Der mathematische Monatskalender: Pietro Mengoli (1626–1686): Über die Unendlichkeit hinaus
Über Pietro Mengolis Herkunft ist nur wenig bekannt, auch sein genaues Geburtsdatum wird man wohl nicht mehr herausfinden. Er verbrachte sein gesamtes Leben in Bologna, das zur damaligen Zeit zum Kirchenstaat des Papstes gehörte.
An der Universität von Bologna besuchte er Vorlesungen bei Bonaventura Cavalieri. Als dieser im November 1647 starb, wurde Mengoli beauftragt, dessen Vorlesungen in Arithmetik zu übernehmen. 1650 promovierte Mengoli in Philosophie, drei Jahre später auch in Zivil- und Kirchenrecht – parallel dazu hielt er Vorlesungen über Mechanik.
Von 1668 an bis zu seinem Tod hatte er den Lehrstuhl für Mathematik inne. Zum Priester geweiht, übernahm er von 1660 an die Pfarrei Santa Maria Magdalena sowie die Leitung eines angeschlossenen Klosters, was ihn zeitlich so sehr beanspruchte, dass er erst 1670 wieder dazu kam, etwas zu veröffentlichen. Die Publikationen aus den 1650er- und 1670er-Jahren befassten sich unter anderem mit unendlichen Reihen und mit Flächenbestimmungen, mit Euklids Lehre von den Proportionen sowie mit der Brechung und der Parallaxe von Sonnenstrahlen.
In einer der Schriften setzte er sich mit Galileis Theorie zu der Frage auseinander, wie Musik gehört wird (mit der spekulativen Annahme eines zweiten Trommelfells im Ohr). In seinen letzten Werken (»Arithmetica rationalis« und »Arithmetica realis«) unternahm er den Versuch, ein logisches, physikalisches und metaphysisches System auf mathematischer Grundlage aufzubauen, durch das eine rationale Rechtfertigung der katholischen Glaubenslehre möglich werden sollte. Hierbei stand er in einem engen brieflichen Kontakt mit dem einflussreichen Kardinal Leopoldo de' Medici – der Prozess gegen Galileo Galilei und dessen Verurteilung war auch Jahrzehnte danach eine noch immer präsente Bedrohung, insbesondere im Bewusstsein der im Kirchenstaat lebenden Wissenschaftler.
Da Mengoli seine Schriften in einem seltsamen, schwer verständlichen Latein verfasste, ließ das Interesse an seinen Veröffentlichungen schnell nach. Gleichwohl gab es positive Rückmeldungen, unter anderem vom Sekretär der Royal Society, Henry Oldenburg, der sich besonders für Mengolis Musiktheorie interessierte. Erst im 20. Jahrhundert wurde deutlich, dass der italienische Mathematiker in einigen seiner Überlegungen seiner Zeit weit voraus war.
Eines dieser Themen war die Untersuchung unendlicher Reihen. Seit dem Altertum war das Rechnen mit geometrischen Folgen und den zugehörigen Teilsummenfolgen, den geometrischen Reihen, bekannt: Für \(a \in \mathbb{R} \) und konvergiert die Zahlenfolge \(a, aq, aq^2, aq^3, ... \) gegen null und die Folge der Teilsummen \( (a + aq + aq^2 + aq^3 + aq^n)_{n\in \mathbb{N}} \) gegen die Zahl \(\frac{a}{1-q} .\) Mengoli stellte nun fest, dass aus »Die Folge \((a_n)_{n \in \mathbb{N}} \) konvergiert gegen null« nicht notwendig folgt »Die zugehörige Folge \( (\sum_{k=1}^n a_n)_{n \in \mathbb{N}} \) der Teilsummen konvergiert gegen eine (endliche) Zahl«.
Zwar hatte der französische Mathematiker und Philosoph Nicole Oresme bereits 300 Jahre zuvor bewiesen, dass dies für die so genannte harmonische Reihe, also die Folge der Teilsummen der Kehrwerte der natürlichen Zahlen \( H_n = 1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{3} + ... + \frac{1}{n} \), nicht zutrifft; sein Beweis geriet jedoch in Vergessenheit und war auch Mengoli nicht bekannt. Oresme hatte mithilfe einer divergierenden Minorante gezeigt, dass \(H_n\) über alle Grenzen hinauswächst: \[ \begin{split} H_1 &= 1; H_2 = 1 + \frac{1}{2}= 1,5;\\ H_4 &= 1 + \frac{1}{2} + \left( \frac{1}{3}+ \frac{1}{4}\right) > 1 + \frac{1}{2} + \left( \frac{1}{4}+ \frac{1}{4} \right) = 2 \\ H_8 &= 1 + \frac{1}{2} + \left( \frac{1}{3}+ \frac{1}{4}\right) + \left( \frac{1}{5}+ \frac{1}{6} + \frac{1}{7}+ \frac{1}{8} \right) \\ &> 1 + \frac{1}{2} + \left( \frac{1}{4}+ \frac{1}{4} \right) + \left( \frac{1}{8}+ \frac{1}{8} + \frac{1}{8}+ \frac{1}{8} \right) = 2,5\\ \text{und so weiter.} \end{split} \]
Mengoli führte in seinem 1650 erschienenen Buch »Novae quadraturae arithmeticae, seu de additione fractionum« einen indirekten Beweis dieser Eigenschaft, das heißt, er machte den Ansatz: Angenommen, die Reihe \(H_n\) besitzt ein endlichen Grenzwert \( H = 1 + \left(\frac{1}{2} + \frac{1}{3}+ \frac{1}{4}\right) + \left( \frac{1}{5}+ \frac{1}{6} + \frac{1}{7} \right) + ... .\) Nun gilt für drei aufeinanderfolgende Stammbrüche \( \frac{1}{a-1} + \frac{1}{a} + \frac{1}{a+1},\) dass sie größer sind als das Dreifache des mittleren Bruchs: \[ \begin{split} \frac{1}{a-1} + \frac{1}{a} + \frac{1}{a+1} = \frac{1}{a} + \frac{2a}{a^2-1} > \frac{1}{a} + \frac{2a}{a^2} = \frac{3}{a}, \end{split} \] also beispielsweise \(\frac{1}{2} + \frac{1}{3}+ \frac{1}{4} > 1 \) und \(\frac{1}{5}+ \frac{1}{6} + \frac{1}{7} > \frac{1}{2} .\)
Daher kann man \(H\) wie folgt abschätzen: \[ H > 1 + \frac{3}{3} ++ \frac{3}{6} + \frac{3}{9} + ... = 1 + 1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{3} + ... = 1+ H \]
Da die positive, endliche Zahl \(H\) nicht größer sein kann als \(1+H\), muss die Annahme falsch sein, dass \(H\) eine endliche Zahl ist. Somit ist bewiesen, dass die harmonische Reihe keinen endlichen Grenzwert hat, also divergent ist.
