Schlichting!: Gefährliche Schräglage
Ein wachsender Sandhaufen wird ab einer bestimmten Neigung nicht mehr steiler. Vielmehr stellt sich ein charakteristischer Schüttwinkel ein, indem oben aufgetürmter Sand gelegentlich in Lawinen niedergeht. Sie flachen den Haufen ab, so dass darauf wieder Sandkörner liegen bleiben können, bis der kritische Winkel erneut überschritten wird. In der nichtlinearen Physik spricht man bei solchen Phänomenen von selbstorganisierter Kritikalität.
Es hängt zwar von zufälligen Störungen ab, wann genau ein Abgang ausgelöst wird. Trotzdem ist der Prozess nicht ganz wahllos, sondern die Verteilung der Lawinen folgt einem Potenzgesetz – große kommen seltener, kleinere viel häufiger vor. Derartige Skalengesetze gibt es überall in Natur und Alltag. Sie beschreiben so verschiedene Phänomene wie die Verteilung der Einwohnerzahl deutscher Städte oder die Ausmaße von Mondkratern.
»Ein kleiner Irrtum am Anfang wird am Ende ein großer«
Giordano Bruno, 1548–1600
Versucht man einen solchen Haufen zu besteigen, etwa auf der lockeren Leeseite aktiver Sanddünen, ist das eine sportliche Herausforderung: Mit jedem Schritt nach oben gleitet man auf einer kleinen Lawine wieder ein Stück zurück. Weil ein Mensch aber dank seines Körpergewichts zugleich in den Sand einsinkt, bildet sich nach der kurzen Rutschpartie an den Füßen ein Wall mit einer unterkritischen Neigung. Darauf kann sich der Wanderer abdrücken, um etwas höher zu kommen.
Ein winziges Insekt hat es da einfacher. Es krabbelt den Hang hinauf, ohne dass viel passiert. Hier und da rieseln ein paar Körnchen herab, aber es kommt voran. Doch wie ergeht es größeren Insekten, die den kritisch angewinkelten Untergrund stark genug stören und eine Lawine auslösen?
Die Antwort liefert die Larve des Ameisenlöwen. Das Insekt bedient sich dieses Phänomens bei der Jagd. Dazu baut es einen Trichter und bringt dessen schräge Wände immer wieder in den verhängnisvollen Winkelbereich (siehe Foto unten). Ameisen, Käfer, Spinnen und andere Kleintiere haben just die richtige Masse. Wenn sie auf die inneren Flanken geraten und sie dadurch überkritisch machen, lösen sie einen Hangrutsch aus. Darauf gleiten sie dann hinab – der am unteren Ende halb vergraben lauernden Larve entgegen.
Das Tierchen muss dazu einen perfekten Trichter mit genau der grenzwertigen Neigung bauen, ohne selbst ständig abzurutschen und das schöne Werk zu beschädigen. Die Lösung des Problems ist ebenso einfach wie trickreich. Zunächst treibt die Larve in einer Art rückwärtiger Schiebetechnik einen groben Krater im unterkritischen Neigungsbereich in den sandigen Grund. Daraufhin schleudert sie von der Mitte aus lockeren Sand nach oben. Solange der kritische Winkel noch nicht erreicht ist, bleibt er liegen. Sobald er überschritten wird, rutscht das Baumaterial ab.
Vom tierischen Instinkt zur wissenschaftlichen Analyse
Kommen der Larve im zeitlichen Mittel genauso viele Sandkörner wieder entgegen, wie sie hochkatapultiert, ist ihr Werk vollendet. Die gleiche Technik wendet die Larve an, wenn ein Beutetier zu entkommen droht. Dann wirft sie dem Fliehenden einige Sandladungen hinterher, wodurch die Wand überkritisch wird und es kein Halten mehr gibt.
Das Beispiel des Ameisenlöwen zeigt, dass die Natur die selbstorganisierte Kritikalität schon lange genutzt hat, bevor die Physiker sie entdeckt haben. Inzwischen hat sich auch eine französische Forschergruppe des interessanten Phänomens angenommen. Sie ist in einer 2017 publizierten Arbeit allgemein der Frage nachgegangen, wie sich gleitende Gegenstände auf einer Flanke aus granularer Materie verhalten.
Dabei entzieht sich der körnige Feststoff im kritischen Winkelbereich einer deterministischen Beschreibung – ein- und dasselbe Objekt kann unter sonst gleichen Bedingungen sowohl in Bewegung geraten als auch zur Ruhe kommen. Kleinste Störungen geben den Ausschlag. Daher lassen sich die Vorgänge nur mit Wahrscheinlichkeiten auf Basis zahlreicher Experimente beschreiben.
Als schiefe Ebene benutzten die Forscher einen Schütthaufen aus winzigen Glaskügelchen. Darauf setzten sie kleine Pappscheiben mit Metallgewichten und untersuchten, wie sich die Gleiter unter verschiedenen Bedingungen verhalten. Die Wissenschaftler haben dabei den Druck variiert, also den Quotienten aus Gewichtskraft und Auflagefläche der Scheiben. Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung: Die Gleiter bewegten sich nur in einem kleinen Bereich unterschiedlicher Drücke den ganzen Hang hinab. Zu schwere und zu leichte Scheiben blieben liegen oder stoppten nach kurzer Strecke.
Ursache für dieses Verhalten ist die mehr oder weniger starke Verformung des granularen Untergrunds. Das lässt sich mit Hausmitteln einfach qualitativ nachvollziehen, etwa mit einem Sandhaufen und einem kleinen, flachen Plastikdeckel sowie mehreren Unterlegscheiben als potenzielle Zusatzlasten (siehe Bilder). Solange wenig Gewicht auf dem Gleiter lastet, bleibt er ruhig liegen. Wenn jedoch der Druck, also die Kraft pro Fläche, ein kritisches Maß überschreitet, bewegt er sich hangabwärts und hinterlässt eine feine Spur im Sand. Sie wird bei größerem Gewicht aber so tief, dass der Deckel einen wachsenden Wall vor sich herschiebt, der ihn nach kurzer Strecke ausbremst. Die Gleitfähigkeit eines gegebenen Gleiters hängt im Bereich des kritischen Winkels also hauptsächlich von der Gewichtskraft ab.
Diese Ergebnisse geben Aufschluss über das Verhalten von Lebewesen auf sandigem Untergrund. Sie erklären die Erfahrungen von Menschen, die sich an der kritischen Wand einer Düne abmühen, ebenso wie die erfolgreiche Strategie der Larve des Ameisenlöwen. Sowohl zu leichte wie auch zu schwere Tiere kann sie damit nicht fangen. Laut der Untersuchungen der Wissenschaftler haben Tiere unterhalb eines Körpergewichts von zwei Milligramm nichts zu befürchten, ebenso wenig solche mit mehr als fünf Milligramm. Aber auf beide hat es die Larve auch gar nicht abgesehen. Die einen lohnen den Aufwand nicht, und die anderen sind als Beute zu groß.
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