Der Mathematische Monatskalender: Nicolas Fatio de Duillier: Vom Mathematiker zum fragwürdigen Propheten
Geboren in Basel als siebtes von neun Kindern, wuchs er auf einem Gut in Duillier auf, einem Ort in der Nähe von Genf. Die ursprünglich aus Italien stammende Familie war durch den Besitz von Eisen- und Silbererzminen reich geworden, dann aus religiösen Gründen in die protestantische Republik Genf ausgewandert. Nicolas’ Vater, ein frommer Calvinist, hätte es am liebsten gesehen, wenn Nicolas, sein zweiter Sohn, Pastor geworden wäre. Seine Mutter, eine Anhängerin Martin Luthers, hegte hingegen die Hoffnung, dass er Karriere an einem der protestantischen deutschen Fürstenhöfe machen würde. Nicolas jedoch interessierte sich zunächst weniger für religiöse Fragen als für die Naturwissenschaften.
Von 1678 an besuchte er die Académie de Genève (heute Universität). In einem Brief an Jean Dominique Cassini, dem Leiter des Pariser Observatoriums, unterbreitete er seine Ideen, wie man die Abstände der Erde von der Sonne und vom Mond genauer als bisher bestimmen könnte. Auch entwickelte er eine Theorie, wie die Form der Saturnringe entstanden war. Als er 1682 nach Paris kam, wurde er von Cassini herzlich aufgenommen. Zusammen forschten sie über das Phänomen des so genannten Zodiakal-Lichts. Fatio veröffentlichte hierzu einen Beitrag, in dem er die Lichterscheinung korrekt als Sonnenlicht interpretierte, das von einer interplanetaren Staubwolke gestreut wird.
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Fatio beschäftigte sich mit dem Phänomen der Erweiterung und der Verengung der Augenpupillen; außerdem entwickelte er Methoden, um die Herstellung von Linsen für Fernrohre zu verbessern. Zurück in der Heimat, führte er mit seinem fünf Jahre älteren Bruder trigonometrische Messungen im Montblanc-Gebiet durch.
Ein Komplott wird aufgedeckt
Als er von einem geplanten Komplott eines piemontesischen Grafen erfuhr, der mit finanzieller Unterstützung Frankreichs Wilhelm von Oranien, den Statthalter der Niederlande, entführen wollte, reiste er nach Holland, um diesen zu warnen.
Vor Ort freundete er sich mit Christiaan Huygens an und tauschte sich mit ihm über den neu entwickelten Differenzialkalkül aus; beide blieben im lebenslangen Kontakt miteinander. Als Belohnung für die verhinderte Entführung des Prinzen wurde Fatio eine Mathematik-Professur an der Universität Leiden in Aussicht gestellt, was aber dann doch nicht realisiert wurde.
1687 reiste Fatio nach England. In der Royal Society stellte er Beispiele seiner Lösungen von gewöhnlichen Differenzialgleichungen vor; im folgenden Jahr wurde er als Mitglied aufgenommen.
Seinen Lebensunterhalt bestritt Fatio vorübergehend als Hauslehrer. Als während der Glorious Revolution das englische Parlament den katholischen König Jakob II. absetzte und dessen protestantische Tochter Mary und deren calvinistischen Ehemann Wilhelm von Oranien als neue Herrscher einsetzte, machte er sich wieder Hoffnungen auf eine Stelle in den Niederlanden – vergeblich.
Eine eigene Theorie der Schwerkraft
Zu Isaac Newtons Werk »Principia«, das 1687 erschien, entwickelte Fatio eine Theorie der Schwerkraft, die er in der Royal Society vorstellte und 1690 als Schrift veröffentlichte (»De la Cause de la Pesanteur«, Von der Ursache der Schwerkraft).
Demnach ist der Raum von Teilchen (Korpuskeln) ausgefüllt, die sich in allen Richtungen bewegen. Treffen sie auf einen Körper, wird dieser sich nicht bewegen, weil die Teilchen aus allen Richtungen auf den Körper wirken. Sind jedoch zwei Körper vorhanden, dann schirmen sich diese gegenseitig ab und es entsteht ein Unterdruck zwischen den beiden Körpern, eine scheinbare Anziehungskraft: die Gravitation.
Fatio war von der Richtigkeit seiner Theorie überzeugt; er legte die Schrift Edmond Halley, Huygens und Newton vor und ließ von diesen durch Unterschrift bestätigen, dass auch sie die Theorie für richtig hielten – es gibt berechtigte Zweifel, dass er sie tatsächlich überzeugen konnte.
Bis zu seinem Lebensende arbeitete Fatio immer wieder an seiner Theorie, um auftretende Einwände zu entkräften. Die Theorie wurde 1731 erneut von Gabriel Cramer aufgegriffen, 1756 von dessen Schüler Georges-Louis Le Sage weiterentwickelt (»Le-Sage-Gravitation«), auch in der Folgezeit immer wieder diskutiert – bis zur endgültigen Widerlegung durch James Clark Maxwell und Henri Poincaré.
