen Pockenvirus zu tun, verbietet die WHO allerdings ausdrücklich. Für Arbeiten mit Variolavirus-DNA hat die Organisation strenge Regeln festgelegt. So darf man – außerhalb der WHO-Kooperationszentren in den USA und Russland – nicht mehr als 20 Prozent des Variolavirus-Genoms besitzen, wobei die einzelnen DNA-Stücke nicht länger als 500 Basenpaare sein dürfen. Das ist möglicherweise zu wenig, um entscheidende Stellen im Pockenerbgut ausfindig zu machen und daraus etwas zu lernen. Nitsche sagt, er verstehe beide Seiten – die Pockenforscher und Public Health Institutionen, die die letzten Variolaviren im Interesse der Allgemeinheit endgültig vernichten wollen.
Nicht nur Variolaviren können Pocken verursachen
Nitsche ist immer wieder überrascht, wie wenige Menschen – darunter auch Ärzte – wissen, dass es noch immer Pockenviren gibt. »Man wird sie nie vollständig ausrotten können«, sagt der Virologe. Denn im Gegensatz zu den Variolaviren, die ausschließlich Menschen befallen, haben andere Pockenviren – das heißt, Vertreter der Gattung der Orthopoxviren – ein viel breiteres Wirtsspektrum: Sie infizieren unterschiedliche Tiere. Die Impfung, die vor den »echten« Pocken schützt, schützt auch vor anderen Orthopoxviren. Auf Grund der Nebenwirkungen – und der fehlenden Notwendigkeit – wird heutzutage aber praktisch niemand mehr gegen Pocken geimpft. So kommt es seit einigen Jahren immer wieder vor, dass Menschen sich mit Säugetierpocken infizieren.
Während Kuh-, Pferde- oder auch Büffelpockeninfektionen bei Menschen in der Regel nicht viel mehr als einen harmlosen Hautausschlag auslösen, kann eine Infektion mit den Affenpocken tödlich enden. Virologen nennen sie deshalb auch den »kleinen Cousin« der Pocken. Zum ersten Mal wurde das Virus 1957 bei Affen, die in Gefangenschaft lebten, nachgewiesen. Diese scheinen aber nicht ihr hauptsächlicher Wirt zu sein, sondern Nagetiere wie Hörnchen oder Ratten.
Von 2017 bis 2018 erlebte Nigerias Bevölkerung den bisher weltweit größten dokumentierten Ausbruch der Affenpocken. Laut RKI wurden 262 Verdachtsfälle gemeldet, wovon sich 113 im Labor bestätigten. Sieben Menschen starben im Zuge dieses Ausbruchs. Vielleicht überträgt sich das Affenpocken-Virus heute auch häufiger auf Menschen, weil sie immer mehr Waldgebiete roden und dort Nahrung anbauen. Eine Untersuchung zeigte, dass Menschen in West- und Zentralafrika, wo bislang die meisten Fälle registriert wurden, häufig Nagetiere essen, die sie tot im Wald finden.
Ob die Krankheit überhaupt diagnostiziert wird, hängt stark davon ab, ob die nötigen Laborgeräte vorhanden sind – und somit von der Infrastruktur. Die Affenpocken treten meist in abgelegenen Gebieten auf, was es schwer macht, die tatsächliche Zahl der Fälle abzuschätzen. Durch den Import von Nagetieren oder Reisende, die sich selbst mit dem Virus infiziert hatten, kam es auch zu einzelnen Affenpocken-Fällen außerhalb des afrikanischen Kontinents, beispielsweise in den USA, Großbritannien, Israel und Singapur. Das Risiko, dass Reisende die Krankheit aus Afrika nach Europa einschleppen, schätzt Nitsche dennoch als gering ein. »Das kann zwar vorkommen, ist aber extrem selten und wird in der Regel schnell erkannt«, sagt er.
