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Der Mathematische Monatskalender: Georg Cantor (1845–1918)

Georg Cantor verdanken wir die Mengenlehre, einen der Grundpfeiler der modernen Mathematik.
Georg Cantor (1845 – 1918)

Es gibt wohl kaum einen anderen Mathematiker, über den die Meinungen der zeitgenössischen Fachkollegen so weit auseinander gingen: Für die einen war Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor ein Verderber der Jugend (Kronecker), für die anderen ein begnadeter Forscher (David Hilbert 1925: Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen hat, soll uns niemand vertreiben können.)

Der Vater Georg Cantors ist erfolgreicher Kaufmann und Börsenmakler in St. Petersburg, wo er mit seiner sechsköpfigen Familie in der großen deutschen Kolonie lebt, bis ihn gesundheitliche Probleme veranlassen, in das mildere Klima Deutschlands umzuziehen. In Russland erhält Georg Unterricht durch Privatlehrer; in Wiesbaden und Darmstadt besucht er höhere Schulen. Nach dem Schulabschluss mit exzellenten Noten, insbesondere in Mathematik, akzeptiert der Vater den Wunsch des Sohnes, ein Studium der Mathematik in Zürich zu beginnen. Georg Cantor hätte auch eine Karriere als Violinist einschlagen können – hier hätte er das Erbe der beiden Großeltern mütterlicherseits fortgesetzt, die als angesehene Berufsmusiker in St. Petersburg tätig waren.

Als der Vater 1863 stirbt, wechselt Cantor nach Berlin und hört dort Vorlesungen bei Karl Weierstraß, Ernst Eduard Kummer und Leopold Kronecker. Nach der Promotion 1867 über ein Thema aus der Zahlentheorie findet Cantor zunächst keine feste Stelle, unterrichtet vorübergehend an einer Mädchenschule und an einer Einrichtung, in der Lehrer ausgebildet werden, während er an seiner Habilitation arbeitet. Diese führt zu einem Lehrauftrag an der Universität in Halle.

Angeregt durch seinen Hallenser Kollegen Eduard Heine, widmet er sich einem Beweis, an dem sich Heine selbst, aber auch Dirichlet, Lipschitz und Riemann vergeblich versucht hatten: Sein Beweis der eindeutigen Darstellbarkeit von Funktionen durch trigonometrische Reihen (Fourier-Reihen) führt zu seiner Berufung als Außerordentlicher Professor an der Universität Halle. Bei seiner Untersuchung, auf welchen Zahlenmengen der Eindeutigkeitssatz gilt, stößt er auf das Problem, dass es noch keine genügend exakte Definition der Menge der reellen Zahlen gibt.

Hierüber entwickelt sich mit Richard Dedekind, den er zufällig während eines Urlaubs in der Schweiz kennen lernt, eine rege, fruchtbare Korrespondenz, die Grundlage wird für Dedekinds Definition irrationaler Zahlen mithilfe sogenannter Dedekind'scher Schnitte und Cantors Entwicklung der Mengenlehre (anfangs noch von ihm als Mannigfaltigkeitslehre bezeichnet).

Bereits Galileo Galilei war auf das Problem gestoßen, wie man die Anzahl der Punkte von zwei verschieden langen Strecken vergleichen könnte: Beide Strecken enthalten unendlich viele Punkte; aber ist das »Unendlich« der einen Strecke mehr als das »Unendlich« der anderen Strecke? Und: Kann man sagen, dass es weniger Quadratzahlen als natürliche Zahlen gibt, weil nicht alle natürlichen Zahlen Quadratzahlen sind?

Der für endliche Mengen unmissverständliche Begriff der Anzahl der Elemente ist bei unendlichen Mengen nicht anwendbar; hier führt Cantor den Begriff der Mächtigkeit ein. Ende 1873 entdeckt er, wie man jeder positiven rationalen Zahl eine natürliche Zahl zuordnen kann. Bei diesem »Durchzählen« der rationalen Zahlen lässt man die in der Abbildung unten grau unterlegten Brüche weg, da sie bereits erfasst sind. Die Methode wird als erstes Cantor'sches Diagonalverfahren bezeichnet.

Berücksichtigt man abwechselnd die im Schema aufgeführten positiven Brüche und deren negative Gegenzahl, dann werden auf diese Weise alle rationalen Zahlen erfasst. Die Menge der natürlichen Zahlen und die Menge der rationalen Zahlen sind demnach gleichmächtig: \(|\mathbb{N}| = |\mathbb{Q}|\). Die Idee entwickelt er weiter zur Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen, das heißt der Zahlen, die als Lösung von Polynomialgleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten auftreten.

