Schlichting!: Faszinierende Physik von Eis und Schnee
In unseren Breiten sind harte Winter selten. Wenn es einmal geschneit hat, dauert es oft nicht lange bis zum nächsten Tauwetter. Es lohnt sich allerdings, die Phänomene in dem Grenzbereich zwischen Fest und Flüssig aufmerksam zu beobachten.
In einem solchen Fall hatte es nicht viel geschneit – aber immerhin waren insbesondere die Felder und Wiesen mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Die nächsten Tage über schien die Sonne, die Lufttemperatur blieb dennoch ein bis zwei Grad unter dem Gefrierpunkt. Ein Schmelzen der Schneedecke insgesamt war also nicht zu erwarten. Trotzdem bekam diese auf einem mit Wintergetreide bestellten Feld nach und nach immer mehr und größer werdende Löcher.
Ausgangspunkt für solche Lücken sind in den meisten Fällen exponierte Stellen, bei denen Steine oder andere Störungen die Schneeschicht durchbrechen oder diese so dünn ist, dass der Boden hindurchschimmert. Normalerweise reflektiert der Schnee das Sonnenlicht – seine blendend weiße Farbe ist dafür ein deutliches Zeichen – und absorbiert nur wenig Energie. Gelangt ein Teil des Lichts jedoch zum dunklen Ackerboden, nimmt er es fast vollständig auf. Dabei wird die Sonnenenergie in thermische Energie umgewandelt.
Die lokale Erwärmung bleibt nicht ohne Wirkung auf die kühlere Nachbarschaft. Transportvorgänge beginnen die Temperaturdifferenz auszugleichen: Einerseits fließt durch Wärmeleitung Energie an angrenzende Bereiche, andererseits strahlt der beleuchtete Fleck Wärme ab. Die Luft über dem Erdreich erwärmt sich dadurch, dehnt sich aus und steigt auf. Während sie zu der dünnen Schneeschicht über dem Geschehen gelangt und ihr Energie überträgt, ersetzt eine Konvektionsbewegung sie durch absinkende kalte Luft.
»Nebeneindrücke sind wieder einmal das Bestimmende«Robert Musil 1880–1942
Zusätzlich nimmt die Schneedecke die Strahlungsenergie des Erdreichs auf, denn anders als beim sichtbaren Sonnenlicht absorbieren die Eiskristalle die unsichtbare Infrarotstrahlung gut. So bringt die Sonne über Umwege dann doch noch den Schnee zum Schmelzen. Allerdings hält sich der Effekt wegen der geringen Temperaturdifferenzen und der kalten Umgebungsluft in Grenzen. Darum läuft der Vorgang alles andere als stürmisch ab, zumal bei Eiskristallen die zum Schmelzen nötige Energiemenge ziemlich groß ist.
Wenn es einmal so weit ist, tropft das entstehende Wasser kaum ab, sondern wird vorwiegend vom Kapillarsystem des angrenzenden Schnees aufgenommen. Schließlich ist dieser nicht nur porös, sondern obendrein sehr gut benetzbar: Um sich mit ihm zu vereinigen, braucht das Wasser weniger Energie als für eine Grenzschicht zur Luft.
Das Schmelzwasser gerät also großflächig in Kontakt mit dem Schnee und kühlt durch weiteren Wärmeaustausch wieder ab. Sobald der Gefrierpunkt unterschritten wird, erstarrt es. Die für den Schnee charakteristischen Luftzwischenräume sind damit verschwunden – eine kompakte Eisschicht entsteht. Daher wird das Loch nicht bloß allmählich größer, sondern immer mehr durch einen festen kristallinen Randbereich begrenzt. Dieser ist auf Grund der unregelmäßigen Struktur der ursprünglichen Schneeschicht und wegen anderer Zufälligkeiten äußerst zerklüftet. Im Vergleich zur porösen und bröckeligen Konsistenz des Schnees ist das Eis allerdings hart und relativ stabil.
Das Schmelzen und erneute Gefrieren kann sich je nach Wetterlage wiederholen. Im vorliegenden Fall war dazu mehrere Tage lang Gelegenheit. In den Nächten wurde der Vorgang zwar unterbrochen, und infolge der Anlagerung von Reifkristallen wuchs die Schneeschicht sogar noch. Doch kaum schien wieder die Sonne, breiteten sich die Löcher im Schnee aus und hinterließen immer waghalsigere Eiskonstruktionen. Intuitiv wirkt es, als hätten sie längst unter der eigenen Last abbrechen müssen.
Aber unsere Alltagserfahrungen trügen, wenn wir ein plausibles Verhältnis von getragener Masse und Robustheit des Stegs einschätzen wollen. Die Kraft, mit welcher die vergleichsweise große Eisstruktur gehalten wird, ist proportional zur Querschnittsfläche der schmalen Eisbrücke, an der sie hängt. Wir sind mittlere Dimensionen gewohnt und haben beispielsweise ein gutes Gefühl dafür entwickelt, ob ein Brett stark genug ist, um uns über eine Vertiefung zu tragen. Im Bereich kleiner Abmessungen versagt unsere Intuition häufig. Das liegt hier an der so genannten Flächen-Volumen-Relation: Wenn man beispielsweise den Durchmesser eines Körpers um den Faktor 10 verkleinert, verringert sich die zum Volumen proportionale Masse um den Faktor 103, also 1000. Die zum Querschnitt der Brücke proportionale Kraft sinkt aber nur mit dem Faktor 102, das heißt 100. Je kleiner ein Objekt ist, desto filigraner können darum die stützenden Elemente sein.
Schaut man sich die fragil erscheinenden Eisstrukturen genauer an, beeindrucken ihr oft bunt schillernder Glanz und vor allem ihr Formenreichtum. Nicht selten glaubt man, darin Gesichter oder vertraute Gestalten zu erblicken – ein Pareidolie genanntes Phänomen. Man erlebt beim Übergang zwischen Schmelzen und Gefrieren einmal mehr, was der erste deutsche Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) viel allgemeiner so ausgedrückt hat: »Auf der Grenze liegen meistens die merkwürdigsten Geschöpfe.«
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