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Der Mathematische Monatskalender: Der genügsame Mathematiker Jacopo Riccati

Ihm wurden Ämter und Lehrstühle mit viel Prestige und hoher Bezahlung angeboten. Doch Riccati zog ein ruhiges Leben mit seiner großen Familie vor.
Eine Vielzahl bunter Zahlen in Blau, Rot und Gelb ist spiralförmig auf einem weißen Hintergrund angeordnet. Die Zahlen scheinen sich in die Mitte des Bildes zu drehen und erzeugen einen hypnotischen Effekt. Die Anordnung der Zahlen wirkt zufällig, aber die spiralförmige Struktur verleiht dem Bild eine geordnete Dynamik.
Anfangs folgte Riccati der Familientradition und studierte Jura - doch dann entdeckte er seine Leidenschaft für Mathematik.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie  hier.

Jacopo Francesco Riccati wurde als Sohn des Grafen Montino Riccati in der Republik Venedig geboren; seine Mutter Giustina entstammte dem alten römischen Adelsgeschlecht der Colonna. Als Jacopo zehn Jahre alt war, starb sein Vater.

Einer der Brüder des Vaters sorgte dann dafür, dass der offenbar begabte Junge eine angemessene Schulbildung erhielt: Während der nächsten sechs Jahre besuchte Jacopo – wie viele andere Kinder aus Adelshäusern – das zirka 180 Kilometer von Venedig entfernte Jesuitenkolleg in Brescia. Riccati scheint das Kolleg auch später noch in guter Erinnerung gehabt zu haben, denn er schickte seine eigenen Söhne ebenfalls dorthin.

1693 nahm Jacopo Riccati gemäß der Familientradition ein Jurastudium an der Universität Padua auf; er interessierte sich aber auch für andere Fächer. Insbesondere faszinierten ihn die Fortschritte in der Astronomie; daher besuchte er die Vorlesungen von Stephano di Angeli. Dieser gehörte zu den engagiertesten Verteidigern der Indivisiblen-Lehre seines Lehrers Bonaventura Cavalieri (1598-1647); in den 1660er Jahren war auch James Gregory einer von di Angelis Studenten.

Als 1687 Isaac Newtons Schrift »Philosophiae Naturalis Principia Mathematica« erschien, wurde di Angeli bewusst, dass mit der Entwicklung der Infinitesimalrechnung eine neue Epoche der Mathematik angebrochen war. Er schenkte sein Exemplar der »Principia« dem jungen Riccati, mit dem er sich angefreundet hatte.

Eine Briefmarke mit einem Porträt von Jacopo Riccati, einem Mathematiker aus dem 17. Jahrhundert. Oben steht »Jacopo Riccati (1676–1754)« und unten »Mathematica«. Die Briefmarke hat einen gezackten Rand.
Jacopo Riccati

Im Juni 1696 schloss Jacopo Riccati sein Jurastudium ab; wenige Monate danach heiratete er die Adelige Elisabetta di Conti d'Onigo. In der glücklichen Ehe wurden 18 Kinder geboren – nur die Hälfte von ihnen erreichte das Erwachsenenalter. Zwei seiner Söhne machten Karriere als Wissenschaftler: Vincenzo und Giordano.

Jacopo Riccati lebte mit seiner Familie auf den geerbten Ländereien in Castelfranco Veneto (zirka 35 Kilometer nördlich von Padua). Zeitweise übernahm er das Amt des Bürgermeisters der Gemeinde; mehrfach wurde er vom Senat der Republik Venedig um Rat für den Bau von Kanälen und Deichen gebeten.

