Der Mathematische Monatskalender: Jean Le Rond d'Alembert (1717–1783): Als Kind ausgesetzt
Wenige Tage nach der Geburt ihres illegitimen Kindes setzt die Marquise de Tencin den Säugling auf den Stufen der Kirche Saint-Jean-Le-Rond in Paris aus. Das Findelkind wird – wie es Brauch ist – auf den Namen des Schutzpatrons der Kirche getauft und in einem Waisenhaus untergebracht. Der Vater des Kindes, Louis-Camus Destouches, ein Offizier, erfährt von all dem erst nach seiner Rückkehr aus dem Ausland; er sorgt dafür, dass das Kind in eine Pflegefamilie kommt. Mme Rousseau, die Frau eines Glasers, kümmert sich um den Jungen wie eine Mutter; der Adoptierte bleibt bis zu seinem 48. Lebensjahr in ihrem Hause wohnen. Der leibliche Vater stellt soviel Geld zur Verfügung, dass auch nach seinem Tod eine schulische Bildung für den Heranwachsenden möglich ist. Als Jean in ein Collège der Jansenisten eintritt, nimmt er den Namen Jean-Baptiste Daremberg an, was er wenig später in Jean d'Alembert abändert.
Die Jansenisten, zu deren führenden Persönlichkeiten auch Blaise Pascal (1623–1662) gehörte, vertreten eine strenge Lehre von der Gnade Gottes, die keinen Raum für einen freien Willen des Menschen lässt. Die Auseinandersetzung um diese Lehre führt 1713 fast zu einer Spaltung der katholischen Kirche in Frankreich.
Im Streit mit den Jesuiten versuchen sie daher, an ihren Schulen möglichst viele junge Theologen heranzuziehen, die mit dazu beitragen können, den Konfessionsstreit zu ihren Gunsten zu entscheiden. Jean d'Alembert gehört nicht zu diesen; vielmehr nutzt er die umfangreiche Bibliothek der Schule, um sich selbstständig mit Mathematik zu beschäftigen. Mit 17 Jahren beginnt er ein Jurastudium an der Universität, absolviert drei Jahre später eine Prüfung, die ihn zum Anwalt qualifiziert, schließt dann aber noch ein Medizinstudium an, bis er schließlich zur Meinung kommt, dass dieses Studium ihm noch weniger gefällt als das der Theologie.
Seine Karriere als Mathematiker beginnt d'Alembert im Jahr 1739 damit, dass er der Akademie der Wissenschaften in Paris eine Liste mit Fehlern vorlegt, die er in einem mathematischen Standardwerk entdeckt hat. Im Jahr darauf folgt eine viel beachtete Abhandlung zur Mechanik der Flüssigkeiten. Bereits 1741 wird d'Alembert als Mitglied in die Pariser Akademie aufgenommen.
1743 erscheint sein bedeutendstes Werk, »Traité de dynamique« (Abhandlungen über Dynamik), in dem er die Mechanik Isaac Newtons weiterentwickelt. Mithilfe des sogenannten d'Alembertschen Prinzips können auch Probleme in sich bewegenden Systemen gelöst werden: Eine beschleunigende Kraft \(F\), die auf einen Körper einwirkt, löst eine gleich große, entgegengesetzt wirkende »Trägheitskraft« \(F*\) aus (sogenannte d'Alembert-Kraft). Für d'Alembert ist die Mechanik ein Teilgebiet der Mathematik; im Unterschied zu Newton hält er Experimente zur Lösung physikalischer Probleme für überflüssig, was sich auch im Beitrag »Réflexions sur la cause générale des vents« zeigt. Für diese Abhandlung erhält er 1744 einen Preis der Preußischen Akademie der Wissenschaften. D'Alembert gibt zwar als alleinigen Grund für das Entstehen der Winde die Gezeiten an; er ist jedoch der Erste, der physikalische Vorgänge mithilfe von partiellen Differentialgleichungen beschreibt (das sind Gleichungen mit mehreren Variablen, in denen auch Ableitungen der Variablen auftreten). 1747 erscheint ein Artikel über schwingende Saiten, deren Bewegung er ebenfalls durch eine Differentialgleichung charakterisiert. Auch dieser Beitrag ist aus mathematischer Sicht originell und genial.
Euler erkennt die Möglichkeiten, die sich aus den Ideen und Ansätzen ergeben, und entwickelt die Methoden und die Theorien weiter; er kritisiert jedoch den Beitrag wegen unklarer Formulierungen. D'Alembert, der bis dahin mit Euler freundschaftlich verbunden ist, gerät auch mit ihm in Streit; er unterstellt ihm sogar – wie anderen Zeitgenossen bereits vorher – seine Ideen gestohlen zu haben. D'Alembert verwickelt sich schnell und heftig in Diskussionen und hat große Schwierigkeiten, eigene Irrtümer einzuräumen. Wegen wiederholter Auseinandersetzungen mit Mitgliedern der französischen Akademie beschließt er, die Beiträge nicht mehr in Paris, sondern in Berlin einzureichen. Dort ist jedoch Euler als »Direktor der mathematischen Klasse« für die Annahme der Beiträge zuständig ...