Eine Freundschaft mit Newton
Fatio begegnete Newton persönlich zum ersten Mal im Rahmen der Sitzung der Royal Society, in der Christiaan Huygens seine Wellentheorie des Lichts und seine – auf René Descartes zurückgehende – Wirbeltheorie der Gravitation vorstellte.
Zwischen Newton und Fatio entwickelte sich eine innige Freundschaft, beruhend auf einer wechselseitigen Faszination zwischen dem bereits 46-jährigen Newton und dem erst 25-jährigen Schweizer. Die beiden teilten sich in London eine Wohnung, da Newton als Vertreter der Universität Cambridge Mitglied des Parlaments war und regelmäßig zu den Sitzungen anreisen musste. Auch nahm Fatio das Angebot Newtons an, als dessen Assistent in Cambridge zu arbeiten. Dort führten sie gemeinsam alchemistische Experimente durch, in der Hoffnung, Quecksilber in Gold zu verwandeln.
Vergeblich bewarb sich Fatio auf den frei gewordenen Savillian Chair für Astronomie in Oxford. Die Hoffnung, dass in den Niederlanden eine Stelle frei werden könnte, gab Fatio nicht auf; mehrfach pendelte er zwischen London, Cambridge und den Haag.
Fatio versuchte Newton davon zu überzeugen, dass die »Principia« neu aufgelegt werden müsse, um darin enthaltene Fehler zu korrigieren, aber wohl auch, um seine Theorie der Gravitation als Vorwort hinzuzufügen. Für Newton hatte jedoch die Arbeit an seiner Integralrechnung Vorrang (»De quadratura curvarum«), die er dann allerdings erst 1704 im Rahmen seiner »Opticks« veröffentlichte.
Zu Beginn des Jahres 1692 endeten die Beziehungen zwischen Newton und Fatio abrupt; gleichzeitig durchlebte Newton eine Schaffenskrise, von der er sich nicht mehr wirklich erholte.
Die tatsächlichen Gründe hierfür wird man wohl nie mehr erfahren – hat die persönliche Beziehung zwischen den beiden eine Rolle gespielt oder wurde Newtons Zustand durch eine Quecksilbervergiftung herbeigeführt? Vielleicht war es auch nur die Folge von Newtons Überanstrengung nach jahrelangen intensiven Arbeitsphasen.
Ein Streit nimmt seinen Lauf
1696 stellte Johann Bernoulli an die Mathematiker Europas das berühmte Brachistochrone-Problem, für das er selbst bereits eine Lösung gefunden hatte:
Fünf Mathematiker reichten Lösungen ein: Newton, Leibniz, L'Hôpital, Tschirnhaus und Jakob Bernoulli; diese wurden von Leibniz in den »Acta Eruditorum« veröffentlicht. Newton hatte das Problem – wie erwartet – souverän gelöst, die Lösung aber nur anonym eingereicht, da er vermutete, dass die Aufgabe in Wirklichkeit von Leibniz stammte und dieser ihn durch die gestellte Aufgabe herausfordern wollte.
Leibniz’ Kommentar in den »Acta Eruditorum« war dann die Initialzündung für den Prioritätenstreit bezüglich der Erfindung der Infinitesimalrechnung: »… nur diejenigen (haben) das Problem gelöst, von denen ich angenommen hatte, dass sie es lösen konnten …«
Fatio, der sich nach dem Tod seiner Mutter eine Zeit lang in Duillier um Erbschaftsangelegenheiten kümmern musste, sah in diesem Kommentar einen persönlichen, diskriminierenden Angriff auf seine Fähigkeiten – ein Anlass, Leibniz anzugreifen: »Ich erkenne an, dass Newton der erste und um viele Jahre ältere Erfinder dieser Rechnung war: ob Leibniz, der zweite Erfinder, etwas von ihm entlehnt hat, möchte ich weniger selbst entscheiden, sondern das Urteil denen überlassen, die Newtons Briefe und seine anderen Manuskripte gesehen haben. Auch das Schweigen des bescheideneren Newton oder die aktiven Bemühungen von Leibniz, überall die Erfindung des Kalküls sich selbst zuzuschreiben, werden niemanden beeindrucken, der diese Papiere so untersucht, wie ich es getan habe.«
Dies rief wütende Reaktionen von Johann Bernoulli und Leibniz in den »Acta Eruditorum« hervor. Leibniz betonte, dass Newton selbst in den »Principia« eingeräumt habe, dass beide die Infinitesimalrechnung unabhängig voneinander entwickelt hätten. Zwar stellte sich heraus, dass Fatio seine Stellungnahme ohne Absprache mit der Royal Society abgegeben hatte und dass weder Newton noch Leibniz ein Interesse an einer wie auch immer gearteten Auseinandersetzung hätten, aber der Streit zwischen den Anhängern aus beiden Lagern war von da an nicht mehr aufzuhalten.
