Der Mathematische Monatskalender: Grace Chisholm (1868–1944): Die zweite Frau mit Doktortitel
Als Grace Chisholm geboren wird, ist ihre Mutter Anna Louisa Bell bereits 44 Jahre alt, und ihr Vater, der hochrangige Regierungsbeamte Henry Williams Chisholm, steht kurz vor seiner Pensionierung. Grace leidet als Kind oft unter Kopfschmerzen, so dass der Arzt der Familie empfiehlt, das Mädchen zu Hause unterrichten zu lassen und möglichst nur in Fächern, die sie nicht belasten: Grace interessiert sich vor allem für Mathematik und Musik. Im Alter von 17 Jahren absolviert sie erfolgreich eine Prüfung (Cambridge Senior Examination) und hat damit eigentlich die formale Voraussetzung für ein Studium in Cambridge.
Ihr Wunsch, Medizin zu studieren, wird von ihren Eltern abgelehnt. So entscheidet sie sich für das Fach Mathematik. Da Frauen an der University of Cambridge nicht zu einem regulären Studium zugelassen sind, bewirbt sie sich am Girton College.
Frauen in der Wissenschaft
In den 1860er Jahren gab es in England erste Aktivitäten von Frauenrechtlerinnen, die sich das Ziel gesetzt hatten, Studiermöglichkeiten für Frauen zu schaffen. Dass studierwilligen Frauen sehr bald schon erlaubt wurde, die Eingangsprüfung der University of Cambridge abzulegen, war lediglich ein scheinbarer Fortschritt; denn mit dem Bestehen der Prüfung war kein Anspruch auf einen Studienplatz an der Universität verbunden.
Daher gab es nur die Möglichkeit, eigene Hochschuleinrichtungen für Frauen zu gründen. 1869 öffnete das erste College for Women at Benslow House in Hertfordshire, nördlich von London; dank zahlreicher Spenden konnte dann ein Gelände in der Ortschaft Girton erworben werden, nur wenige Meilen von der University of Cambridge entfernt. 1873 lebten bereits 13 Studentinnen in der nunmehr als Girton College bezeichneten Einrichtung.
Am Ende des Studiums legten die jungen Frauen eine Prüfung ab, in der sie dieselben Anforderungen erfüllen mussten wie die männlichen Studenten an der Universität – der Stellenwert eines Abschlusses am Girton College blieb jedoch gering. Trotz aller Bestrebungen gab es auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum Fortschritte hinsichtlich der Anerkennung der Einrichtung. Erst 1948 wurde das Girton College offiziell als Abteilung in die University of Cambridge integriert.
Grace Chisholms strenger und gefürchteter Lehrer am Girton College ist William Henry Young, der seine talentierte Studentin fordert und fördert. 1892 legt sie ihr Examen (vergleichbar der Bachelor-Prüfung) mit Bestnote ab. Sie stellt sich auch den Anforderungen der Abschlussprüfung in Oxford (die als noch anspruchsvoller gilt) – hier übertrifft sie alle männlichen Absolventen ihres Jahrgangs.
Nach dem Examen hat Grace Chisholm den Wunsch, ihr Studium fortzusetzen. Zunächst bleibt sie noch ein Jahr in Cambridge; dann wechselt sie nach Göttingen, wo Felix Klein einen Kurs speziell für Studentinnen eingerichtet hat. 1895 wird sie mit einer Arbeit zum Thema »Algebraisch-gruppentheoretische Untersuchungen zur sphärischen Trigonometrie« promoviert.
Klein stellt im ersten Band seiner »Elementarmathematik vom Höheren Standpunkte aus« die Ergebnisse der chisholmschen Untersuchungen vor:
Betrachten wir ein gewöhnliches Elementardreieck … und legen die Richtungen der drei Seiten so fest, dass a, b, c < π werden, dann werden … die Winkel α, β, γ … die Außenwinkel des Dreiecks …
Es ist nun klar, dass von den so definierten sechs Bestimmungsstücken des sphärischen Dreiecks nur drei unabhängig voneinander kontinuierlich variabel sein können … Die Formeln der sphärischen Trigonometrie stellen eine Anzahl von … algebraischen Relationen zwischen ihren zwölf Cosinus und Sinus dar, durch die nur drei dieser zwölf Größen willkürlich variabel gelassen werden können, während die anderen neun algebraisch von ihnen abhängen. … Wir deuten die Größen x1 = cos(a), x2 = cos(b), x3 = cos(c), x4 = cos(α), x5 = cos(β), x6 = cos(γ), y1 = sin(a), y2 = sin(b), y3 = sin(c), y4 = sin(α), y5 = sin(β), y6 = sin(γ) als Koordinaten eines zwölfdimensionalen Raums R12, die Gesamtheit aller derjenigen seiner Punkte, die wirklich möglichen sphärischen Dreiecken entsprechen, stellt eine dreidimensionale algebraische Mannigfaltigkeit M3 dieses R12 dar.
Grace Chisholm wählt in ihrer Dissertation einen etwas anderen Ansatz (Darstellung mit Hilfe der Kotangens der halben Winkel); es gelingt ihr unter anderem nachzuweisen, dass alle sphärischen Dreiecke als Schnitt von je drei Flächen zweiten Grades (mit zu Grunde liegenden quadratischen Gleichungen) in einem sechsdimensionalen Unterraum dargestellt werden können.
