Der Mathematische Monatskalender: Leopold Kronecker (1823–1891)
Der aus einer vermögenden jüdischen Kaufmannsfamilie stammende Leopold Kronecker wächst in Liegnitz (Schlesien) auf. Zunächst wird er von Privatlehrern unterrichtet; später besucht er das örtliche Gymnasium. Sein Mathematiklehrer ist Ernst Eduard Kummer, der seine Begabung für Mathematik erkennt und fördert. Trotz seiner Herkunft nimmt er am evangelischen Religionsunterricht teil. Später wird er seine eigenen Kinder taufen lassen; er selbst konvertiert ein Jahr vor seinem Tod.
1841 nimmt Kronecker ein Studium der Fächer Mathematik, Physik und Philosophie an der Universität Berlin auf, hört Vorlesungen bei Gustav Lejeune Dirichlet und Jakob Steiner. Nach einem Semester in Bonn wechselt er nach Breslau, wo sein ehemaliger Mathematiklehrer Kummer den Lehrstuhl für Mathematik übernommen hat. Zurück in Berlin verfasst er eine bemerkenswerte Doktorarbeit mit dem Thema De Unitatibus Complexis (Über komplexe Einheiten). In der abschließenden Prüfung wird er nicht nur über mathematische Themen aus sehr unterschiedlichen Bereichen befragt, sondern auch über die Anwendung stochastischer Methoden in der Astronomie sowie über die Geschichte der Philosophie; außerdem werden seine Kenntnisse in Altgriechisch geprüft.
Es sieht ganz nach dem Beginn einer glänzenden akademischen Karriere aus, als er – auf Bitten seines Vaters – überraschend Berlin verlässt und die Verwaltung des Familienguts in Schlesien übernimmt. Außerdem muss er sich um die Liquidation der Bank seines Onkels kümmern. Dessen Tochter Fanny heiratet er im Jahr 1848; in der glücklichen Ehe werden sechs Kinder geboren.
Trotz der vielfältigen Aufgaben findet er noch Zeit für eine fachliche Korrespondenz mit Kummer, die im Jahr 1853 zu der Abhandlung Über die algebraisch auflösbaren Gleichungen führt – die erste von insgesamt 144 wissenschaftlichen Arbeiten.
1855 sind alle geschäftlichen Angelegenheiten zufriedenstellend geregelt. Kronecker bezieht mit seiner jungen Familie eine Villa in Berlin; dank seines Vermögens ist er nicht auf eine Berufstätigkeit angewiesen. In kurzer Folge veröffentlicht er weitere Beiträge zur Zahlentheorie und zur Algebra, entwickelt dabei die Theorien von Évariste Galois und Niels Henrik Abel zur Lösbarkeit von Gleichungen höheren Grades weiter und untersucht elliptische Funktionen.
1861 wird er auf Vorschlag Kummers Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, und als solcher erhält er das Recht, Vorlesungen zu halten. Mit Kummer und Karl Weierstraß, die seit 1855/56 die Mathematik-Lehrstühle an der Universität Berlin übernommen haben, und jetzt auch mit Kronecker, hat sich diese Universität zu einem neuen deutschen Zentrum der Mathematik entwickelt, das in Konkurrenz zu Göttingen tritt (später spricht man vom goldenen Zeitalter der Mathematik in Berlin). Die Universität Göttingen versucht, Kronecker abzuwerben, indem sie ihm die Professur in der Nachfolge von Bernhard Riemann anbietet. Er lehnt das Angebot ab – auch, weil er das gesellschaftliche Leben in Berlin nicht aufgeben will.
Seine anspruchsvollen Vorlesungen werden nur von wenigen Studenten besucht, die zudem oft Schwierigkeiten haben, seinen Gedankengängen zu folgen. Nach und nach kommt Kronecker zur Überzeugung, dass die von Weierstraß in der Analysis angewandten Methoden falsch sind. Nach seiner Überzeugung muss auch die Analysis "arithmetisiert" werden – ausgehend von den natürlichen Zahlen. Seine Forderung gipfelt auf der Jahrestagung der Naturforscher 1886 in dem berühmten Ausspruch: "Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk." – Nur solche Objekte können als existent angesehen werden, die sich in einer endlichen Zahl von Schritten ableiten lassen. Existenzaussagen, für deren Nachweis eine unendliche Folge von Schritten notwendig ist, lehnt er grundsätzlich ab. Diese mathematische Philosophie des Finitismus wird später von Luitzen Egbertus Jan Brouwer zum Konstruktivismus weiterentwickelt. (Beispielsweise wird von den Konstruktivisten die Methode des indirekten Beweises abgelehnt, da hierdurch kein Objekt "konstruiert" wird.)