Nitsche arbeitet seit 17 Jahren mit Pockenviren und leitet das Deutsche Konsiliarlabor am Robert Koch-Institut in Berlin. Es ist eines der wenigen Labore Deutschlands, das eine Infektion mit Variolaviren feststellen kann. Außerdem werden dort auch andere Pockenviren wie Kuhpocken-, Affenpocken- und Parapockenviren, die in vielen unterschiedlichen Tieren vorkommen, untersucht. »Je enger der Wirtsbereich eines Virus, desto pathogener ist es«, erklärt Nitsche. So sind Variolaviren, die sich auf den Menschen spezialisiert haben, für diesen auch extrem gefährlich: Eine Infektion endete in 30 bis 50 Prozent der Fälle tödlich. Kuhpocken, die ein extrem breites Wirtsspektrum haben, sind für die einzelnen Wirte hingegen meist harmlos. Bislang sind weltweit nicht mehr als 3 Todesfälle bekannt.
Auch innerhalb einer Virusspezies – etwa bei den Affenpocken – gibt es allerdings verschiedene Subtypen. So ist das westafrikanische Affenpockenvirus beispielsweise für Menschen nicht so gefährlich wie das zentralafrikanische, erklärt Nitsche. Woran das liegt, ist noch nicht vollständig geklärt. Herauszufinden, welche genetischen Veränderungen einem Virus helfen, sich besser auf einen Wirt anzupassen und für diesen gefährlicher zu werden, ist wichtig, um globale Seuchen zu bekämpfen – und idealerweise sogar verhindern zu können. Denn auch das Variolavirus infizierte nicht von Anfang an (nur) Menschen, sondern ist von Tieren – vermutlich Nagern – auf uns übergesprungen. Auch um diese Zusammenhänge zu untersuchen und den genauen Ursprung des Virus zu klären, könnte es wichtig sein, vermehrungsfähige Variolaviren im Bestand zu behalten.
Kuh- und Pferdepocken halfen, die Seuche auszurotten
Neben Pest und Cholera waren die Pocken eine der größten Seuchen der Menschheitsgeschichte. Zu den Opfern im 18. und 19. Jahrhundert – der Blütezeit der Pocken – zählten auch Berühmtheiten wie Amadeus Mozart, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Die letzte große Epidemie trat nach dem Deutsch-Französischen-Krieg 1870/71 auf. Damals starben etwa 180 000 Menschen an der Infektionskrankheit – viermal so viele wie während des gesamten Krieges. 1977 erkrankte der Somalier Ali Maow Maalin an den Pocken. Er überlebte und ging in die Geschichtsbücher ein: als der letzte Mensch, der sich mit dem Virus infizierte.
Üblicherweise treten die Symptome 12 bis 14 Tage nach einer Infektion auf: Die Betroffenen leiden meist unter hohem Fieber, Schüttelfrost und fühlen sich abgeschlagen. Für eine Impfung ist es dann definitiv zu spät. Nach ein paar Tagen kommt ein Ausschlag hinzu, vor allem im Gesicht sowie an Armen und Beinen. In asiatischen Ländern war es seit Jahrhunderten üblich, gesunde Menschen mit der eitrigen Flüssigkeit aus den Pusteln von Pockenkranken zu behandeln. So »geimpfte« Menschen erkrankten vergleichsweise leicht und blieben den Rest ihres Lebens von den Pocken verschont.
Der britische Landarzt Edward Jenner hatte eine andere Idee. Er beobachtete, dass Menschen, die sich mit einer von Kühen stammenden pockenähnlichen Erkrankung infiziert hatten, fortan auch immun gegen die »echten« Pocken waren. Meist handelte sich um Bauern, die sich beim Melken ihrer Kühe mit den Viren angesteckt hatten. Die Krankheit verlief mild – meist bildeten sich nur an den Händen Pusteln.