Vergeblich bemüht er sich, mithilfe eines ähnlichen Verfahrens die reellen Zahlen abzuzählen. Nur wenige Wochen später, im Dezember 1873, gelingt es ihm jedoch, durch indirekten Beweis das Gegenteil seiner ursprünglichen Vermutung zu zeigen. Bei seinem Beweis beschränkt er sich auf die reellen Zahlen zwischen 0 und 1: Angenommen, die Menge der reellen Zahlen im Intervall ist abzählbar; dann gibt es also eine Folge \( x_1, x_2, x_3, x_4, ...\) mit der alle reellen Zahlen des Intervalls erfasst werden. Durch diese Folge sind jedoch alle diejenigen reellen Zahlen nicht erfasst, die sich in der ersten Dezimalstelle von \(x_1\) unterscheiden und in der zweiten Stelle von \(x_2\) und in der dritten Stelle von \(x_3\) und so weiter (zweites Cantor'sches Diagonalverfahren).

\( \begin{split} x_1 &= 0{,}a_{11}a_{12}a_{13} a_{14} \dots, \\ x_2 &= 0{,}a_{21}a_{22}a_{23} a_{24} \dots, \\ x_3 &= 0{,}a_{31}a_{32}a_{33} a_{34} \dots, \\ x_4 &= 0{,}a_{41}a_{42}a_{43} a_{44} \dots, \end{split} \)

Cantor erkennt, dass es also mindestens zwei verschiedene Arten von »unendlich« geben muss, und er verwendet für die Mächtigkeit der beiden Mengen den hebräischen Buchstaben \(\aleph\) (»aleph«); es gilt: \( \aleph_0 = |\mathbb{N}| = |\mathbb{Q}| < \aleph_1 = |\mathbb{R}|\). Da sich die Menge der reellen Zahlen als nicht abzählbar herausgestellt hat (heute benutzt man die Ausdrucksweise überabzählbar), die Teilmenge der algebraischen Zahlen jedoch abzählbar ist, folgt, dass die Menge der transzendenten Zahlen ebenfalls überabzählbar ist, oder salopp ausgedrückt, dass fast alle reellen Zahlen transzendent sind.

1874 findet Cantor, der es zunächst selbst für überflüssig hält, Zeit für die Suche zu verwenden, zu seiner eigenen Überraschung ein Verfahren, durch das eine eindeutige Zuordnung der Punkte des Einheitsquadrats \([0 ; 1] \times [0 ; 1]\) auf die Punkte des Einheitsintervalls \( [0 ; 1]\) erfolgen kann: Einem Punkt \((x | y)\) mit \(x = 0{,} a_{1} a_{2} a_{3} \dots\) und \(y = 0{,}b_{1} b_{2} b_{3}\dots\) wird die Zahl \(z = 0{,}a_{1} b_{1} a_{2} b_{2} a_{3} b_{3}\dots\) des Intervalls \([0 ; 1]\) zugeordnet. (Die Umkehrung dieser Zuordnung ist nicht eindeutig, da zum Beispiel gilt: \(0{,}5 = 0{,}49999\dots\); allerdings findet Cantor auch für diesen »Schönheitsfehler« eine Lösung.)

Auch Dedekind, der die sensationellen Erkenntnisse (Cantor: Je le vois, mais je ne le crois pas ! ) jeweils als Erster erfährt, ist überrascht, dass eine zweidimensionale Fläche gleichmächtig sein soll zu einem eindimensionalen Intervall; allerdings findet auch er keinen Fehler in Cantors Überlegungen.

1874 ist auch das Jahr, in dem Cantor heiratet (eine Freundin seiner Schwester); die Hochzeitsreise führt nach Interlaken, wo sich Cantor oft mit Dedekind trifft.

Als 1877 Cantor eine umfangreiche Abhandlung über seine bisherigen Überlegungen in Crelle's Journal einreicht (darunter auch den Beweis, dass das Einheitsintervall gleichmächtig ist zum \(n\)-dimensionalen Einheitswürfel), wird zum ersten Mal Widerstand spürbar. Kronecker (Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.) versucht, die Veröffentlichung zu verhindern; sie wird erst nach der Intervention von Dedekind abgedruckt. Cantor reicht aber keine weiteren Beiträge mehr in Crelle's Journal ein; die nächsten sechs Abhandlungen erscheinen in den Mathematischen Annalen, unterstützt von Felix Klein.

1879 erhält Cantor endlich eine ordentliche Professur in Halle, nachdem er lange vergeblich darauf gehofft hat, an die angesehenere Universität in Berlin berufen zu werden. Als Ende 1881 Heine stirbt, wünscht Cantor sich Dedekind als Nachfolger auf dem frei gewordenen Lehrstuhl in Halle. Als der dies ablehnt, endet die gegenseitig fruchtbare Korrespondenz zwischen Cantor und Dedekind.

Cantors Veröffentlichungen in den Mathematischen Annalen, darunter Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, haben nicht die erhoffte positive Resonanz; vielmehr nimmt die Zahl der Kritiker zu.