Das Interesse an der Naturwissenschaft ist geweckt

Seine freie Zeit widmete Jacopo Riccati dem Studium von aktuellen Veröffentlichungen verschiedener Wissenschaften; regelmäßig las er die »Commentari dell'Accademia delle Scienze di Bologna«, die in Leipzig erscheinende Zeitschrift »Acta Eruditorum«, die Schriften der Russischen Akademie der Wissenschaften aus Sankt Petersburg sowie das »Giornale de' Letterati d'Italia«. 1712 veröffentlichte das »Giornale«, in dem auch einige Beiträge Riccatis zu philosophischen und literarischen Themen abgedruckt worden waren, ein mathematisches Problem als Herausforderung an die Leser:

Gesucht ist die Gleichung einer Kurve, deren Krümmungsradius jeweils nur von den Koordinaten der einzelnen Punkte abhängt.

Riccati konnte zeigen, dass die Fragestellung auf eine spezielle Differenzialgleichung zweiter Ordnung führt, für die er ein Lösungsverfahren angab.

Nun war Riccati ein gefragter Mann: Der russische Zar Peter der Große bot ihm das Amt als Präsident der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg an, die Universität von Padua einen Lehrstuhl für Mathematik; auch der Hof der Habsburger versuchte, ihn als kaiserlicher Berater nach Wien zu locken.

Riccati lehnte alle diese Angebote ab – er wünschte keine Änderungen in seinem bisherigen ruhigen Leben mit seiner großen Familie. Auch mit Geld konnte man ihn nicht locken – sein Vermögen genügte ihm für seine vergleichsweise bescheidenen Ansprüche. Er reiste wenig, nur einmal fuhr er zur Kur nach Val di Sole, wo er Nicolaus Bernoulli traf, mit dem er sich intensiv über das Lösen von Differenzialgleichungen austauschte.

Mit Differenzialgleichungen hatte sich Riccati seit dem Jahr 1707 beschäftigt, als der in Bologna lehrende Mathematiker Gabriele Manfredi das erste Buch zu diesem neuen Teilgebiet der Mathematik veröffentlicht hatte (»De constructione aequationum differentialium primi gradus«).

Eine Gleichung für eine Funktion mit einer Variablen, in der auch Ableitungen dieser Funktion vorkommen, bezeichnet man als gewöhnliche Differenzialgleichung (kurz: DGL) – im Unterschied zu einer partiellen DGL, bei der mehrere Funktionsvariablen und partielle Ableitungen auftreten können.

Die Ordnung einer Differenzialgleichung wird durch die Ordnung der höchsten auftretenden Ableitung bestimmt. Das Lösen einer DGL bedeutet, geeignete Funktionsterme zu finden, die diese Gleichung erfüllen. Im Allgemeinen erhält man als Lösung eine Schar von Funktionen; durch die Angabe einer so genannten Anfangsbedingung lässt sich deren Anzahl reduzieren.

Eine erste DGL stellte Isaac Newton im Jahr 1671 auf: \(y' = 1-3x+y+x^2+xy \) (in heutiger Schreibweise) mit der Anfangsbedingung \(y(0)=0.\) Er löste sie mit Hilfe einer Reihenentwicklung \(y(x) = a_0 + a_1 x+ a_2 x^2+...\) und durch Koeffizientenvergleich.

Gottfried Wilhelm Leibniz beschrieb 1693 den Vorgang, eine Taschenuhr an einer Kette über eine Tischplatte zu ziehen (so genannte Schleppkurve) mit Hilfe der DGL \(y' = \frac{dy}{dx} = – \frac{\sqrt{a^2-x^2}}{x}.\) Diese DGL ist vom einfachen Typ \(y' = f(x);\) sie hat die Lösung \(y = a \cdot \text{ln}\left( \frac{a+ \sqrt{a^2-x^2}}{x}\right) -\sqrt{a^2-x^2} + C;\) wobei \(y(a) = C = 0.\)

Leibniz betrachtete dazu die Integrale der beiden Seiten der Gleichung \(dy = – \frac{\sqrt{a^2 – x^2}}{x} dx,\) also \(\int dy\) und \(- \int \frac{\sqrt{a^2 – x^2}}{x} dx .\)

Das getrennte Integrieren ist hier möglich, weil die Variablen auf verschiedenen Seiten des Gleichheitszeichens stehen; ansonsten muss man versuchen, eine Trennung der Variablen (separatio inderminatarum, Bezeichnung von Jakob Bernoulli) zu erreichen.