Eine präzise Uhr
In der Folgezeit beschäftigte sich Fatio mit dem Problem, eine Uhr zu konstruieren, die weniger störanfällig war und mit der die Zeit genauer gemessen werden konnte. Zusammen mit den Uhrmachern Peter und Jacob Debaufre, die wie viele andere Hugenotten 1685 nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes aus Frankreich geflüchtet waren, führte er im November in der Royal Society eine Uhr mit Spiralfeder vor, für deren Lagerung Fatio besonders gebohrte Rubine vorbereitet hatte. 1704 erhielt er sogar für die Dauer von 14 Jahren ein Patent auf diese Erfindung, das jedoch auf Grund des Einspruchs der Uhrmacher-Lobby nicht weiter verlängert wurde.
Auch beschäftigte sich Fatio mit den Möglichkeiten, das Wachstum von Pflanzen zu steigern; dazu ließ er in einem Schlosspark Obstbäume auf einer besonders geformten schrägen Mauer pflanzen (Fruit-Walls) und dachte über mechanische Vorrichtungen nach, durch die die Einstrahlung der Sonne besser genutzt würde. Weiter untersuchte er den Einfluss der Anzahl der Sonnenflecken und der Kometenbahnen auf das Wetter.
1705 veröffentlichte er das nach ihm benannte Fatio-Verfahren: ein Trick, mit dem sich die Konvergenz von Reihen beschleunigen lässt. Die Idee griff Leonhard Euler 1755 auf und verallgemeinerte sie:
Statt der langsam konvergierenden Leibniz-Reihe selbst \[\frac{\pi}{4} = 1 – \frac{1}{3} + \frac{1}{5} -\frac{1}{7} + \frac{1}{9} \mp ... \] betrachte man die Summe der beiden Darstellungen \[\frac{\pi}{4} = (1 – \frac{1}{3}) + (\frac{1}{5} -\frac{1}{7}) + (\frac{1}{9} -\frac{1}{11})+ ... = \frac{2}{1\cdot 3} +\frac{2}{5\cdot 7}+ \frac{2}{9\cdot 11} +... \] und \[\frac{\pi}{4} = 1 – ( \frac{1}{3} – \frac{1}{5}) -(\frac{1}{7} – \frac{1}{9})–... = 1 – \frac{2}{3\cdot 5} -\frac{2}{7\cdot 9}- ... \] und bilde dann das arithmetische Mittel der Summanden: \[\frac{\pi}{4} = \frac{1}{2}+ \frac{1}{1\cdot 3} -\frac{1}{3\cdot 5}+ \frac{1}{5\cdot 7} \pm... \] Man erhält so eine Reihe, die erheblich schneller konvergiert.
Mitglied einer Sekte
1706 schloss er sich den Camisards an, einer Gruppe von radikalen, nach England geflüchteten Hugenotten, die als die »französischen Propheten« in die Geschichtsbücher eingingen. Diese kündigten in ihren Predigten den baldigen Untergang der Welt an. Auf Antrag der gemäßigten Hugenotten (und mit Unterstützung der englischen Regierung) wurden deren Anführer Élie Marion und Jean Daudé sowie Nicolas Fatio wegen Aufwiegelung und Vorbereitung eines Komplotts angeklagt, schuldig gesprochen und an den Pranger gestellt. Fatio wurde durch den Duke of Ormand, bei dem einst Fatio als Hauslehrer tätig war, vor dem Schlimmsten bewahrt.
Danach reiste Fatio als einer der Abgesandten der Sekte durch Europa, predigte das bevorstehende Jüngste Gericht in Berlin, Halle, Wien, Stockholm, Konstantinopel, Smyrna (heute: Izmir) und Rom. Nach längerem Aufenthalt in den Niederlanden kehrte er 1717 nach England zurück und ließ sich für die restlichen 36 Lebensjahre in der Nähe von Worcester nieder.
Er meditierte über die biblischen Prophezeihungen, verfasste ein langes Gedicht über seine Theorie der Ursache der Schwerkraft (im Stile von Lukrez’ »De rerum natura«), das er im Rahmen eines Wettbewerbs der Pariser Académie des Sciences (ohne Erfolg) vorlegte.
Gewisse Zweifel an der grundsätzlichen Notwendigkeit einer Theorie hatte er dennoch: »… es ist nicht unmöglich und auch nicht unwahrscheinlich, dass Gott durch ein Gesetz festgelegt hat, dass die Materie sich gegenseitig anzieht, mit einer Kraft, die proportional zu ihrer Masse und reziprok zum Quadrat der Entfernung ist.«
Nach Newtons Tod im Jahr 1727 verfasste er in Latein eine Hymne auf das von ihm stets verehrte Genie und entwarf die Inschrift für das Denkmal, das in Westminster Abbey aufgestellt wurde.
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