Der Mathematische Monatskalender: Keine Statistik ohne Jerzy Neyman
Jerzy Neymans Vorfahren stammten aus Polen, das seit dem Wiener Kongress vom russischen Zaren in Personalunion regiert wurde (Kongresspolen). 1863 kam es zu einem von vornherein aussichtslosen Aufstand polnischer Adliger, an dem beide Großväter Jerzy Neymans beteiligt waren; sie wurden nach Mittelasien beziehungsweise nach Sibirien deportiert.
Jahre später kehrten sie in die Umgebung von Kiew zurück und gründeten ihre Familien; dort lernten sich Jerzys Eltern kennen und heirateten. Jerzys Vater Czesław Spława-Neyman war als Anwalt und Richter tätig; aus beruflichen Gründen musste die Familie oft umziehen.
Jerzy selbst wurde in Bender (heute Transnistrien, Republik Moldau) geboren, verlebte die ersten Lebensjahre in Cherson (heute Ukraine), dann weiter in Melitopol und Simferopol auf der Halbinsel Krim. Bis zum Alter von zehn Jahren wurde er durch Privatlehrer unterrichtet; danach besuchte er das örtliche Gymnasium. In der katholischen Familie wurde Polnisch gesprochen, Jerzy beherrschte aber gleichermaßen auch Ukrainisch und Russisch, in der Schule kamen Französisch und Deutsch als Fremdsprachen hinzu.
Nach dem plötzlichen Tod des Vaters zog die Mutter Kazimiera zu Verwandten nach Charkiw (heute Ukraine), wo Jerzy seine Schulzeit mit hervorragenden Noten beendete.
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Im Herbst 1912 nahm Jerzy Spława-Neyman ein Studium der Mathematik und Physik an der Universität von Charkiw auf. Wegen einer Sehschwäche wurde er nach Ausbruch des Weltkriegs nicht zum Militär eingezogen und konnte sein Studium fortsetzen. Dabei konzentrierte er sich auf Mathematik, als er merkte, dass ihm in der Physik die notwendige Geschicklichkeit zum Experimentieren fehlte.
Angeregt durch seinen Mathematikprofessor beschäftigte er sich mit Henri Lebesgues Buch »Leçons sur l'intégration et la recherche des fonctions primitives«. Eine von ihm verfasste handgeschriebene Arbeit von 500 Seiten über das Lebesgue-Integral wurde mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. In der Vorlesung über Wahrscheinlichkeitstheorie wurde er auf Karl Pearsons Werk »The Grammar of Science« aufmerksam, was seinen künftigen Werdegang maßgeblich beeinflusste.
Nach Abschluss seines Grundstudiums bereitete sich Spława-Neyman auf eine akademische Laufbahn vor, übernahm erste Lehr- und Betreuungsaufgaben an der Universität, als sich infolge der Oktoberrevolution und des ausbrechenden Bürgerkriegs die Versorgungslage der Bevölkerung dramatisch verschlechterte. Nach einer Tuberkulose-Erkrankung wurde er zur Erholung auf die Krim geschickt, wo er seine zukünftige Frau kennen lernte, die Russin Olga Solodovnikova. Im Herbst 1919 nahm Spława-Neyman seine Tätigkeit an der Universität von Charkiw wieder auf; im Mai 1920 heiratete er. Als zwischen dem revolutionären Russland und dem nun selbstständigen Polen ein Krieg über die endgültigen Grenzen der Staatsgebiete beider Länder ausbrach, wurde Spława-Neyman als vermeintlich polnischer Spion verhaftet. Nach seiner Freilassung im Rahmen eines Gefangenenaustauschs konnte er sein Examen ablegen.
Die Mathematik der Pflanzen
Da er sich in Charkiw nicht mehr sicher fühlte, reiste er 1921 nach Warschau, um mit Wacław Sierpiński über seine beruflichen Chancen zu sprechen. Dieser war an seiner Mitarbeit interessiert, musste ihn aber auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten. Zur Überbrückung nahm Spława-Neyman eine Arbeit als Statistiker an einem Agrarinstitut in Bydgoszcz (deutsch: Bromberg) an und veröffentlichte erste Arbeiten über die Anwendung statistischer Methoden in der Pflanzenzucht. Als das Meteorologische Institut in Warschau ihm eine Stelle anbot, wechselte er in die polnische Hauptstadt, obwohl ihn die Tätigkeit selbst eigentlich nur wenig interessierte. Zum Wintersemester 1923/24 konnte er endlich an die Universität Warschau wechseln; seine Schrift »Rechtfertigung von Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Lösung bestimmter Fragen des landwirtschaftlichen Versuchswesens« war Grundlage seiner Promotion bei Sierpiński.
Neyman, der von 1924 an den ersten Teil seines Familiennamens Spława wegließ (dieser weist auf die adlige Herkunft seiner Vorfahren hin), war eigentlich eher an reiner Mathematik als an der Anwendung von Mathematik interessiert; dennoch nahm er das Angebot der Rockefeller-Stiftung an, für ein akademisches Jahr zu Pearson nach London zu gehen. Dort nutzte er die Gelegenheit, drei Beiträge in Pearsons Zeitschrift »Biometrica« zu veröffentlichen; sonst war er von Pearsons Arbeit sehr enttäuscht: Dieser zeigte keinerlei Interesse am aktuellen Stand mathematischer Forschung und war auch nicht gewillt, seine bisher praktizierten statistischen Methoden weiterzuentwickeln. Im fachlichen Streit kam es fast zur vorzeitigen Abreise Neymans aus London.
