Der Mathematische Monatskalender: Julius Plücker (1801–1868): Von der Geometrie zu elektrischen Entladungen im Vakuum
Unter der Internetadresse www.genealogy.ams.org ist eine Datenbank eingerichtet, in der in Form eines akademischen Stammbaums erfasst ist, welche Personen im Fach Mathematik (und in verwandten Gebieten wie Mathematikdidaktik, Informatik, Statistik oder theoretische Physik) eine Dissertation verfasst haben. Auf der Eingangsseite steht eine Grafik, in der beispielhaft dargestellt ist, welche akademischen Beziehungen zwischen berühmten Mathematikern wie beispielsweise Euler und Hilbert bestehen. Und hier findet man – zwischen Carl Friedrich Gauß und Felix Klein – auch den Namen von Julius Plücker.
Julius ist der älteste von drei Söhnen eines vermögenden Kaufmanns aus Elberfeld (heute Stadtteil von Wuppertal). Der Junge besucht die von Johann Friedrich Wilberg geleitete »Privat-Lehranstalt für die Kinder aus den höheren Ständen«, eine Schule, in der an Stelle von Latein und Griechisch moderne Fremdsprachen unterrichtet werden. Zuvor war Wilberg als Leiter des Armenhauses tätig, wo er mit großem Erfolg den Kindern aus den unteren Schichten Unterricht erteilt hatte. Nach dem Wechsel an die Privilegiertenschule kann er sich nicht mehr persönlich um die ärmeren Kinder kümmern; doch an Samstagen versammelt der mit Adolph Diesterweg befreundete Reformpädagoge Lehrer um sich, um mit ihnen über das Unterrichten, über Inhalte und Methoden zu sprechen.
Da es in Elberfeld keine Schule gibt, an der die Berechtigung zum Besuch einer Hochschule erworben werden kann, empfiehlt Wilberg den Eltern von Julius Plücker den Wechsel nach Düsseldorf an eines der ältesten Gymnasien in Deutschland, das – seit der Eingliederung der Rheinprovinz an Preußen – den Namen Königlich Katholisches Gymnasium trägt (seit 1945: Görres-Gymnasium).
1819 schreibt sich Julius Plücker an der Universität Heidelberg für »Cameralia« (Kameralistik) ein, ein Studium, das auf eine Tätigkeit in der Staatsverwaltung vorbereitet. Nach drei Semestern wechselt er nach Bonn, wo er Vorlesungen in Physik, Chemie und Mathematik besucht; 1823 legt er in Berlin sein Examen ab. Dann reist Plücker nach Paris, um seine Geometriekenntnisse durch den Besuch der Vorlesungen von Augustin-Louis Cauchy, Sylvestre Lacroix und Siméon Poisson zu verbessern. Im Herbst wird er auf Grund einer eingereichten Arbeit über die Anwendung von Methoden der Analysis in der Mechanik »in absentia« durch Christian Ludwig Gerling (Universität Marburg) promoviert. 1825 wird sein Antrag auf Habilitation von der Universität Bonn angenommen.
Von da an übernimmt Plücker als Privatdozent Vorlesungen in Analysis, Algebra, Geometrie, Buchhaltung und Astronomie, teilweise auch in französischer Sprache. 1828 wird er zum Außerordentlichen Professor ernannt. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Geometrie; 1829 und 1831 veröffentlicht er das zweibändige Werk »Analytisch-geometrische Entwicklungen«.
Plücker stellt zu Beginn seines Ansatzes zur so genannten Liniengeometrie heraus, dass nicht nur Punkte im zweidimensionalen Koordinatensystem durch die Angabe von zwei Koordinaten eindeutig bestimmt sind, sondern auch Geraden: Diese können durch ihre »Linienkoordinaten« beschrieben werden, die sich aus den Schnittpunkten der Geraden mit den Koordinatenachsen ergeben.
Eine Gerade, die durch die Punkte \((a,0)\) und \((0,b)\) verläuft, hat in der Achsenabschnittsform die Gleichung \(\frac{x}{a}-\frac{y}{b}=1\) mit \(a, b \neq 0.\) Hieraus lassen sich die zugehörigen Linienkoordinaten \((u,v) = \left(-\frac{1}{a}, -\frac{1}{b}\right)\) ablesen. Aus der allgemeinen Gleichung einer Geraden \(Ax+By+C=0\) ergeben sich entsprechend die Linienkoordinaten \((u,v) = \left(\frac{A}{C}, \frac{B}{C}\right).\)
Eine Gerade lässt sich daher auch durch die Gleichung \(ux +vy+1=0\) beschreiben, wobei \(u,v\) je einen bestimmten Wert haben und \(x,y\) für die Koordinaten von beliebigen Punkten der Geraden stehen. Diese Gleichung lässt sich aber auch so interpretieren, dass durch sie alle Geraden beschrieben werden, die durch einen festen Punkt \((x,y)\) verlaufen, also ein Geradenbüschel durch diesen Punkt, das heißt, die Gleichung \(ux +vy +1 =0\) ist auch Gleichung eines Punktes \((x,y)\) in Linienkoordinaten. Auf Grund dieser Analogie zwischen Punkten und Geraden können Sätze über Punkte auf duale Sätze über Geraden übertragen werden (und umgekehrt).
