Der Mathematische Monatskalender: George Bernard Dantzig das verkannte Genie
Die folgende Episode ist keine erfundene Geschichte – sie hat sich tatsächlich so zugetragen: Als George Bernard Dantzig, Doktorand an der University of California in Berkeley, im Jahr 1939 zu der Statistik-Vorlesung seines Doktorvaters Jerzy Neyman einige Minuten zu spät erschien, standen zwei Probleme an der Tafel, die Dantzig für Hausaufgaben hielt. Er schrieb sie ab und beschäftigte sich einige Tage lang mit deren Lösung. Was er nicht wusste: Es handelte sich nicht um gewöhnliche Übungsaufgaben, sondern um zwei berühmte, bis dahin noch unbewiesene Theoreme der Statistik.
»Einige Tage später«, so erzählte Dantzig später in einem Interview, »entschuldigte ich mich bei Neyman dafür, dass ich so lange gebraucht hatte, aber die Aufgaben schienen ein bisschen schwieriger zu sein als sonst. Ich fragte ihn, ob er sie trotzdem noch haben wolle. Er bejahte und sagte mir, ich solle sie ihm auf den Schreibtisch legen. Ich zögerte, denn der Schreibtisch war mit einer solchen Fülle an Papieren bedeckt, dass ich befürchtete, dass meine Hausaufgaben für immer verloren sein würden. Ungefähr sechs Wochen später, gegen acht Uhr an einem Sonntagmorgen, wurden wir von jemandem geweckt, der an unsere Haustür hämmerte. Es war Neyman. Er stürmte mit den Papieren in der Hand herein, ganz aufgeregt. ›Ich habe gerade eine Einleitung zu einem Ihrer Artikel geschrieben. Bitte lesen Sie sie, damit ich sie gleich zur Veröffentlichung abschicken kann.‹ Einen Moment lang hatte ich keine Idee, wovon er sprach. Um es kurz zu machen: Das war der erste Hinweis für mich, dass etwas Besonderes an ihnen war.«
Als Dantzig dann im folgenden Jahr bei Neyman, dem zum damaligen Zeitpunkt weltweit angesehensten Statistiker, nachfragte, welches Thema er für seine Doktorarbeit wählen könne, zuckte dieser mit den Schultern und sagte: »Legen Sie einfach Ihre Bearbeitungen der beiden Probleme in eine Mappe.« Er würde sie als Doktorarbeit akzeptieren.
Sein Vater, Mathematiker, fing als Holzfäller an
George Bernard Dantzig wurde als ältester Sohn von Tobias Dantzig und Anja Ourisson in Portland (Oregon) geboren. Die Eltern hatten sich während des Studiums an der Sorbonne in Paris kennen gelernt, wo sie unter anderem Vorlesungen bei Henri Poincaré hörten. Nach ihrer Heirat wanderten sie in die USA aus, wo sich der aus Litauen stammende Tobias Dantzig wegen seiner Sprachprobleme zunächst durch Gelegenheitsarbeiten als Holzfäller und Straßenbauer einen bescheidenen Lebensunterhalt verdienen musste, bevor er an der Universität von Indiana einen Abschluss als Ph.D. in Mathematik erwarb; seine Frau absolvierte die Master-Prüfung in Französisch.
Die Eltern hatten sich überlegt, dass ihre Kinder bessere Chancen im Leben hätten, wenn sie ihnen Vornamen von berühmten Persönlichkeiten geben. So wurde der ältere Sohn George Bernard genannt, in der Hoffnung, dass aus ihm einmal ein Schriftsteller würde (wie George Bernard Shaw), der jüngere Sohn erhielt den Vornamen Henri (wie Henri Poincaré) – tatsächlich wurde auch dieser später Mathematiker.
Die Mutter arbeitete an der Library of Congress in Washington DC, der Vater lehrte Mathematik an verschiedenen Hochschulen: Johns Hopkins (Baltimore, Maryland), Columbia University (New York) und University of Maryland. 1930 veröffentlichte er ein Buch zur Entwicklungsgeschichte der Mathematik mit dem Titel »Number – The Language of Science«, das mehrfach nachgedruckt wurde (zuletzt 2005).
In den ersten Klassen hatte George noch Schwierigkeiten mit der Mathematik, aber dank des väterlichen Trainingsprogramms mit täglichen Aufgaben, insbesondere aus der Geometrie, erzielte George schließlich Bestnoten.