Der Streit spitzt sich zu, als Friedrich der Große ihm anbietet, die Nachfolge von Pierre Louis Moreau de Maupertuis als Präsident der Preußischen Akademie zu übernehmen, womit Euler nicht einverstanden ist. D'Alembert veröffentlicht keine mathematischen Beiträge mehr, vielmehr sammelt er sie und gibt sie später in acht Bänden als »Opuscules mathématiques« (»Kleine mathematische Bücher«) heraus. Dort findet man herausragende Abhandlungen unter anderem über komplexwertige Funktionen, Ansätze zur Präzision des Grenzwertbegriffs, das Quotientenkriterium für unendliche Reihen (von Cauchy später weiterentwickelt).
Im Zusammenhang mit der Integration von gebrochen-rationalen Funktionen (»Recherches sur le calcul intégral«) entdeckt er die Methode der Partialbruchzerlegung. Er erkennt, dass sich jedes Polynom gerader Ordnung in quadratische Faktoren mit reellen Koeffizienten zerlegen lässt, wobei komplexe Nullstellen stets als konjugiert komplexe Paare auftreten. Noch heute wird der »Fundamentalsatz der Algebra« (ein Polynom \(n\)-ten Grades hat in der Menge der komplexen Zahlen genau \(n\) Nullstellen) in Frankreich als »Le Théorème de D'Alembert« bezeichnet, obwohl der Beweis erst 1799 Carl Friedrich Gauß gelingt.
D'Alembert beschäftigt sich auch mit Problemen der Wahrscheinlichkeitsrechnung; dabei unterlaufen ihm zahlreiche Irrtümer. Beispielsweise beharrt er auf der Meinung, dass die Wahrscheinlichkeit für (mindestens einmal) Wappen beim zweifachen Münzwurf gleich zwei Drittel ist, da es drei unterscheidbare Ereignisse gibt: W, ZW, ZZ (wenn beim ersten Wurf Wappen fällt, kann man aufhören; wenn Zahl beim ersten Wurf fällt, dann folgt beim zweiten Wurf Wappen beziehungsweise Zahl).
Auch ist er überzeugt, dass die Wahrscheinlichkeit für Wappen zunimmt, je öfter hintereinander Zahl fällt. Auch ist er fälschlicherweise überzeugt, dass es funktionierende Gewinnstrategien beim Roulette-Spiel gibt; gemäß seiner Strategie der »progression« sollte der Spieler den Einsatz für einfache Chancen immer um eine Münze erhöhen, solange er verliert, und um eine Münze erniedrigen, wenn er gewinnt (bis er einen Gewinn erzielt hat).
D'Alembert gehört Ende der 1740er Jahre zu den angesehensten Persönlichkeiten in der Wissenschaftswelt. So wundert es nicht, dass der Buchhändler André Le Breton ihn und Denis Diderot damit beauftragt, eine Encyclopédie (»Enzyklopädie oder nach Vernunftgründen geordnetes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe«) zu erstellen. Im Zeitraum von 1751 bis 1772 erscheinen 28 Bände dieses »Manifestes der Aufklärung«, unter anderem auch mit Beiträgen von Voltaire, Montesquieu und Rousseau.
D'Alembert verfasst das programmatische Vorwort (»Discours préliminaire«) des ersten Bandes sowie weit über 1500 Artikel zu mathematischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Themen. Verschiedene Artikel geben der Zensur immer wieder Anlass einzugreifen. Jesuiten und Janseniten verbünden sich und bewirken, dass das Werk auf den kirchlichen Index gesetzt wird. Auf Druck der Kirche und des Parlaments wird die königliche Druckgenehmigung zurückgenommen, jedoch nichts gegen den Verkauf unternommen, als D'Alembert droht, das Angebot Friedrich des Großen anzunehmen, die Enzyklopädie in Preußen erscheinen zu lassen. Der kalvinistische Klerus der Stadt Genf fühlt sich durch D'Alemberts Artikel über »Genève« beleidigt; der Auseinandersetzungen müde, zieht er sich 1757 von der Herausgabe zurück.
Wegen seiner großen Verdienste um das Entstehen der Enzyklopädie, auch um die französische Sprache, wird D'Alembert 1754 in die Académie française aufgenommen, 1772 sogar zum ständigen »Sekretär« gewählt, der einflussreichsten Position der Akademie. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigt er sich stärker mit philosophischen Fragen. Auch wenn er sich dem Argument nicht verschließen kann, dass die menschliche Intelligenz nicht aus »Materie« allein entstanden sein kann, glaubt er nicht an die Existenz Gottes. Er veranlasst, dass er – als bekennender »Ungläubiger« – in einem anonymen Grab beerdigt wird.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.