Pandemie von 1918: Fünf Lehren aus der Spanischen Grippe
Die Spanische Grippe ist zwar Geschichte, doch ihr Erreger lebt weiter: im Genom moderner Grippeviren genauso wie in den Zellkulturen jener Labors, in denen Wissenschaftler die tödliche Seuche haben wiederauferstehen lassen. Die Pandemie samt ihren Dutzenden Millionen Opfern ist eine Warnung für die Zukunft. Die mit acht Milliarden Menschen dicht bevölkerte und global vernetzte Welt ist eine bessere Brutstätte für Pandemien als je zuvor. Nicht zuletzt deshalb wird der Erreger von damals so gründlich erforscht – vielleicht kennen wir sogar schon seinen Nachfolger.
Man kann ein totes Pandemievirus nach Jahrzehnten wiederbeleben
Manchmal kommen sie wieder: 80 Jahre nachdem der Erreger von der Erde verschwunden war, tötete die Spanische Grippe wieder, diesmal allerdings unter kontrollierten Bedingungen. Im Labor einer Arbeitsgruppe um Terrence M. Tumpey starben Mäuse und Hühnerembryonen am größten Killer des 20. Jahrhunderts, dem Erreger der Spanischen Grippe, gentechnisch zu neuem Leben erweckt. Ebenfalls beteiligt war der Virologe Jeffrey K. Taubenberger - er hatte zuvor die bis dahin als Letztes noch nicht bekannten Gensequenzen der viralen Polymerase-Gene veröffentlicht.
Das so vervollständigte Genom stammte aus in Harz eingegossenen Gewebeproben einiger Opfer und sogar aus der Lunge eines im arktischen Permafrost beerdigten Grippetoten. Fortschritte bei der Polymerase-Kettenreaktion und beim Sequenzieren von Erbgut erlaubten es, selbst die stark abgebaute virale RNA zu vervielfachen und anschließend ihre Basenabfolge zu rekonstruieren, beginnend 1998 mit dem Hämagglutinin-Gen des Übeltäters.
Mit einer schon um die Jahrtausendwende herum entwickelten Methode kann man auf der Basis dieser reinen Erbgutsequenz infektiöse Viren erzeugen: Dazu kopiert man die komplette Erbgutsequenz des gewünschten Grippevirus auf einen ringförmigen DNA-Strang, der in der Zelle in RNA übersetzt wird und so den Grippeerreger in die Zelle einschleust. Die verarbeitet das virale Erbgut dann, als sei es mit einem normalen Virusteilchen eingeschleust worden – und produziert schließlich selbst die Erreger nach.
Mit dieser Methode hatten Fachleute bereits gemischte Viren hergestellt, bei denen moderne Viren der Subtypen H1N1 und H3N2 mit Hämagglutinin (HA) und Neuraminidase (NA) des Virus von 1918 ausgestattet waren. Diese Versuche zeigten immerhin, dass die Oberflächenproteine allein nicht für die besondere Tödlichkeit des Erregers verantwortlich waren. Die komplett rekonstruierten Viren schließlich, die Tumpeys Gruppe im Oktober 2005 der Öffentlichkeit präsentierte, erwiesen sich als sehr aggressiv gegen alle ihnen ausgesetzten Organismen – Zellkulturen, Hühnerembryonen, Mäuse, Frettchen und Makaken. Womöglich bleibt die Spanische Grippe nicht der einzige auf diese Weise auferstandene Krankheitserreger: Im Permafrost der Arktis liegen noch mehr Viren begraben, darunter der Erreger der Pocken.
Eine Kombination von Faktoren machte die Grippe so tödlich
Lange Zeit hatten Fachleute vermutet, dass die ungewöhnliche Tödlichkeit der Pandemie auch im Vergleich zu den beiden darauf folgenden schlicht daran lag, dass es 1918 noch keine Antibiotika gab und die Lebensbedingungen schlechter waren. Aber die Experimente mit dem lebenden Virus belegten die enorme Pathogenität des Erregers; so ist der Pandemievirus von 1918 der einzige menschliche Grippeerreger, der auch für Mäuse tödlich ist.
Doch was machte den Erreger so tödlich? Das Genom des Influenzavirus besteht aus acht Teilstücken, die Proteine kodieren. Zum einen die beiden Oberflächenproteine Hämagglutinin (H1 – H16) und Neuraminidase (N1 – N9), deren Varianten den jeweiligen Grippe-Subtypen ihre Namen geben und die eine wesentliche Rolle dabei spielen, wie gut sich das Virus verbreitet. Die Rolle des Hämagglutinins ist beim Pandemievirus von 1918 besonders rätselhaft: Baut man dieses Protein in ein Hybridvirus ein, macht es den Erreger deutlich aggressiver, so dass er sich in Mäusen und auch in Lungengewebe schneller vermehrt.