Dank eines weiteren Rockefeller-Stipendiums konnte Neyman 1926 nach Paris wechseln, wo er Vorlesungen und Seminare von Émile Borel, Henri Lebesgue und Jacques Hadamard besuchte, die erneut sein besonderes Interesse für Mengenlehre und Maßtheorie weckten. Im Lauf der nächsten Jahre verfasste er mehrere Beiträge für die von Sierpiński herausgegebene Zeitschrift »Fundamenta Mathematicae«.
Doch auch das Problem, mathematische Begründungen für statistische Verfahren zu finden, ließ ihn nicht los: Noch während seines Aufenthalts in Paris wurde er durch Karl Pearsons Sohn Egon, mit dem er sich während seines Aufenthalts in London angefreundet hatte und mit dem er seitdem im brieflichen Austausch stand, angeregt, erste grundlegende Beiträge zum »Testen von Hypothesen« zu verfassen.
Im Mai 1927 kehrte Neyman nach Warschau zurück und nahm nach seiner Habilitation eine Tätigkeit als Dozent in Warschau und in Krakau auf. 1928 konnte er im Nencki-Institut für Experimentelle Biologie ein biometrisches Laboratorium einrichten. Die allgemeine finanzielle Situation infolge der Weltwirtschaftskrise schränkte jedoch seine Arbeitsmöglichkeiten stark ein, Existenzsorgen lähmten seine Aktivitäten.
Neue Methoden für die Statistik
In der Zwischenzeit hatte Egon Pearson in Zusammenarbeit mit William S. Gossett (Pseudonym: Student) einen Ansatz entwickelt, nach der eine bestehende Hypothese zurückgewiesen werden kann, wenn es eine alternative Hypothese gibt, durch die sich ein vorliegendes Testergebnis angemessener erklären lässt (»maximum likelihood«-Ansatz). Gemeinsam veröffentlichten Neymann und Pearson 1928 den Beitrag »On the Use and Interpretation of Certain Test Criteria for Purposes of Statistical Interference«, in der unter anderem Begriffe wie Fehler erster und zweiter Art und die Trennschärfe (Power) eines Tests definiert werden.
Auch wenn der Beitrag »On the Problem of the Most Efficient Tests of Statistical Hypotheses« aus dem Jahr 1933 unter beider Namen erschien, war das darin enthaltene Neyman-Pearson-Lemma eher auf Neyman zurückzuführen. Im Unterschied zum Signifikanztest von Ronald Aylmer Fisher, bei dem nur eine zu testende Hypothese betrachtet wird, fordern Neyman und Pearson die Einführung einer konkurrierenden Alternativhypothese, die sich durch Minimierung des Fehlers zweiter Art finden lässt.
1933 wurde Egon Pearson Nachfolger seines Vaters Karl auf dem Statistik-Lehrstuhl (Galton Chair) am University College in London; R. A. Fisher wurde für die Abteilung für Eugenik zuständig. Neyman folgte einer Einladung Pearsons für eine Gastprofessur in London – und blieb bis 1937. In dieser Zeit entstanden weitere bedeutende Beiträge, zuletzt »Outline of a theory of statistical estimation based on the classical theory of probability«, in der er die Methode der Konfidenzintervall-Bestimmung entwickelte. Außerdem beschäftigte er sich mit Kriterien zur Bewertung verschiedener Stichprobenverfahren, die die Grundlage für Meinungsbefragungen und Versuchsreihen in biologischen und medizinischen Untersuchungen bilden.
Nach einer Vortragsreihe in den USA dachte Neymann über eine Rückkehr nach Warschau nach, als ihn ein Stellenangebot der University of California in Berkeley erreichte. Die Arbeitsmöglichkeiten in Warschau und London abwägend, gab letztlich wohl die drohende Kriegsgefahr in Europa den Ausschlag für seine Entscheidung, mit seiner Ehefrau und dem zweijährigen Sohn auszuwandern und einen Neuanfang zu wagen.
Aus dem kleinen statistischen Laboratorium innerhalb der mathematischen Fakultät entwickelte sich das Statistische Institut der Universität unter Neymans Leitung zu einer äußerst erfolgreichen, schließlich auch selbstständigen Einrichtung. Er betreute insgesamt 39 Doktoranden, darunter George Dantzig. Nicht zuletzt dank der regelmäßig in Berkeley durchgeführten internationalen Symposien gewann sein Institut weltweite Bedeutung.
Für seine Leistungen und Beiträge wurde Neyman vielfach geehrt, unter anderem durch die Royal Statistical Society London. 1968 erhielt er – trotz seiner öffentlichen Proteste gegen den Vietnam-Krieg – die Medal of Science aus der Hand des US-amerikanischen Präsidenten Johnson. Neyman starb im Alter von 87 Jahren nach einem Herzinfarkt.
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