1796 wagte Jenner ein kühnes Experiment: Er schnitt eine Pockenpustel einer Melkerin auf und übertrug die Flüssigkeit in einen kleinen Hautritz, den er in den Arm eines achtjährigen Jungen machte. Dieser erkrankte an der harmlosen Form der Pocken. Er blieb aber gesund, als Jenner ihm auf gleiche Art und Weise Viren, die er aus einem »echten« Pockenpatienten gewonnen hatte, verabreichte. Die Menschen waren zwar zunächst skeptisch – so fürchteten sie gar, Menschen könnten sich durch die Behandlung mit Viren von Rindern in selbige verwandeln. Doch Jenners Methode zeigte Erfolg. Er hatte, ohne sich darüber bewusst zu sein, die erste Schutzimpfung, auch Vakzination (vom lateinischen Wort vacca = Kuh) erfunden. Ob er bei seinem Experiment tatsächlich Kuhpockenviren als Impfstoff verwendete oder auch Pferdepockenviren erwischt hatte, ist unklar. Die Untersuchung früher Pockenimpfstoffe, an der auch Nitsche mitwirkte, ergab, dass diese statt, wie erwartet, Kuh- auch Pferdepockenviren enthielten.
Ausgerottet wurden die Pocken letztendlich mit einem Impfstoff, der vor allem auf dem Vacciniavirus beruht. Dabei handelt es sich um ein nicht natürlich vorkommendes Orthopoxvirus, das sowohl vom Kuh- aber auch vom Pferdepockenvirus abstammen könnte. 1966 setzte die WHO damit ein umfassendes Impfprogramm in Gang. Üblicherweise wurde die Impfung am Oberarm ausgeführt, wo sich durch eine gewollte Infektion mit Hilfe einer Impfpistole oder Lanzette eine rundliche Impfnarbe bildete. Nicht verwechseln sollte man die Pocken mit den heute noch weit verbreiteten, aber viel harmloseren Windpocken. Die durch Tröpfchen übertragene Krankheit wird durch das Varizella-Zoster-Virus – kein Mitglied der Familie der Poxviren – ausgelöst und betrifft meist Kinder. Seit August 2006 ist in Deutschland übrigens ein Vierfachimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken verfügbar.
Durch das warme Klima könnten die Pocken wieder auftau(ch)en
Nicht nur die Menschen im 18. bis zum 20. Jahrhundert – möglicherweise hatten sogar schon die alten Ägypter mit den Pocken zu kämpfen. So will man bereits an der Mumie von König Ramses V. Pockennarben entdeckt haben. Neuere Funde sprechen jedoch dafür, dass die Seuche deutlich jünger ist. Der Abgleich von Erbgutresten aus dem 17. Jahrhundert mit moderner Pocken-DNA ergab, dass die Virusstämme einen gemeinsamen Vorfahr haben, der zwischen 1588 und 1645 entstanden ist. Evolutionsbiologe Hendrik Poinar, der gemeinsam mit Kollegen ein Variola-Genom aus einer Kindermumie, die unter einer Kirche in Litauen gefunden wurde, rekonstruierte, glaubt, dass Pharao Ramses nicht die Pocken, sondern Masern oder Windpocken hatte.
Jedes Mal, wenn Forscher auf alte Pocken-DNA – zum Beispiel in Leichen oder in getrocknetem Hautschorf von Pockenkranken, der bis ins 20. Jahrhundert hinein als eine Art Impfstoff eingesetzt wurde – stoßen, bricht zunächst Unbehagen aus. Könnte das Material noch infektiös sein? Bislang konnten aus keinem dieser Funde intakte Viren isoliert oder angezüchtet werden. Meist ist die Variola-DNA stark fragmentiert und teilweise abgebaut.
Wie lange das Virus im menschlichen Körper überleben oder aus einem Leichnam wiederbelebt werden kann, ist Forschern bislang unbekannt. Am besten halten sich Viren in der Regel tiefgefroren. So ist es Wissenschaftlern, die den sibirischen Permafrost erforschten, beispielsweise vor einigen Jahren gelungen, ein 30 000 Jahre altes Riesenvirus, das Amöben infiziert, wieder zum Leben zu erwecken. Tiefgefrorene Pockenleichen, die im Zuge der Klimaerwärmung und der Gletscherschmelze an die Oberfläche gelangen, könnten theoretisch Pockenviren freisetzen, meint Nitsche. Bislang ist das aber noch nie geschehen.
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