Schlichting!: Wenn Wasser zum Schmiermittel wird
In vielen Bereichen des Lebens versuchen wir, Reibung zu verringern: Autos brauchen regelmäßige Ölwechsel, und die Türangeln im Haus quietschen, wenn man sie nicht von Zeit zu Zeit einfettet. Wie selbstverständlich nehmen wir dafür Öl oder eine andere schmierige Substanz. Die Idee, stattdessen Wasser zu verwenden, klingt absurd.
Andererseits kennen wir Wasser in seiner festen Form auf zugefrorenen Pfützen und Seen als überaus rutschigen Untergrund. Und das wiederum führen Physiker auf eine dünne, flüssige Schicht auf dem Eis zurück. Sie erleichtert es Festkörpern enorm, darüber zu gleiten. Auf Grund der Besonderheiten der Eisoberfläche ist das sogar bei Minusgraden der Fall. Warum also ist flüssiges Wasser in diesem speziellen Fall so ein ausgesprochen gutes Schmiermittel, im Alltag aber nicht?
»Vermehrung der Kraft durch weichenden Widerstand«
Novalis, 1772–1801
Wenn ein Gegenstand über einen trockenen Untergrund gleiten soll, muss eine mehr oder weniger große Kraft aufgewandt werden. Denn die in Kontakt stehenden Oberflächen üben durch mechanische und chemische Wechselwirkungen Reibungskräfte aufeinander aus.
Eine Flüssigkeit zwischen den Flächen kann die Gleitreibung vermindern. Wird sie so dick aufgetragen, dass die Festkörper sich nicht mehr direkt berühren, reduziert das die Gleitreibungskraft drastisch. Dann ruft nämlich die relative Bewegung der beiden Objekte zueinander eine Bewegung in der Flüssigkeit hervor – die Gleitreibungskraft muss nicht mehr die Rauigkeit oder Klebrigkeit der eigentlichen Oberflächen überwinden, sondern beschränkt sich darauf, die Schmierflüssigkeit zu »scheren«. Unter dem Begriff verstehen Physiker eine parallele Verschiebung gedachter Flüssigkeitsschichten. Dabei bleibt die jeweils an den Festkörper angrenzende Lage relativ zu diesem in Ruhe, und die Bereiche dazwischen driften allmählich auseinander.
Die dergestalt ins Innere des Schmiermittels verlagerte Gleitreibungskraft steigt mit dessen Zähigkeit (Viskosität). Das entspricht der Erfahrung mit zahlreichen Alltagssubstanzen. Rührt man etwa mit einem Löffel in einer Tasse mit Tee, ist der Widerstand wesentlich geringer als in einem Glas mit Honig. Da liegt die Frage nahe: Müsste man folglich nicht möglichst dünnflüssige Schmierflüssigkeiten benutzen, um die innere Reibung zu vermindern und Energie zu sparen? Damit wäre man wieder beim Wasser mit seiner verhältnismäßig geringen Viskosität.
Doch der Gedanke lässt einen wesentlichen Aspekt außer Acht: Je nachdem, mit welcher Kraft die beiden Festkörper aufeinander wirken – zum Beispiel abhängig von ihrem Gewicht –, setzt das die Gleitsubstanz unter Druck. Das presst sie aus dem Zwischenbereich heraus, und zwar umso stärker, je dünnflüssiger sie ist.
Läuft man über eine regennasse Straße, presst jeder Schritt das Wasser so schnell zu den Seiten, dass sich Schuhsohle und Boden sofort berühren. Ganz anders ist es, wenn ein Ölfleck auf dem Weg liegt. Wegen der größeren Viskosität des Öls wird es während der Zeitdauer eines Schritts nicht völlig verdrängt, die Schuhsohlen finden weniger Bodenkontakt, und die Gefahr wächst, auszurutschen. Zum Glück sind Ölschichten auf Gehwegen und Straßen nicht häufig. Aber ein ganz ähnlicher Effekt kann auftreten, wenn bei nassem Wetter verfaulte Blätter herumliegen.
Dennoch schafft es eine dünne Wasserschicht, die Fortbewegung auf dem Eis zu einer Rutschpartie zu machen. Die physikalischen Hintergründe sind heute immer noch erstaunlich rätselhaft und umstritten. Deswegen hat eine französische Forschergruppe das Phänomen 2019 experimentell näher untersucht. Dabei setzte das Team eine besondere Sonde ein: eine Art Stimmgabel mit einer winzigen Glasperle unter einem der beiden horizontal liegenden Zinken. Das Kügelchen bewegte sich hin und her, sobald die Wissenschaftler die Gabel zur Schwingung anregten. Die Apparatur brachten sie mit einer Eisfläche in Kontakt. Während die Kugel darauf entlangglitt, bestimmten die Forscher mit hochempfindlichen Sensoren während zahlreicher Versuchsdurchläufe sowohl die Dicke der Wasserschicht als auch deren Viskosität.
Der flüssige Belag war nur wenige hundert Nanometer dick. Das spricht auf den ersten Blick gegen gute Schmiereigenschaften, denn zum Beispiel ein auflastender Schlittschuh müsste demnach das Wasser in äußerst kurzer Zeit verdrängen und direkte Verbindung zum Eis bekommen. Allerdings zeigte sich: Das Wasser war abhängig von den äußeren Bedingungen 10 bis 100-mal zäher als unter normalen Umständen – fast so viskos wie Öl! Als Erklärung vermuten die Forscher Eispartikel in Nanometergröße im Wasserfilm.
Sie gehen davon aus, dass die Reibung zwischen Sonde und festem Eis Letzteres nicht bloß anschmilzt, sondern außerdem winzigste Körnchen abreibt. Diese verleihen der Wasserschicht offenbar eine viskosere Konsistenz. Die Physiker haben in Folgeversuchen vergleichbare Ergebnisse mit einer anderen Substanz (Polyethylenglykol) erzielt und glauben, einem grundlegenden Mechanismus auf die Spur gekommen zu sein. Er könnte nicht nur neue Impulse für die alte Debatte um das Rutschen auf Eis liefern, sondern obendrein Einsichten in das Verhalten weiterer Materialien gewähren, die nahe ihrer Schmelztemperaturen aneinander reiben – bis hin zu Gestein bei Vulkanismus und Erdbeben.
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