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Der Mathematische Monatskalender: Der Vermittler Pierre de Varignon

Er gilt als Erfinder einer der schönsten und einfachsten Sätzen der Geometrie. Doch leider hielten ihn Verwaltungsaufgaben davon ab, seine Ergebnisse zu veröffentlichen.
Bunte Würfel und Rechtecke

Es ist erstaunlich, dass einer der schönsten und einfachsten Sätze der Geometrie nicht von Euklid (oder einem anderen Mathematiker der Antike) entdeckt wurde, sondern erst 2000 Jahre später. Den Satz findet man im Buch »Elemens de Mathématique« des französischen Mathematikers Pierre de Varignon, erschienen 1731 – neun Jahre nach dem Tod des Autors.

Die Herausgeber schreiben im Vorwort: »Die Grundsätze der Geometrie werden in diesem Werk mit so viel Klarheit und Genauigkeit entwickelt, die Sätze werden auf so einfache und natürliche Weise aneinandergereiht, die Beweise sind so kurz und einfach, dass man darin leicht die Überlegenheit eines Genies erkennen wird, der dieses Buch verfasst hat.«

Dieser Satz von Varignon gilt für beliebige ebene Vierecke – für konvexe Vierecke, bei denen die Diagonalen innerhalb des Vierecks verlaufen, für konkave Vierecke, bei denen eine Diagonale innerhalb und eine außerhalb des Vierecks verläuft, sowie für überschlagene Vierecke, bei denen beide Diagonalen außerhalb des Vierecks verlaufen.

Satz von Varignon

Dass der erste Teil des Satzes auch im Dreidimensionalen gilt, also für Vierecke, deren Eckpunkte nicht notwendigerweise in einer Ebene liegen (Tetraeder), zeigt man üblicherweise am Anfang des Unterrichts der Vektorgeometrie:

Dreidimensionaler Satz von Varignon

Aus allen Figuren wird deutlich, dass sich die Parallelität von Verbindungslinien benachbarter Seitenmitten zu einer der Diagonalen aus dem zweiten Strahlensatz ergibt (siehe Euklids »Elemente« VI,2); und hieraus folgen auch die Aussagen über Flächeninhalt und Umfang:

Interessant ist es, die Sonderfälle des Satzes von Varignon zu untersuchen:

Sonderfälle des Satzes von Varignon

Pierre Varignon wurde als Sohn eines Baumeisters in Caen (Normandie) geboren, wo er (vermutlich) die Jesuitenschule besuchte und auf den Priesterberuf vorbereitet wurde. Im Alter von 22 Jahren legte er sein Gelübde ab, darauf folgte ein Studium, das er 1682 mit der Magisterprüfung abschloss; danach wurde er als Priester eingesetzt.

Während des Studiums freundete er sich mit Charles Castel an, Abbé de Saint-Pierre, später einer der bedeutendsten Philosophen der Aufklärung in Frankreich, berühmt wegen seines »Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe« (Plan eines ewigen Friedens in Europa). Der aus reichem Hause stammende Castel war auf Einkünfte aus dem Priesterberuf nicht angewiesen; er ließ Varignon an seiner finanziellen Unabhängigkeit teilhaben. Castels besonderes Interesse galt der Mathematik; nach dem Studium der »Elemente« des Euklid und der »Géometrie« von René Descartes öffnete sich auch für Varignon eine neue Welt.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie  hier.

1686 gingen die beiden nach Paris und nahmen dort Kontakt zu anderen Wissenschaftlern auf. Bereits im darauf folgenden Jahr veröffentlichte Varignon einen ersten Beitrag (über Flaschenzüge mit Umlenkungen) sowie das Buch »Projet d'une nouvelle méchanique«, in dem er zeigte, wie man die in den Vorjahren erschienenen Beiträge von Gottfried Wilhelm Leibniz zur Differenzialrechnung auf Probleme der Mechanik anwenden kann. Das Buch führt 1688 zur Aufnahme Varignons in die Abteilung »Géometrie« der Académie des Sciences.

