Der Mathematische Monatskalender: Hilda Geiringer kämpfte ein Leben lang um Anerkennung
Zusammen mit ihren drei Brüdern wuchs Hilda Geiringer in Wien auf. Ihr Vater, ein jüdischer Textilfabrikant, hatte die Mittel, allen vier Kindern den Besuch einer höheren Schule und der Universität zu finanzieren. Bereits im Gymnasium des Vereins für erweiterte Frauenbildung zeigte sich Hildas besondere mathematische Begabung.
Nach der Matura studierte sie Mathematik an der Universität in Wien und promovierte 1917 bei Wilhelm Wirtinger über Trigonometrische Doppelreihen (Fourier-Reihen mit zwei Variablen). Durch Vermittlung von Wirtinger fand sie danach eine Stelle in Berlin als Assistentin von Leon Lichtenstein, dem Herausgeber des »Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik« sowie der »Mathematischen Zeitschrift«, die der Springer-Verlag 1918 in Konkurrenz zu den »Mathematischen Annalen« des Teubner Verlags gegründet hatte.
1921 wurde Hilda Geiringer als Assistentin von Richard Edler von Mises am Institut für Angewandte Mathematik angestellt; ihre Aufgabe war es, die Übungen zu dessen Vorlesungen zu gestalten und zu betreuen. Im selben Jahr heiratete sie Felix Pollaczek, der wie sie aus einer jüdischen Familie aus Wien stammte. Ihr Ehemann hatte sein Mathematikstudium in Berlin absolviert; nach seiner Promotion im Jahr 1922 übernahm er eine Stelle bei der Reichspost – sein Aufgabenbereich: Optimierung von Telefonverbindungen mit Hilfe mathematischer Methoden.
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Hilda Geiringers Ehe scheiterte, möglicherweise, weil sie sich mehr zu von Mises hingezogen fühlte, der allerdings ihre Gefühle nicht teilte. Mit ihrer neugeborenen Tochter zog sie vorübergehend in ihr Elternhaus nach Wien, kehrte dann aber auf ihre Arbeitsstelle in Berlin zurück – mit all den Problemen, die eine allein erziehende Mutter hatte.
Ihr Verhältnis zu von Mises war nicht unproblematisch, auch weil dieser sich nicht sicher war, ob sie überhaupt Interesse an einer Arbeit in der angewandten Mathematik hatte – und er ließ sie dies spüren. Denn während ihres Studiums und der Promotionszeit hatte sich Hilda Geiringer nur mit Themen aus der reinen Mathematik beschäftigt; jetzt musste sie sich hingegen in Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik sowie in Plastizitätslehre (irreversible Verformungen von Materie) einarbeiten, die zur angewandten Mathematik zählen. Dies scheint ihr jedoch zunehmend gelungen zu sein, denn 1925 legte sie der Fakultät eine Arbeit mit dem Titel »Über starre Gliederungen von Fachwerken« vor, mit der sie ihre Habilitation zu erreichen hoffte.
Ein schwer wiegender fachlicher Fehler
Mit der Begutachtung wurden von Mises und Ludwig Bieberbach beauftragt. Bieberbach (in der NS-Zeit einer der radikalsten Antisemiten im Hochschulbereich) war seit 1921 Nachfolger von Constantin Carathéodory an der Universität Berlin. 1910 hatte er durch seine Lösung von Hilberts 18. Problem Aufsehen erregt. Bieberbach stand der angewandten Mathematik äußerst skeptisch gegenüber und fühlte sich in seiner Einschätzung durch Hilda Geiringers Arbeit bestätigt. In dieser war nämlich ein schwer wiegender Fehler enthalten, der nicht korrigiert werden konnte.
Sie musste daher ein anderes Thema wählen und unter großem Zeitdruck eine neue Arbeit anfertigen. Im folgenden Jahr legte sie die Schrift »Die Charliersche Entwicklung willkürlicher Verteilungen« vor, ein Thema aus der Wahrscheinlichkeitstheorie. Bieberbach fand auch hier einen Fehler, der sich dieses Mal jedoch leicht beheben ließ. Er stimmte allerdings ihrer Habilitation nur zu, wenn die Arbeit nicht allgemein dem Fach Mathematik, sondern nur der angewandten Mathematik zugeordnet würde.
Endlich wurde Hilda Geiringer im November 1927 als zweiter Frau (nach Emmy Noether) die Venia Legendi (Lehrberechtigung) erteilt. Als Privatdozentin hielt sie gut besuchte Vorlesungen über Wahrscheinlichkeitstheorie und Plastizitätslehre und nahm an internationalen Tagungen teil. Darüber hinaus arbeitete sie in der Redaktion der von von Mises gegründeten »Zeitschrift für Angewandte Mathematik und Mechanik« (ZAMM).
1930 entdeckte Geiringer die nach ihr benannten Differenzialgleichungen, durch die sich die plastische Verformung von Metallen beschreiben lässt. Als einzige Frau war sie Mitglied des Wissenschaftlichen Prüfungsamtes für Mathematiklehrer. Anfang 1933 wurde sie von ihrer Fakultät für eine außerordentliche Professur vorgeschlagen. Dem schien nichts entgegenzustehen, bis am 7. April das antijüdische Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums durch die NS-Regierung in Kraft trat. Nach ihrer Entlassung aus dem Staatsdienst ging sie mit ihrer Tochter zunächst nach Brüssel, wo sie vorübergehend am Institut für Mechanik arbeiten konnte.