Als 1870 eine Abhandlung über Fourier-Reihen in Crelle's Journal veröffentlicht werden soll, versucht er dies (in seiner Funktion als Mitherausgeber der Zeitschrift) zu verhindern, fordert den Autor Eduard Heine, seit 1856 Professor für Mathematik in Halle, sogar auf, den Beitrag zurückzuziehen. Ähnliches widerfährt Georg Cantor, dessen Beitrag über die Abzählbarkeit von algebraischen Zahlen er nicht zur Veröffentlichung zulassen möchte; denn diese beschäftigt sich – wie er argumentiert – mit Objekten, die gar nicht existieren.
Als 1880 der geschäftsführende Herausgeber der Zeitschrift, Karl Wilhelm Borchardt, stirbt, übernehmen Kronecker und Weierstraß gemeinsam die Leitung der Herausgeberschaft, was zunehmend zu heftigen fachlichen Auseinandersetzungen zwischen beiden führt. 1882 gelingt Ferdinand von Lindemann der Beweis der Transzendenz der Kreiszahl \(\pi\), was sogar eine gewisse Anerkennung Kroneckers findet: Er hält die Beweisführung für elegant, aber sinnlos, da transzendente Zahlen seiner Ansicht nach gar nicht existieren.
Nach der Emeritierung Kummers im Jahr 1883 übernimmt Kronecker dessen Lehrstuhl. Weierstraß fühlt sich an der Berliner Universität immer unwohler, auch, weil er befürchtet, dass sein Einfluss auf die kommende Generation von Mathematikern schwindet, da Kronecker sich nicht zurückhält zu verkünden, dass die Weierstraß'schen Arbeiten wert- und sinnlos sind. Resigniert nimmt er 1888 einen Ruf an das Eidgenössische Polytechnikum (heute ETH) in Zürich an, zieht seine Zusage aber wieder zurück, als ihm bewusst wird, dass dann Kroneckers Einfluss noch größer würde. Kronecker merkt nicht, wie sehr er durch seine Äußerungen Weierstraß verletzt, bezeichnet er ihn doch öffentlich weiterhin als seinen Freund.
Im Jahr 1889 lässt der schwedische König Oscar II anlässlich seines 60. Geburtstags einen Mathematikwettbewerb ausschreiben, und betraut Weierstraß, Charles Hermite und Magnus Gösta Mittag-Leffler mit dessen Durchführung. (Mittag-Leffler hatte zunächst in Paris bei Hermite studiert, danach bei Weierstraß. Seit 1881 ist er der erste Lehrstuhlinhaber für Mathematik an der neu gegründeten Universität Stockholm.)
Kronecker fühlt sich übergangen. Er kündigt Mittag-Leffler an, den schwedischen König über den "wahren Zustand" der Mathematik zu informieren, kein anderer Mathematiker habe eine zu ihm vergleichbare Kompetenz in algebraischen Fragen entwickelt (was durchaus zutrifft). Als Mittag-Leffler sich im Streit um die Mengenlehre auf die Seite Cantors schlägt, kündigt Kronecker an, keine Beiträge mehr in der von Mittag-Leffler herausgegebenen Zeitschrift Acta Mathematica zu veröffentlichen.
Zur ersten Mitgliederversammlung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung im Jahr 1891, die auf Initiative von Felix Klein und Cantor im Vorjahr gegründet worden war, lädt Cantor (in seiner Funktion als Vorsitzender der DMV) Leopold Kronecker ein, einen der Hauptvorträge zu halten – aus Respekt gegenüber der Person, die sich zweifelsohne um die Entwicklung der Mathematik verdient gemacht hat, auch aus Dankbarkeit seinem früheren Hochschullehrer gegenüber, und trotz all der Kränkungen, die er persönlich in den zurückliegenden Jahren erfahren hatte. Kronecker hatte ihn öffentlich als "Verderber der Jugend" bezeichnet und über seine Mengen-Theorie ein vernichtendes Urteil abgegeben: "Ich weiß nicht, was in Cantors Theorie vorherrscht – Philosophie oder Theologie, aber ich bin sicher, dass es keine Mathematik gibt". (Nach Kroneckers Überzeugung ist der menschliche Verstand nur in der Lage, endlich viele Dinge zu überschauen; das Unendliche gehört seiner Meinung nach nicht in die Mathematik.)
Kronecker nimmt nicht an der Versammlung teil; sein Fernbleiben hängt aber vermutlich weniger mit der Ablehnung der Vereinigung als mit dem tragischen Unfall seiner Frau zusammen, die beim Klettern in den Bergen verunglückt war. Die Verletzungen sind so schwer, dass sie kurze Zeit danach stirbt. Kronecker überlebt seine Frau nur wenige Monate; er stirbt an den Folgen einer Bronchitis.
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