Beispielsweise gelten die beiden zueinander dualen Sätze: Drei Geraden mit den Gleichungen \(A_k x+B_k y+C_k=0\) mit \(k=1,2,3\) verlaufen genau dann durch einen gemeinsamen Punkt, wenn für die Koeffizienten-Determinante die Bedingung \(\begin{vmatrix} A_1 & B_1 & C_1 \\ A_2 & B_2 & C_2 \\ A_3 & B_3 & C_3\end{vmatrix}=0\) erfüllt ist.
Drei Punkte mit den Gleichungen \(A_k u+B_k v+C_k=0 \) \(k=1,2,3\) liegen genau dann auf derselben Geraden, wenn für die Koeffizienten-Determinante die Bedingung \(\begin{vmatrix} A_1 & B_1 & C_1 \\ A_2 & B_2 & C_2 \\ A_3 & B_3 & C_3\end{vmatrix}=0\) erfüllt ist.
Analog lässt sich in der räumlichen Geometrie aus der Gleichung \(Ax+By+Cz+D=0\) die Beziehung \(ux + vy +wz +1 =0\) entwickeln, durch die einerseits die Punkte einer Ebene beschrieben werden, andererseits auch Ebenenbüschel, die einen gemeinsamen Punkt besitzen.
1833 erhält Plücker einen Ruf nach Berlin – allerdings nur auf eine Stelle als Außerordentlicher Professor. Da eine solche Stelle in der damaligen Zeit »außerordentlich schlecht bezahlt wird«, ist er gezwungen, gleichzeitig an einem Gymnasium als Mathematiklehrer zu unterrichten. Plücker ist mit seiner Stelle in Berlin nicht glücklich, denn im Hinblick auf eine frei werdende Stelle als Ordinarius hat er einen bedeutenden Rivalen, Jakob Steiner, dessen »synthetische Geometrie« in harter Konkurrenz steht zu seiner »analytischen Geometrie«. Um einer direkten fachlichen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen, veröffentlicht er im Folgenden seine Beiträge zur Geometrie auch in ausländischen Zeitschriften. Besondere Anerkennung findet er durch Rückmeldungen von Arthur Cayley und James Joseph Sylvester.
Als ihm Ende des Jahres eine Stelle als Ordinarius in Halle angeboten wird, nimmt er diese ohne zu zögern an, bleibt dort aber nur vier Semester. 1836 kehrt er wieder nach Bonn zurück, wo er im darauffolgenden Jahr heiratet und eine Familie gründet.
In den nächsten zehn Jahren hält er Vorlesungen insbesondere über Geometrie; in der Zwischenzeit ist ein weiteres Werk erschienen: »System der analytischen Geometrie, insbesondere eine ausführliche Theorie der Curven 3. Ordnung enthaltend«; in diesem Werk legt er dar, dass man 219 verschiedene Typen von Kurven dritter Ordnung unterscheiden kann. 1839 folgt »Theorie der algebraischen Kurven«.
Der oft polemisch geführten Auseinandersetzung mit der »Berliner Schule« um Steiner überdrüssig, übernimmt Plücker, der schon immer an mathematischen Anwendungen in der Physik interessiert war, 1847 zusätzlich den Lehrstuhl in Physik. Angeregt durch Versuche Michael Faradays, mit dem er in regem Briefkontakt steht, experimentiert er zusammen mit seinem Doktoranden Johann Wilhelm Hittorf mit Gasentladungsröhren, die letztlich zur Entdeckung der elementspezifischen Linienspektren und der Kathodenstrahlen führen. Der Erfolg der durchgeführten Experimente ist nicht zuletzt dem genialen Glasbläser Heinrich Geissler zu verdanken, dessen Verdienste 1868 durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Bonn anerkannt werden.
1866 erhält Plücker die Copley-Medaille der Royal Society of London, die ihn bereits 1855 zum Mitglied ernannt hatte.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich Plücker unmittelbar nach dem Tod seines Konkurrenten Steiner im Jahr 1863 wieder stärker den geometrischen Fragestellungen widmet. Unterstützt wird er dabei von seinem Doktoranden Felix Klein (dessen Dissertationsthema lautet: »Über die Transformation der allgemeinen Gleichung des zweiten Grades zwischen Linien-Koordinaten auf eine kanonische Form«). 1868 erscheint der erste Teil des auf zwei Bände angelegten Werks »Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der geraden Linie als Raumelement«. Vor Vollendung des zweiten Bands stirbt Plücker. Das Werk wird von Klein abschließend bearbeitet und im darauffolgenden Jahr veröffentlicht.
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