Grace Chisholm ist die zweite Frau in der Geschichte der Mathematik in Deutschland, die einen Doktortitel erwirbt. Im Unterschied zu Sofia Kowalewskaja, die 1874 in absentia promoviert wurde, muss sie sich einem Prüfungskolloquium mit mehreren Professoren aus verschiedenen Fachgebieten stellen.
Familiengründung
Gerne hätte Grace Chisholm ihre Forschungstätigkeit in Göttingen fortgesetzt. Da aber ihr Vater mittlerweile 86 Jahre alt ist und der Hilfe bedarf, kehrt sie nach Hause zurück, um sich um ihn zu kümmern.
In der Heimat trifft sie auch ihren ehemaligen Mathematiklehrer William Young wieder, dem sie zuvor – voller Stolz über das Erreichte – eine Kopie der Dissertation hat zukommen lassen. Seinen Heiratsantrag lehnt sie zunächst ab; doch er gibt nicht auf – schließlich willigt sie in die Ehe mit dem viereinhalb Jahre älteren William ein.
William Young ist ein hervorragender Mathematiker, dem es jedoch niemals gelingt, eine dauerhafte Anstellung zu finden; immer wieder wechselt er sein Tätigkeitsfeld.
Während eines Italienaufenthalts wird 1897 der erste Sohn Frank geboren (Spitzname Bimbo als Kurzform von Bambino). Von 1899 an lebt das Paar neun Jahre lang in Göttingen, wo es mit Felix Klein zusammenarbeitet und sich schwerpunktmäßig mit Themen aus der Mengenlehre beschäftigt. In dieser Zeit werden weitere fünf Kinder geboren, deren Erziehung und Hausunterricht – nicht nur wegen der häufigen Abwesenheit des Vaters – vor allem von Grace übernommen werden. Gemeinsam verfassen Grace und William Young ein Mathematikbuch für Kinder (»A First Book of Geometry«), in dem es insbesondere um geometrische Einsichten durch Papierfalten geht.
Grace schreibt zwei Bücher, durch die Kinder angeregt werden sollen, sich mit naturwissenschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen (»Bimbo« sowie »Bimbo and the frogs«).
Von 1908 an lebt die Familie in Genf, von 1915 an dann in Lausanne, wo die beiden insgesamt 220 Artikel über mathematische Themen sowie zwei Fachbücher verfassen. Ein Buch über Mengenlehre (»The Theory of Sets of Points«, 1906) findet die besondere Anerkennung Georg Cantors.
Auch wenn die meisten Beiträge in Zusammenarbeit der beiden entstehen und viele nicht ohne ihre Mitwirkung entstanden wären, hat ihr Mann mit der Angabe einer gemeinsamen Autorenschaft ein Problem: Wenn ihre beiden Namen genannt würden, so argumentiert er, habe keiner von ihnen etwas. Er brauche die Lorbeeren jetzt und sie nicht, später könne man das ja ändern: »Aktuell kannst du keine Karriere machen – du hast deine Kinder.«
William Young pendelt zwischen dem gewählten Wohnort der Familie und verschiedenen Universitäten, wo er befristete Lehraufträge wahrnimmt: Wales, London, Kalkutta, Liverpool; er hält Vorträge an Universitäten in allen Erdteilen. Er wird als Mitglied in die Royal Society aufgenommen, ist zwei Jahre lang Präsident der London Mathematical Society, sieben Jahre lang der International Mathematical Union (IMU); für seine Publikationen wird er durch die Sylvester Medal und die De Morgan Medal geehrt.
Tragisches Ende
Währenddessen kümmert sich Grace um die Bildung ihrer sechs Kinder – beispielsweise lernt jedes von ihnen ein anderes Musikinstrument. Und nicht genug, dass sie inzwischen sechs Fremdsprachen spricht: Erst in Göttingen, dann weiter in Genf, absolviert sie ein Medizinstudium, verzichtet aber am Ende auf einen formalen Abschluss. Gleichzeitig setzt sie ihre mathematische Forschungsarbeit fort. 1916 veröffentlicht sie – nur unter ihrem Namen – einen Beitrag über die Grundlagen der Differenzial- und Integralrechnung, für den sie durch einen Preis des Girton College geehrt wird.
Der Tod ihres Sohns Frank, der im Ersten Weltkrieg als Flieger in britischen Diensten umkommt, wirft Grace aus der Bahn. Ihre gesundheitliche Verfassung verschlechtert sich zusehends. Mitte der 1920er Jahre enden ihre mathematischen Aktivitäten.
Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, sind gerade zwei ihrer Enkelkinder zu Besuch in ihrem Schweizer Domizil. Grace bringt sie zurück zu deren Eltern nach England, kann aber dann selbst nicht wieder in die Schweiz zurückkehren, da die deutschen Truppen den Frankreich-Feldzug begonnen haben. So verbringen Grace und William ihre letzten Lebensjahre getrennt voneinander, ohne sich noch einmal wiederzusehen – er stirbt einsam zwei Jahre danach; sie lebt noch bis 1944 bei einer ihrer Töchter.
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