1874 nimmt Cantors Umgebung zum ersten Mal wahr, dass dieser unter starken Depressionen leidet. Diese werden dadurch verstärkt, dass Cantor nach so vielen erfolgreichen Forschungsergebnissen weder ein Beweis, noch eine Widerlegung der sogenannten Kontinuumshypothese gelingt: Es gibt keine Menge, deren Mächtigkeit zwischen der Mächtigkeit der natürlichen Zahlen und der Mächtigkeit der reellen Zahlen liegt. (Erst in den 1960er Jahren zeigt Paul Cohen, dass man dies nicht aus den Axiomen der Mengenlehre folgern kann.)

Cantor verfasst weitere Beiträge, die er bei Acta Mathematica in Schweden einreicht, darunter ist auch eine Abhandlung über die heute so genannte Cantor-Menge, das erste Fraktal der Mathematikgeschichte (De la puissance des ensembles parfait de points, Über die Mächtigkeit von perfekten Punktmengen): Aus einer Strecke, dem Intervall \([0 ; 1]\), wird fortlaufend das mittlere Drittel herausgeschnitten. Alle Punktmengen dieser Folge enthalten überabzählbar viele Punkte; die Gesamtlänge der Teilintervalle konvergiert jedoch gegen null.

Der Herausgeber Magnus Gösta Mittag-Leffler bittet Cantor, eine andere Abhandlung wieder zurückzuziehen, da sie für eine Veröffentlichung 100 Jahre zu früh käme; Cantor geht auf diesen – von Mittag-Leffler freundlich gemeinten – Rat ein, beendet aber auch diesen Kontakt.

Vorübergehend verlagert Cantor seine Aktivitäten: Er kauft ein angemessen großes Haus, in das er mit seiner Frau und seinen sechs Kindern zieht. Auch betreibt er die Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, die zu einer ersten Tagung 1891 in Halle zusammenkommt. Als Geste der Versöhnung lädt er Kronecker ein, die Begrüßungsansprache zu halten, aber wegen eines Unfalls seiner Frau muss Kronecker absagen. Cantor wird für drei Jahre zum Vorsitzenden gewählt. Zur Mitgliederversammlung 1893 in München kann Cantor wegen Erkrankung nicht kommen.

1895 und 1897 erscheinen dann zusammenfassende Darstellungen seiner Mengenlehre mit der uns heute noch vertrauten Definition: Unter einer »Menge« verstehen wir jede Zusammenfassung \(M\) von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten \(m\) unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die »Elemente« von \(M\) genannt werden) zu einem Ganzen.

Endlich werden auf einem Mathematikerkongress in Zürich im Jahr 1897 die Verdienste Cantors durch Vorträge von Adolf Hurwitz und Jacques Hadamard herausgestellt; auch kommt es zu einer Versöhnung mit Dedekind. Allerdings findet Cantor nicht mehr zu seiner früheren Schaffenskraft zurück; in der Zwischenzeit ist er selbst auf Paradoxien gestoßen, die mit den von ihm vorgenommenen Definitionen zusammenhängen, und er findet keine Möglichkeit der Auflösung der Probleme. Für Henri Poincaré sind die Paradoxien der Nachweis, dass die Mengenlehre ein Irrweg ist: Der größte Teil der Ideen der Cantor'schen Mengenlehre sollte ein für alle Mal aus der Mathematik verbannt werden.

Cantor flüchtet in eine andere Welt: Mit großer Besessenheit versucht er zu beweisen, dass es tatsächlich Francis Bacon war, der Shakespeares Werke verfasste.

Sein Gesundheitszustand unterliegt starken Schwankungen; seinen Universitätsverpflichtungen kann er nur zeitweise nachkommen. Auf dem internationalen Mathematikerkongress 1904 in Heidelberg behauptet in seiner Anwesenheit ein Referent, in den Grundlagen der Cantor'schen Mengenlehre seien erhebliche Fehler. Zwar kann Ernst Zermelo die Vorwürfe unmittelbar entkräften, aber Cantor ist zutiefst verletzt.

1911 wird er von der schottischen St. Andrews Universität aus Anlass des 500-jährigen Bestehens der Universität als Ehrengast eingeladen. Hier hofft er, Bertrand Russell zu treffen, der sich in den kürzlich erschienenen Principia Mathematica mit Cantors Mengenlehre und den Paradoxien auseinandergesetzt hat. Als dieser wegen Krankheit nicht kommen kann, führt er nur Gespräche über seine Bacon-Shakespeare-Theorie.

Cantors Emeritierung erfolgt 1913. Eine geplante Feier anlässlich des 70. Geburtstages wird wegen des Weltkriegs abgesagt. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich zusehends, auch wegen kriegsbedingter Mangelernährung; sein letztes Lebensjahr verbringt er in der psychiatrischen Klinik in Halle.

Georg Cantor (1845–1918)

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