Der Mathematische Monatskalender: Louis-Antoine de Bougainville (1729–1811): Alles, nur kein Mathematiker
Gemäß dem Wunsch des Vaters, einem wohlhabenden Anwalt in Paris, ab 1741 stellvertretendem Bürgermeister und damit Mitglied des Adelsstandes (»noblesse de robe«), soll Louis-Antoine de Bougainville eine juristische Laufbahn einschlagen. Nach dem Schulbesuch nimmt der junge Adlige zwar ein Studium der Rechte auf, hört aber im Rahmen einer klassisch–humanistischen Ausbildung auch Vorlesungen über Literatur und Kunst; außerdem interessiert er sich für Naturwissenschaften. Angeregt durch einen Freund der Familie, dem Mathematiker und Philosophen Jean le Rond d’Alembert (1717 – 1783), beschäftigt er sich außerdem mit Mathematik, insbesondere mit dem ersten Buch über Differentialrechnung aus dem Jahr 1696 des Marquis de l’Hôpital: »Analyse des infiniment petits pour l’intelligence des lignes courbes« (Analyse des unendlich Kleinen zum Verständnis von Kurven). Zu diesem Buch verfasst Bougainville eine Ergänzung, die 1752 erscheint: »Traité du calcul intégral« (Abhandlung zur Integralrechnung). Das in großer Klarheit geschriebene Buch veranlasst die Royal Society, ihn als Mitglied aufzunehmen. 1756 erscheint auch ein zweiter Band, aber Bougainville hat inzwischen die Mathematik längst aufgegeben.
Louis-Antoine de Bougainville tritt 1754 vorübergehend in die französische Armee ein, reist dann als Sekretär des französischen Botschafters nach London und lernt dort unter anderem den Weltumsegler Lord Anson kennen. Während dieser Gespräche wächst bei ihm die Gewissheit, dass es für die Machtposition Frankreichs wichtig sei, neue Kolonien zu erobern. Nach der Rückkehr aus London beginnt er eine militärische Karriere bei den französischen Truppen in Kanada. Am Ende des siebenjährigen Krieges (1756 – 1763), der nicht nur in Europa, sondern auch in den Kolonialgebieten ausgetragen wird, müssen die Franzosen ihre Kolonie »La Nouvelle France« um Quebec aufgeben, außerdem die Kolonien Florida (an Spanien), Louisiana, Senegal und Guinea (an England). Nach kurzer Kriegsgefangenschaft kehrt Bougainville nach Frankreich zurück und wechselt zur Marine – in der Überzeugung, einen eigenen Beitrag dazu leisten zu müssen, den französischen Machtverlust auszugleichen: Er bittet den König um Erlaubnis, die zu dieser Zeit »herrenlosen« Falkland-Inseln (Malvinen) an der Südspitze Südamerikas als französische Kolonie und Stützpunkt für zukünftige Expeditionen in den Pazifik einnehmen zu dürfen. Als Bougainville nach selbst finanzierter, erfolgreicher Mission nach Frankreich zurückkehrt, wird ihm mitgeteilt, dass der König die neu gewonnene Kolonie wieder abtreten will, um diplomatische Auseinandersetzungen mit Spanien zu vermeiden, und er, Bougainville, solle die Übergabe der Kolonie an Spanien vor Ort vornehmen. Bougainville schmiedet neue Pläne: Er will diese zweite Reise in den Südatlantik mit einer Weltumsegelung verbinden, im Pazifik Stützpunkte für den Handel mit China finden, Kolonien für die französische Krone gewinnen und vor allem den vermuteten Südkontinent »Terra Australis« entdecken.
Begleitet von angesehenen Wissenschaftlern, einem Botaniker, einem Arzt, einem Zeichner und einem Astronomen, läuft die »Boudeuse« im Dezember 1766 aus; später stößt das Begleitschiff »Étoile« hinzu, insgesamt mit 300 Mann Besatzung. Bei einem Zwischenaufenthalt in Brasilien entdeckt der Botaniker eine blütenreiche Pflanze, der er den Namen Bougainvillea gibt (von dieser Pflanze gibt es 14 Arten, die in verschiedenen Regionen wachsen).
