Der Mathematische Monatskalender: Marin Mersenne (1588–1648)
Es ist zwar bisher noch keine Briefmarke mit einem Porträt des französischen Mathematikers Marin Mersenne herausgegeben worden, aber immerhin nahm die Postverwaltung des Fürstentums Liechtenstein die Entdeckung der 39. Mersenne-Primzahl \( M_{13.466.917} = 2^{13.466.917} – 1\) zum Anlass, diese Zahl als Motiv für eine Briefmarke einer Wissenschaftsserie auszuwählen.
Bereits Euklid hatte sich mit Zahlen des Typs \(2^n – 1\) beschäftigt und unter anderem den Satz bewiesen:
Wenn \(2^n – 1\) eine Primzahl ist, dann ist \(2^{n-1} \cdot (2^n – 1)\) eine vollkommene Zahl.
Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts glaubte man, dass alle Zahlen des Typs \(2^n – 1\) Primzahlen sind, wenn der Exponent \(n\) eine Primzahl ist.
Im Jahr 1603 führte der italienische Mathematiker Pietro Cataldi, der auch als Erster eine Abhandlung über Kettenbrüche verfasste, folgenden Beweis:
Wenn der Exponent \(n\) keine Primzahl ist, das heißt, wenn er sich also als Produkt \(n = a \cdot b\) mit \(a, b \in \mathbb{N}\) darstellen lässt, ist \(2^n – 1\) ebenfalls keine Primzahl; denn dann kann man die Zahl \(2^{a\cdot b} −1\) in mindestens zwei Faktoren zerlegen:
\(2^{a\cdot b} −1 = \left(2^a −1\right)\cdot\left(1+2^a +2^{2a} +2^{3a} +...+2^{(b−1)\cdot a} \right)\).
Auch zeigte er durch systematisches Probieren mit allen Primteilern bis zur Wurzel aus der betrachteten Zahl, dass \(2^{17} – 1\) und \(2^{19} – 1\) Primzahlen sind. Weiter vermutete er, dass \(2^{23} – 1\) und \(2^{37} – 1\) ebenfalls Primzahlen wären, was allerdings 1640 durch Pierre de Fermat widerlegt wurde.
1644 dann erwähnt Mersenne im Vorwort zu seinem Werk Cogitata Physico-Mathematica,dass \(M_2 =3,\) \(M_3 =7,\) \( M_5 =31,\) \(M_7 =127,\) \( M_{13} =8191,\) \(M_{17} =131071,\) \(M_{19} =524287\), \(M_{31} \approx 2{,}1 \cdot 10^9,\) \(M_{67} \approx 1{,}47 \cdot 10^{20},\) \( M_{127} \approx 1{,}7 \cdot 10^{38}\) und \(M_{257} \approx 2{,}3 \cdot 10^{77}\) Primzahlen sind.
Dabei irrte er sich bezüglich der Zahlen \(M_{67}\) und \(M_{257}\), für die Édouard Lucas 1876 beziehungsweise Frank Nelson Cole 1903 Zerlegungen fanden.
Auch wenn die Zusammenstellung Mersennes nicht vollständig war, so bezeichnet man Primzahlen vom Typ \(2^p – 1\) ihm zu Ehren als Mersenne-Primzahlen. Heutzutage werden gewaltige Rechnerleistungen aufgebracht, um zu prüfen, ob eine Zahl eine Mersenne-Primzahl ist (GIMPS = Great Internet Mersenne Prime Research). Bis heute hat man erst 50 Mersenne-Primzahlen gefunden, und man weiß nicht, ob es endlich oder unendlich viele Primzahlen dieses Typs gibt.
Marin Mersenne, der in einfachen Verhältnissen in der Nähe von Le Mans (damals Grafschaft Maine, heute Region Pays de la Loire) aufwächst, zeigt schon als Kind eine große Wissbegier, sodass die Eltern ihm den Besuch des Collège du Mans ermöglichen. Im Alter von 16 Jahren wechselt er an das von Heinrich IV gegründete Collège von La Flèche, in dem Jesuiten begabte Kinder ohne Beachtung der Herkunft fördern (auch der acht Jahre jüngere Descartes besucht später diese Schule).
Dann zieht Mersenne weiter nach Paris, wo er am Collège Royal de France und an der Sorbonne seine Studien der Philosophie und Theologie abschließt.
1611 tritt Mersenne dem Orden der Paulaner bei (auch Minimiten oder Mindeste Brüder genannt), um sein zukünftiges Leben dem Gebet und der wissenschaftlichen Forschung und Lehre zu widmen. Nach einer Probezeit (während der er auch zum Priester geweiht wird) und Lehrtätigkeiten in der Provinz wird er 1616 zum Abt des Klosters an der Place Royale in Paris gewählt; dort lebt er – von einigen Reisen abgesehen – bis zu seinem Tod.