Am Collège Mazarin der Universität von Paris wurde für ihn eine Stelle als Professor für Mathematik eingerichtet; dort lehrte er 34 Jahre lang – bis zu seinem Tod. 1704 kam noch eine Professur am Collège Royal hinzu (nominell war dies eine Professur für griechische und lateinische Philosophie, aber ohne Auflagen bezüglich des Lehrinhalts).

Varignon beschäftigte sich mit verschiedenen Anwendungen der Differenzialrechnung auf Probleme der Mechanik (Kräfteparallelogramm, Drehmoment, Gleichgewicht von Flüssigkeiten). Unter anderem bestätigte er die von Evangelista Torricelli im Jahr 1644 experimentell entdeckte Gesetzmäßigkeit, dass die Ausflussgeschwindigkeit ν von Flüssigkeiten nur von der Höhe h (Abstand der Flüssigkeitsoberfläche von der Öffnung) abhängt (es gilt: ν = √(2gh). Er führte den Begriff der Momentangeschwindigkeit ein und zeigte, dass man die Beschleunigung eines Körpers hieraus durch Differenziation erhält. Seine Einzelbeiträge gingen jedoch in der Fülle der Veröffentlichungen unter.

Pierre de Varignon

1692 lernte Varignon den aus Basel stammenden Mathematiker Johann Bernoulli kennen; zwischen den beiden entstand eine lebenslange Freundschaft. 1696 erschien Guillaume l'Hospitals »Analyse des infiniment petits«, das erste Buch zur leibnizschen Differenzialrechnung, das im Wesentlichen auf Materialien Johann Bernoullis beruht. Zu den Kritikern des Werks gehörte Michel Rolle, der sich mathematischer Tradition und Exaktheit verpflichtet fühlte, die seiner Meinung nach durch die Betrachtung unendlich kleiner Größen verloren geht. Varignon hingegen verteidigte das Arbeiten mit infinitesimalen Größen, warnte aber auch vor zu fahrlässigem Umgang. Nachdem es in den Sitzungen der Académie immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Traditionalisten und den Erneuerern kam, beschloss die Leitung, das Thema nicht mehr auf die Tagesordnung zu setzen.

1712 wurde Varignon zum Direktor der Académie des Sciences ernannt; trotz seiner guten Beziehungen sowohl zu Leibniz wie auch zu Isaac Newton gelang es ihm nicht, im Prioritätsstreit zu vermitteln. Seine Position zwischen den beiden Lagern wurde von beiden Seiten respektiert und anerkannt. Als 1713 die zweite Auflage der »Principia« erschien, schickte Newton ihm eines seiner sechs Exemplare. Von der zweiten Auflage der »Opticks« sendete Newton drei Exemplare an die Académie, ein Exemplar leitete Varignon an Johann Bernoulli weiter, in der Hoffnung, durch diese Geste eine Brücke zu bauen. In seinem Dankesschreiben an Newton brachte Varignon sein tiefes Bedauern zum Ausdruck, dass durch die andauernden Streitigkeiten zwischen dem newtonschen und dem leibnizschen Lager ein sinnvoller Austausch verhindert werde. Als 1722 die Korrespondenz zwischen Bernoulli und Newton wieder einmal ausartete, schaltete sich Varignon ein und versuchte gemeinsam mit dem im Londoner Exil lebenden Abraham de Moivre zu vermitteln.

Varignons Beiträge und seine Rolle als Vermittler zwischen den Lagern wurde unter anderem auch durch seine Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften (1713) und die Royal Society (1718) anerkannt. Seine umfangreiche Lehrtätigkeit, die Übernahme der verantwortungsvollen Position als Leiter der Académie und die damit verbundene umfangreiche Korrespondenz hinderten Varignon, seine eigenen Ideen auszuarbeiten. Nach seinem Tod stellten ehemalige Schüler seine Unterrichtsnotizen zum Unterrichtswerk »Elemens de Mathématique« zusammen.

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