Flucht nach Istanbul
Als Ende 1933 von Mises das Angebot der Universität Istanbul erhielt, dort einen Lehrstuhl für reine und angewandte Mathematik zu übernehmen, sorgte er dafür, dass auch Hilda Geiringer als Dozentin angestellt wurde.
Im Rahmen der Reformen des türkischen Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk war in Istanbul die bisherige (einzige) Universität der Türkei Darülfünun (wörtlich: Haus der Wissenschaften) am 31. Juli 1933 aufgelöst und durch die Neugründung der Universität Istanbul ersetzt worden. Während die bisherige Hochschule autonom war, konnte die Regierung nunmehr unmittelbar in deren Verwaltung eingreifen und auch die politische Ausrichtung der Lehre beeinflussen. Zwei Drittel der bisherigen Universitätsangehörigen wurden entlassen und überwiegend durch deutsche Emigranten ersetzt.
Zu den neu berufenen Mathematikern der Istanbuler Universität gehörte neben von Mises der jüdischstämmige Willy Prager, zuvor Direktor des Instituts für Angewandte Mathematik der Universität Göttingen und Ordinarius am Lehrstuhl für Technische Mechanik in Karlsruhe. Geiringer übernahm die Anfängervorlesungen, zunächst in französischer, nach drei Jahren in türkischer Sprache; ihre Vorlesung zur Analysis veröffentlichte sie in Buchform auf Türkisch. Außerdem setzte sie ihre Forschung zur Plastizitätstheorie und zur Anwendung der Statistik in der mendelschen Genetik fort und verfasste hierzu mehrere Beiträge.
Nach dem Tod Atatürks im Jahr 1938 fühlten sich die deutschen Exilanten in der Türkei nicht mehr sicher; viele der Stellen, die bisher von ausländischen Wissenschaftlern besetzt waren, wurden abgebaut, unter anderem wurde Geiringers Vertrag nicht verlängert und sie musste das Land verlassen. Verärgert kündigte daraufhin von Mises seinen Vertrag und nahm ein ihm vorliegendes Angebot einer Professur in Harvard an.
Allein erziehend und staatenlos
Aus Sorge, dass Geiringer keine Möglichkeit finden könnte, ebenfalls in die USA auszuwandern, dachten beide über eine Heirat pro forma nach. In Lissabon wartete die mittlerweile staatenlose Mutter mit ihrer Tochter auf ein Visum für die Einreise in die Vereinigten Staaten, bis endlich das Angebot einer befristeten, allerdings unbezahlten Stelle als Dozentin am Bryn Mawr College für junge Frauen eintraf, an der auch zuvor Emmy Noether eine Stelle gefunden hatte. 1942 übernahm Geiringer Vorlesungen zur Geometrie der Mechanik an der Brown University in Providence (Rhode Island), wo in der Zwischenzeit Willy Prager eine feste Stelle als Professor gefunden hatte.
1943 heirateten Richard von Mises und Hilda Geiringer schließlich. Alle Bemühungen, für die hoch qualifizierte Wissenschaftlerin eine angemessene Stelle an einer Universität zu finden, erwiesen sich als aussichtslos. In einem Brief an Hermann Weyl, der sich ebenfalls für sie einsetzte, stellte sie resigniert fest, dass die Zeit wohl noch nicht reif sei für Frauen im Hochschulbereich. Selbst an den Colleges gab es nur wenige Stellen für Frauen. Geiringer musste sich mit einer – diesmal unbefristeten – Stelle am 45 Meilen von Harvard entfernten Wheaton College in Massachusetts zufriedengeben. Enttäuscht stellte sie dort fest, dass die Fachschaft nur aus ihr und einer weiteren Person bestand. Da sie weiterhin wissenschaftlich arbeiten wollte, fehlte ihr die Möglichkeit zum direkten Austausch mit anderen Mathematikern. So konnte sie wenigstens am Wochenende mit ihrem Mann über ihre aktuellen Forschungsprojekte sprechen, die sie unbeeindruckt von der herrschenden Geschlechterdiskriminierung fortsetzte.
Nach dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 1953 übernahm Geiringer neben ihrer Lehrtätigkeit am Wheaton College (bis 1959) die Ordnung des wissenschaftlichen Nachlasses ihres Ehemanns, den sie dem Archiv der Harvard University übergab. Vor seinem Tod hatte von Mises vergeblich versucht, von den deutschen Behörden ein ihm zustehendes Ruhegehalt und eine Entschädigung zu erhalten. Umso überraschender war dann im Jahr 1956 die Ernennung von Geiringer zum außerordentlichen Professor emeritus bei vollem Ruhestandsgehalt seitens der Freien Universität in (West-)Berlin – ein später Versuch der Wiedergutmachung.
Ironie der Geschichte: Wegen fehlender Unterlagen hatte die Berliner Universität auch Ludwig Bieberbach als Zeugen befragt – er bestätigte die unrechtmäßige Entlassung Hilda Geiringers.
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