In den 1690er Jahren waren es vor allem die Brüder Jakob und Johann Bernoulli, die verschiedene Methoden zur Lösung von DGLen entwickelten, unter anderem die Veranschaulichung durch so genannte Richtungsfelder. Die nach den beiden Brüdern benannten Bernoulli-Gleichungen haben allgemein die Form \(y' + P(x\cdot y = Q(x) \cdot y^n. \)

Um eine solche DGL zu lösen, kann man im Fall \(n=0\) den trickreichen Ansatz \(y=u\cdot v\) machen, also \(y' = u'v – uv',\) im Fall \(n=1\) gelingt die Trennung der Variablen unmittelbar, im Fall \(n>1\) kommt man mit der Substitution \(u = y{1-n}\) weiter.

DGLen der Form \(y' = P_0(x) + P_1(x)\cdot y + P_2 (x) \cdot y^2 \) werden heute als Riccati-DGLen bezeichnet. Der Name stammt von Daniel Bernoulli (dem erst 24-jährigen Sohn Johann Bernoullis), der 1724 – ausgehend von der im Folgenden genannten Schrift Riccatis – ein allgemeines Lösungsverfahren für DGLen dieses Typs angeben konnte.

Riccati, der nie eine Professur anstrebte, verfasste Anfang der 1720er Jahre eine 154 Seiten umfassende Schrift zur Methode der Trennung der Variablen bei DGLen erster und zweiter Ordnung sowie der Reduktion von DGLen höherer Ordnung (»Delia separazione delle indeterminate nelle equazioni differenziali di prima e di secondo grado, e della riduzione delle equazioni differenziali del secondo grado e d'altri gradi ulteriori«), die nach und nach veröffentlicht wurde. Er verwendete sie, um begabte Studenten zu fördern, so unter anderem Ramiro Rampinelli (1697-1759, später Mathematikprofessor in Rom und Bologna), dem er privaten Unterricht erteilte, sowie zu Maria Gaëtana Agnesi (1718-1799), die sich im Vorwort ihres Buchs »Instituzioni analitiche ad Uso della Gioventù Italiana« (Lehrbuch der Analysis für die italienische Jugend) herzlich für Riccatis großzügige Unterstützung bedankte.

Die Söhne treiben die Forschung weiter

Nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1749 zog Riccati in ein Haus im 25 Kilometer entfernten Treviso um, das sich ebenfalls im Besitz der Familie befand. Dort starb er im Alter von fast 78 Jahren, nachdem ihn – wie es heißt – eine fiebrige Erkrankung erfasst hatte. Er wurde in einer der Familie gehörenden Seitenkapelle des Doms von Treviso begraben. Einige Jahre nach seinem Tod veröffentlichten die Söhne Vincenzo und Giordano seine Werke in vier Bänden.

Vincenzo, der zweite Sohn Jacopo Riccatis, war im Alter von 19 Jahren dem Jesuitenorden beigetreten. Nach Abschluss seines Studiums lehrte er über 30 Jahre lang Mathematik und Physik am Jesuitenkolleg in Bologna. Er setzte die Arbeit seines Vaters zum Thema DGLen fort; darüber hinaus beschäftigte er sich mit physikalischen Fragestellungen, die mit Kräfteparallelogrammen und dem Prinzip der Energieerhaltung zusammenhängen.

Unabhängig von Johann Heinrich Lambert führte er die hypergeometrischen Funktionen sinh, cosh und tanh ein.

Vincenzo Riccati gehörte zu den ersten Mitgliedern der 1782 gegründeten Accademia Nazionale delle Scienze; er war auch Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Der Forschungsschwerpunkt von Giordano, dem fünften Sohn Jacopo Riccatis, lag eher im Bereich der Musik und der Technik; unter anderem beschäftigte er sich – 25 Jahre vor dem Physiker Thomas Young – mit der Elastizität von Metallen.

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