Das liegt aber gerade nicht an einem bekannten Mechanismus, der diesen Effekt bei anderen Grippeviren hat: Bei ihnen führt eine spezifische Veränderung einer Bruchstelle im Protein zu höherer Aggressivität. Nicht so beim Pandemievirus von 1918. Dieses scheint die Neuraminidase nutzen zu können, um das Hämagglutinin durch Spaltung an der mutierten Stelle zu aktivieren, entweder direkt oder durch die Bindung eines Enzyms, welches das Oberflächenprotein schneidet. Was genau da abläuft, ist ungeklärt – und damit auch das Risiko, dass die Eigenschaft wieder auftritt.
Auch die drei Polymerase-Untereinheiten PB1, PB2 und PA, die das Erbgut des Virus vervielfältigen, spielten eine Rolle. Hybridviren mit diesen drei Proteinen aus dem Pandemievirus waren in 100-fach geringerer Konzentration tödlich, weil sie die Vermehrung in Lungenzellen von Mensch und Maus drastisch beschleunigen. Bei den späteren Pandemien spielen diese Proteine ebenfalls eine Rolle. So schädigt das Protein PB2 des H3N2 von 1968 die Mitochondrien der Zellen und führt so zum Tod – was auch die saisonale Grippe dieses Typs gefährlicher für einige Bevölkerungsgruppen macht.
Der Hauptbeitrag zur besonderen Gefährlichkeit der Pandemie stammt jedoch wohl aus einer anderen Quelle: dem Immunsystem des Wirts. Hybride Influenzaviren, die HA und NA des alten H1N1-Subtyps trugen, erzeugten im Lungengewebe von Mäusen eine heftige Immunreaktion, bei der weiße Blutkörperchen in die Lunge einwanderten, Signalstoffe ausschütteten und so eine heftige Entzündungsreaktion hervorriefen. Diese Symptome gleichen jenen vieler Opfer der Grippe von 1918, die an Lungenödemen oder gar Lungenblutungen starben.
Insgesamt kann man, anders als bei vielen anderen ausgesprochen gefährlichen Erregern, bei der Spanischen Grippe nicht den einen tödlichen Faktor identifizieren, der aus einem durchschnittlichen Erreger einen Killer machte. Viren-Sequenzierer Taubenberger stellte 2006 die Hypothese in den Raum, dass es die Kombination war: Der Erreger von 1918 sei ein "lucky winner" gewesen, dessen Kombination von Genen sich perfekt ergänzte. Doch sicher ist auch das nicht.
Die Spanische Grippe war eine Vogelgrippe
Mit der Aufklärung der Basenabfolge im viralen Genom erhielten Fachleute zudem erstmals die Möglichkeit, den Ursprung des Erregers genauer zu untersuchen. Man wusste bereits, dass die Spanische Grippe ungeachtet ihres Namens vermutlich in den USA ihren Ausgang genommen hatte. Die ersten Fälle lassen sich bis in den Bundesstaat Kansas zurückverfolgen; doch wie der Erreger auf den Menschen übersprang, war noch ungeklärt. Die Genomdaten zeigten schnell, dass das Virus etwas Besonderes war: Zwar deuteten die Erbsequenzen auf einen Ursprung bei Vögeln hin; wie aber der Erreger auf den Menschen übersprang, ist unklar.
Im Genom gibt es keinen Hinweis darauf, dass ein Vogelvirus – vermutlich kommen alle Grippeviren ursprünglich aus Wasservögeln – sich mit einem gut an den Menschen angepassten Grippevirus vermischt hat. Eine solche Rekombination hätte einer sehr aggressiven Vogelgrippe als Eintrittstor in den Menschen dienen können. Doch keines der acht Proteingene im Erbgut des Virus stammt von einem solchen Erreger. Umgekehrt ähneln die Komponenten des Pandemievirus stark den entsprechenden Proteinen von Vogelgrippeviren, zeigen aber auch Unterschiede. Zum Beispiel analysierten Fachleute die Sequenz des Hämagglutinins eines H1N1-Vogelgrippevirus aus einem wilden Wasservogel, der 1917 gefangen wurde und seitdem im Museumsdepot lagerte. Die Differenzen waren so groß, dass das Hämagglutinin des Pandemievirus wohl nicht direkt aus Vögeln kam – womöglich kursierte der Erreger eine ganze Weile in Menschen, bevor er zum tödlichen Pandemievirus wurde.