Nach der Passage der Magellan-Straße (Dauer: 52 Tage!) segeln die beiden Schiffe in Richtung Nordwesten, bis sie endlich nach fast drei Monaten auf die fruchtbare, nach den Entbehrungen als Paradies erscheinende Inselgruppe von »Tahiti« stoßen. Später wird die Beschreibung des nur neun Tage dauernden, überwiegend friedlichen Aufenthalts und die Begegnung mit der freundlichen Bevölkerung, die bis dahin noch keinen Kontakt mit der »zivilisierten Welt« hatte, einen wesentlichen Teil des Forschungsberichts Bougainvilles ausmachen und die Neugier der Pariser Salons wecken: Vor allem will man den Eingeborenen Aotourou kennenlernen, der Bougainville auf eigenen Wunsch nach Frankreich begleitet hat und dessen Rückreise Bougainville später aus seinem Vermögen finanziert.
Die weitere Expedition führt an Samoa vorbei, dann zu der Insel, die heute Vanuatu heißt. Fast hätte er den australischen Kontinent erreicht, den James Cook dann nur drei Jahre später für die britische Krone in Besitz nimmt, doch er ändert den Kurs nach Norden und gelangt über Papua Neuguinea zu den Salomon-Inseln, schließlich zur holländischen Kolonie Batavia (heute: Djakarta). Von dort aus segeln die beiden Schiffe zur französischen Kolonie Île de France (heute: Mauritius), dann weiter über Kapstadt und St. Helena und erreichen nach zwei Jahren und vier Monaten wieder die französische Küste.
Bougainvilles Reisebericht »Voyage autour du monde« ist das Werk eines Wissenschaftlers im Zeitalter der Aufklärung: In seiner Sachlichkeit ohne Werturteile und dem Bemühen um adäquate Wahrnehmung des Beobachteten (nach eingehenden Befragungen von Aotourou) genügt es wissenschaftlichen Ansprüchen; die klare, stilistisch abwechslungsreiche Sprache hat literarisches Niveau. Er prägt aber auch das Bild von Tahiti als irdischem Paradies sowie das der in glücklicher Unschuld lebenden »edlen Wilden« in den Schriften Jean-Jacques Rousseaus.
Zwar findet Bougainville auf seiner Weltreise weder Insel mit Bodenschätzen noch unbekannte Gewürze, jedoch sind die Franzosen stolz darauf, jetzt auch zu den »Entdeckernationen« zu gehören. Zudem hat die Expedition zu neuen geografischen Erkenntnissen geführt, zahlreiche unbekannte Pflanzen konnten klassifiziert werden; die phonetischen Studien und ethnografischen Beobachtungen sind bis heute von geltendem Wert.
Als 1778 der amerikanische Unabhängigkeitskrieg ausbricht, werden die Aufständischen durch Frankreich unterstützt; Bougainville ist mit dem von ihm geleiteten Schiff an mehreren Seegefechten beteiligt. Nach einer Seeschlacht in der Karibik kehrt er in die Heimat zurück; er heiratet und lässt sich mit der Familie (vier Söhne) in der Normandie nieder. Nach Ausbruch der Französischen Revolution kämpft er auf der Seite des Königs, flieht aus Paris, als die Lage aussichtslos wird, wird aber von den Revolutionstruppen gefangen genommen und entgeht nur mit Glück dem Tod durch die Guillotine. 1795 wird er zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften sowie des »Bureau des Longitudes« ernannt. Von Napoleon wird er voll rehabilitiert und erhält den Titel eines »Comte d’Empire«. Als er 81-jährig stirbt, wird er feierlich im Panthéon, der französischen Ruhmeshalle, beigesetzt.
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