1623 veröffentlicht er erste Schriften gegen Atheismus und Skeptizismus (L'usage de la raison), verteidigt aber anfangs die Lehren des Aristoteles gegen die Vertreter einer neuen Naturphilosophie. Aber kaum 10 Jahre später (La vérité des sciences) ist er zu der Überzeugung gekommen, dass die Ansichten des Galileo Galilei richtig sind.
Mersenne nimmt brieflichen Kontakt zu Gelehrten in ganz Europa auf. Regelmäßig trifft er sich mit den in Paris lebenden Wissenschaftlern wie René Descartes, Girard Desargues, Gilles Personne de Roberval und Etienne Pascal, dessen Sohn Blaise später hinzukommt.
Diese Academia Parisiensis (auch Académie de Mersenne genannt) geht als Vorläufer der Académie des Sciences in die Wissenschaftsgeschichte ein. Zum Kreis um Mersenne gehört auch der Theologe und Naturwissenschaftler Pierre Gassendi, dem es als Erstem gelingt, einen von Kepler berechneten Merkurtransit zu beobachten, und später auch der aus politischen Gründen ins französische Exil geflohene Engländer Thomas Hobbes.
Im Jahr 1626 gibt Mersenne Übersetzungen von Werken der griechischen Mathematiker Euklid, Apollonius und Archimedes heraus. 1627 veröffentlicht Mersenne eigene Untersuchungen zur Akustik (L’harmonie universelle), in der er den Zusammenhang zwischen der Spannung, der Länge, dem Durchmesser und dem spezifischen Gewicht einer Saite und der Frequenz des erzeugten Tons beschreibt. Auch macht er einen Vorschlag zur Festlegung eines »wohltemperierten Halbtons«. Seine einfachen Experimente zur Messung der Schallgeschwindigkeit ergeben den erstaunlich genauen Wert von 316 Meter pro Sekunde.
1629/30 reist Mersenne zur Kur in die Niederlande und nutzt dies zu Kontakten zu Wissenschaftlern vor Ort. Während einer Reise 1644 nach Italien lernt er Evangelista Torricelli persönlich kennen. Nach seiner Rückkehr berichtet er von dessen Experimenten mit Quecksilbersäulen, die Pascal aufgreift und weiterentwickelt.
Im Jahr 1646 besucht er endlich auch Pierre de Fermat in Bordeaux, mit dem er seit Jahren intensiven Briefkontakt hat. 1648, nach einem Besuch bei Descartes, erkrankt Mersenne schwer. Dem behandelnden Chirurg gelingt es nicht, einen Abszess auf der Lunge zu entfernen. So stirbt er, wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag. Aus den in seiner Klosterzelle gefundenen Briefen und Schriften geht hervor, dass er mit insgesamt 78 Wissenschaftlern in Europa korrespondiert hatte.
Mersennes Leistungen als Mathematiker beschränken sich nicht nur auf die Einsichten über die später nach ihm benannten Primzahlen. Bereits in frühen Jahren untersucht er die Zykloide (er bezeichnet sie als roulette); das sind die Kurven, auf denen sich ein Kreispunkt bewegt, wenn der Kreis abgerollt wird (zum Beispiel längs einer Geraden). Aufgrund seiner Ansätze sind Roberval, Descartes und Fermat in der Lage, die zugehörigen Flächen zu bestimmen.
Die besonderen Verdienste Mersennes liegen weniger in der eigenen Weiterentwicklung mathematischer oder physikalischer Theorien, als vielmehr in der Weitergabe der Informationen, die sich aus seiner Korrespondenz ergeben. Ohne sein Wirken wären manche physikalischen Entdeckungen mit Sicherheit erst später erfolgt.
Auch tritt er als Vermittler in Prioritätsstreitigkeiten ein, zum Beispiel zwischen Roberval und Torricelli (beide hatten eine Methode entwickelt, wie man Tangenten an Kurven bestimmt) oder zwischen Roberval und Bonaventura Francesco Cavalieri. Im Streit zwischen Descartes und Fermat darüber, wer von beiden die analytische Geometrie »erfunden« hat, ist wegen Descartes' Sturheit keine versöhnliche Einigung möglich.
Dank seiner klugen Vorgehensweise können die neuen Ideen von Nikolaus Kopernikus und Galilei in der Académie Mersenne diskutiert werden, ohne dass die Kirche, die er ja eigentlich als Mönch und Priester vertritt, einen Grund findet, einzuschreiten. Er sorgt im Hintergrund dafür, dass die in den Niederlanden gedruckten Meditationes von Descartes auch in Frankreich verbreitet werden; gleichzeitig ermuntert er Gassendi und Hobbes zu kritischen Erwiderungen.
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