Teile des Virus von 1918 findet man in heutigen Grippeviren
Die Erreger der beiden letzten großen Grippepandemien in den Jahren 1957 und 1968 jedenfalls waren anders. Sie entstanden beide durch Rekombination: Ein Vogelgrippevirus und ein Grippevirus von Menschen infizierten die gleiche Zelle. Dabei entstanden Hybridviren, deren Genom Teile beider Viren vereinte.
Das hat eine kuriose Konsequenz: Der Erreger von 1918 ist nicht verschwunden. Teile von ihm leben in den jeweiligen Pandemieviren und ihren saisonalen Nachfolgern weiter. Die Pandemie von 1957 löste ein Erreger aus, der aus der Kombination des inzwischen an den Menschen angepassten und weniger aggressiven H1N1-Erregers und einer H2N2-Vogelgrippe hervorgegangen war. Das rekombinante Virus enthielt die beiden Oberflächenproteine H2 und N2 sowie PB1, einen Teil des Polymerase-Komplexes, vom Vogelgrippevirus, die restlichen fünf Proteine stammten von H1N1.
Einige Jahre später, 1968, betrat ein neuer Vogelgrippeerreger die Szene und löste eine neue Pandemie aus. Dabei entstand der heutige dominante Influenza-Typ H3N2; neben dem Hämagglutinin wechselte hier wieder das PB1-Gen, so dass die fünf ursprünglich vom Erreger der Großen Pandemie verbliebenen Gene auch heute noch am Großteil der jährlichen Grippewellen beteiligt sind.
Die Analysen der drei Grippepandemien zeigen, dass solche Seuchen auf zwei Arten zu Stande kommen können: zum einen durch Rekombination einer Vogelgrippe mit einem bereits an Säugetiere angepassten Virus, wie es 1957 und 1968 geschah. Solche Pandemien durch einen neuen Subtyp töten viele Menschen, scheinen aber, zumindest den bisherigen Erfahrungen zufolge, keine apokalyptischen Ausmaße anzunehmen. Das mag daran liegen, dass der Erreger eben nicht völlig neu ist und entsprechend schon eine gewisse Immunität gegen ihn vorliegt. Manchmal aber springt, wie 1918, ein völlig neues Virus von Tieren auf Menschen über – und damals waren die Folgen dramatisch.
Was H5N1 mit der Grippe von 1918 gemeinsam hat
Wie wahrscheinlich es ist, dass eine Pandemie durch einen ganz neuen Erreger in absehbarer Zeit wieder auftritt, ist unklar – doch es gibt schon heute ein Virus, das viele Merkmale des Grippevirus von 1918 besitzt: die Vogelgrippe H5N1. Erstmals sprang der Erreger bereits 1997 auf den Menschen über; seither kursiert die Vogelgrippe unter Wasservögeln und infiziert immer wieder Menschen – die lückenhafte Statistik der WHO weist derzeit etwa 900 Fälle seit 2003 auf; die Hälfte der Opfer starb.
Zurzeit infiziert der Erreger nur sehr selten Menschen. Dennoch ist das Virus unter ständiger Beobachtung, denn H5N1 könnte durch Rekombination mit anderen Grippeviren eine Pandemie auslösen – zudem zeigt die Genomanalyse der Spanischen Grippe, dass H5N1 das Zeug hat, die nächste Superpandemie auszulösen. Bereits jetzt hat der Erreger eine ganze Reihe Merkmale mit H1N1 von 1918 gemeinsam.
In den Jahren 2002 und 2003 machten wenige genetische Mutationen den Erreger aggressiver gegen Vögel und ansteckender für Menschen. Die gesteigerte Virulenz von H5N1 scheint mit den gleichen Faktoren zusammenzuhängen wie bei der Spanischen Grippe: den Polymerase-Proteinen, Hämagglutinin und der massiven Immunreaktion im Lungengewebe. Speziell in den Polymerase-Proteinen identifizierten Fachleute fünf kritische Mutationen, die H1N1 so gefährlich machten. H5N1 hat eine davon. Erst - oder schon?
Angesichts der vermutlichen Herkunft der Spanischen Grippe direkt aus Vögeln und wegen der vergleichsweise geringen Zahl dafür nötiger Mutationen sehen Fachleute das reale Risiko, dass diese Grippe den gleichen Weg gehen könnte wie jene von 1918. Zumal sich das Virus in Vögeln bereits weltweit ausgebreitet hat und eine Reihe der bei H5N1 beobachteten Veränderungen ebenjenen gleichen, die sich in den Genanalysen des Pandemievirus zeigten. Doch bisher sind keine Fälle einer Übertragung dieses Virus zwischen Menschen bekannt geworden. Ob das jemals passieren wird, ist unklar.
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