Trotz der Berufstätigkeit beider Eltern stand der Familie nicht genügend Geld zur Verfügung, um ein Studium der Mathematik und der Physik an einer der Elite-Hochschulen zu finanzieren, und so begann George Dantzig sein Mathematikstudium an der University of Maryland. Nach dem Bachelor-Abschluss wechselte er an die University of Michigan, wo er 1937 den Master-Degree erlangte. Der abstrakten Mathematik überdrüssig, nahm er danach eine Stelle am U.S. Bureau of Labor Statistics an und wirkte an einer Studie zum Verbrauchsverhalten von Städtern mit.
Statistiker aus Leidenschaft
Bei dieser Tätigkeit entdeckte Dantzig sein Interesse an statistischen Fragen und Methoden. 1939 fragte er bei Jerzy Neyman von der University of California in Berkeley an, ob er bei ihm ein Doktorandenstudium anschließen könne (mit »teaching assistentship«), was dieser ihm ermöglichte. Und so kam es eines Tages zu der anfangs beschriebenen Situation …
Das Promotionsverfahren war noch nicht abgeschlossen, als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintraten. Dantzig ging ans Pentagon in Washington und übernahm eine Stelle als Leiter der Abteilung Statistical Control im Hauptquartier der U.S. Air Force. Dort musste er feststellen, dass den Militärs nur unzureichende Informationen über den tatsächlichen Bestand an Flugzeugen und deren Ausstattung vorlagen.
Er entwickelte ein Verfahren, um die benötigten Daten in allen Einzelheiten zu erfassen, vor allem, um eine detaillierte Auftragsvergabe vorzubereiten – bis hin zum Bedarf an Schrauben und Muttern.
Nach dem Krieg kehrte Dantzig vorübergehend nach Berkeley zurück und erwarb endlich den Doktorgrad. Ein Angebot der Universität, seine Arbeit dort fortzusetzen, lehnte er – nicht nur aus finanziellen Gründen – ab; die Möglichkeiten und Herausforderungen einer Arbeit bei der Air Force reizten ihn mehr.
Angeregt durch die Methode der Input-Output-Analyse des russisch-amerikanischen Mathematikers Wassily Leontief, der von 1931 an eine Professur an der Harvard University in Cambridge innehatte, sah Dantzig die Notwendigkeit, dieses eher statische Modell zu dynamisieren. Außerdem wollte er es so weit verfeinern, dass Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Aktivitäten und Positionen erfasst und optimiert werden konnten – zur damaligen Zeit allerdings noch eine unvorstellbare rechnerische Herausforderung.
Verbesserung von Planungsmethoden beim Militär
Während seiner Arbeit im Pentagon erkannte Dantzig, dass viele Entscheidungen in den Planungsverfahren nur auf Grund von Erfahrungswerten gefällt wurden – und nicht unter Berücksichtigung objektiver Kriterien, so dass nicht unbedingt optimale Ergebnisse erzielt wurden. Oft lassen sich die zu erfüllenden Bedingungen (Restriktionen) mit Hilfe linearer Ungleichungen beschreiben, und durch Festlegung einer Zielfunktion wird definiert, was das Ziel einer Optimierung sein soll, etwa Gewinnmaximierung oder Ressourcenminimierung.
Dantzig entwickelte eine Planungsmethode, die im Deutschen als »Lineares Optimieren« bezeichnet wird – im Englischen hingegen als »linear programming«, wobei mit »programming« nicht das Programmieren im heute üblichen Sinne gemeint ist, sondern die im Militärwesen verwendete Bezeichnung für die Planung von Abläufen. Der Ausdruck »linear« bezieht sich auf die gewählte Modellierung durch lineare Funktionen.
Durch eine lineare Ungleichung wird im Zweidimensionalen eine Halbebene definiert, im Dreidimensionalen ein Halbraum. Betrachtet man mehrere Ungleichungen, entstehen konvexe Polygone oder konvexe Polyeder – im n-Dimensionalen wird ein entsprechendes konvexes Gebilde als »Simplex« bezeichnet.
Beispiel: Aus den Restriktionen einer Sachsituation ergeben sich die linearen Ungleichungen x ≥ 0; y ≥ 0; x + y ≤ 5; 0,5x + y ≤ 4; 3x + y ≤ 12.
Durch diese Ungleichungen ist das gelb gefärbte (konvexe) Flächenstück definiert. Jeder Punkt des konvexen Gebildes erfüllt alle gegebenen Ungleichungen. Ist dann die Zielfunktion im Sachzusammenhang durch die Gleichung z(x,y) = 2x + y gegeben, dann nimmt diese Funktion mit zwei Variablen den größtmöglichen Wert an, wenn x = 3,5 und y = 1,5 ist, also wenn 2x + y = 8,5, vergleiche die rot eingezeichnete Gerade.
Diese Lösung findet man auf graphischem Weg, indem man wegen z(x,y) = 2x + y diejenige Gerade der Geradenschar ga mit y = ga(x) = −2x + a mit größtmöglichem a ermittelt, die gerade noch durch einen Punkt des Polygons verläuft (und gegebenenfalls mit einer Grenzgerade übereinstimmt). Allgemein kommen als Lösung dieses Optimierungsproblems nur Eckpunkte des Polygons in Frage. Daher genügt es, die Werte der Zielfunktion in den Eckpunkten des Polygons zu bestimmen.
Im Fall von drei Variablen ist es oft schon schwierig, sich die Lage der Ebenen und ihrer Schnittpunkte vorzustellen, bei einem Simplex einer höheren Dimension entfällt die Anschauung ganz, und die Suche nach dem optimalen Eckpunkt kann zu einem rechnerisch sehr aufwändigen Problem werden.
Dantzigs Lösung des Problems erfolgt durch Einführung von so genannten Schlupfvariablen u, v, w, durch die aus dem System von Ungleichungen ein lineares Gleichungssystem erzeugt wird: x + y + u = 5; 0,5x + y + v = 4; 3x + y + w = 12. Hierbei werden durch die Schlupfvariablen nicht genutzte »Kapazitäten« beschrieben.
Noch im Jahr 1947 erfand Dantzig eine systematische Methode zur rechnerischen Bestimmung der optimalen Lösung, den so genannten Simplex-Algorithmus, über den er selbst urteilt: »The tremendous power of the Simplex Method is a constant surprise to me.«
Erfinder des Simplex-Algorithmus
Eine erste Verbesserung des Verfahrens erfolgte bereits Ende des Jahres, als Dantzig nach Princeton fuhr, um den Rat von John von Neumann einzuholen. Dieser geniale Mathematiker und Informatiker erkannte unmittelbar Analogien zwischen der Methode der linearen Optimierung und den von ihm und Oscar Morgenstern in ihrem gerade veröffentlichtem Buch »Theory of Games« dargestellten Algorithmen.
Im Lauf der Jahre gelang es, die Suchverfahren noch erheblich zu verbessern, insbesondere durch die Möglichkeit des Computereinsatzes. Auch andere Ansätze wurden verfolgt, unter anderem nichtlineare Modellierungen; aber letztlich erwies sich die von Dantzig entwickelte Methode des »linear programming« als hinreichend effektiv.
Tjalling C. Koopmans, Professor für Research in Economics an der University of Chicago, erkannte nach einem Gespräch mit Dantzig die ökonomische Bedeutung des »linear planning«. Hieraus entstand dessen »Theorie der optimalen Ressourcen-Verwendung«. Zur Verwunderung aller Experten ging Dantzig leer aus, als Koopmans 1975 dafür mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet wurde – zusammen mit dem russischen Mathematiker Leonid Witaljewitsch Kantorowitsch, der ähnliche Ansätze bereits 1939 beschrieben hatte. Diese wurden jedoch erst zwei Jahrzehnte später im Westen bekannt. Der stets freundliche, seinen Mitmenschen zugewandte Dantzig ertrug dies mit großer Gelassenheit und stellte durch unermüdliche Fortsetzung seiner Tätigkeiten seine hohe Kompetenz unter Beweis.
Nach seiner Arbeit bei der Air Force wechselte Dantzig 1952 zur RAND Corporation in Santa Monica, um die computergestützte Umsetzung der Verfahren weiterzuentwickeln. 1960 übernahm er in Berkeley eine Professur im Department for Industrial Engineering und gründete das Operations Research Center. Sein 1963 veröffentlichtes Buch »Linear Programming and Extensions« (Princeton University Press) wurde zu dem Standardwerk der linearen Optimierung. Von 1966 an war Dantzig in Stanford tätig; unter anderem gründete er dort das Systems Optimization Laboratory (SOL). Über 30 Jahre lang betreute er dort insgesamt 41 Doktoranden, denen mit einem Abschluss bei Dantzig glänzende berufliche und akademische Karrieren bevorstanden.
Für seine zahlreichen wissenschaftlichen Beiträge wurde er vielfach durch Ehrendoktorwürden und Mitgliedschaften in Akademien geehrt, unter anderem erhielt er die National Medal of Science und den John von Neumann Theory Price. Die Society for Industrial and Applied Mathematics (SIAM) und die Mathematical Optimization Society (MOS) ehren den Wissenschaftler und seine Verdienste, indem sie alle drei Jahre den George B. Dantzig-Preis vergeben.
Wenige Wochen nach einer Festveranstaltung anlässlich seines 90. Geburtstags im Jahr 2004 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide; eine Diabetes-Erkrankung führte zusammen mit Herz-Kreislauf-Problemen zu seinem Tod.
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