Mengoli untersuchte in seinem Buch auch die alternierende harmonische Reihe und fand heraus, dass \(1 – \frac{1}{2} + \frac{1}{3} \pm ... = \text{ln}(2).\) Dieses Ergebnis wurde 18 Jahre später und unabhängig von Mengoli auch von Nicolaus Mercator bewiesen.
Weiter findet man in der »Novae quadraturae« den Beweis, dass die Summe der Kehrwerte der Folge der Dreieckszahlen gegen den Grenzwert 2 konvergiert. Dabei zeigte er zunächst, dass gilt \( \frac{1}{3} + \frac{1}{6} + \frac{1}{10}+ ... + \frac{1}{\frac{n}{2} \cdot (n+1)} = \frac{n-1}{n+1}\) und dann, dass die Differenz \( 1- \frac{n-1}{n+1}\) kleiner als jede noch so kleine positive Zahl werden kann, wenn man nur \(n\) groß genug wählt – eine Beschreibung, die dem heutigen Grenzwertbegriff sehr nahe kommt.
In einem nächsten Schritt beschäftigte sich Mengoli allgemeiner mit Teilsummenfolgen, deren Summanden Kehrwerte von Produkten natürlicher Zahlen sind: \(\frac{1}{1 \cdot(1+r)} + \frac{1}{2 \cdot(2+r)} + ... + \frac{1}{n \cdot(n+r)} \). Für \(r = 1\) erhält man die Hälfte der zuletzt betrachteten Folge. Für \(r = 2\) ergibt der Grenzwert \(\frac{3}{4},\) für \( r = 3\) hat man den Grenzwert \(\frac{11}{18},\) für \(r = 4\) ergibt sich der Grenzwert \(\frac{25}{48}\) und so weiter.
Alle Teilsummenfolgen dieses Typs sind konvergent; Mengoli konnte beweisen, dass für den Grenzwert gilt: \(\frac{1}{1 \cdot(1+r)} + \frac{1}{2 \cdot(2+r)} + ... = \frac{1}{r} \left( 1+ \frac{1}{2}+ \frac{1}{3} + ... +\frac{1}{r} \right).\)
Vergeblich versuchte er, auch den Sonderfall \(n = 0\) zu lösen; der Beweis, dass die Folge der Teilsummen der reziproken Quadratzahlen \(Q_n = 1+ \frac{1}{4} + \frac{1}{9} + ... \frac{1}{n^2}\) konvergiert und dass für den Grenzwert gilt \(Q=\frac{\pi^2}{6} ,\) gelang erst 85 Jahre später Leonhard Euler. Zuvor hatten Mathematiker der Universität Basel, darunter Jacob Bernoulli, vergeblich versucht, den Grenzwert zu bestimmen (so genanntes Basler Problem). Übrigens ging man lange Zeit irrtümlich davon aus, dass es Jacob Bernoulli war, der als Erster die Divergenz der harmonischen Reihe bewiesen hatte, bis man entdeckte, dass Oresme und Mengoli ihm zuvor gekommen waren.
Mengoli untersuchte auch Kehrwerte von Produkten aus drei aufeinanderfolgenden natürlichen Zahlen; u. a. zeigte er, dass \(\frac{1}{1\cdot 2 \cdot 3} + \frac{1}{2\cdot 3 \cdot 4} + ... = \frac{1}{4}.\)
In seinem Werk »Geometriae speciosae elementa« aus dem Jahr 1659 setzte er seine Untersuchungen zu konvergenten und divergenten Folgen fort; im Prinzip entdeckte er dabei die Grenzwertsätze für Summen, Produkte und Quotienten. Er zerlegte Flächen mit Hilfe von einbeschriebenen und umbeschriebenen Parallelogrammen und bewies, dass die zugehörigen Teilsummenfolgen gemeinsame Grenzwerte besitzen; der Einfluss seiner Vorgehensweise auf Wallis und Leibniz ist unverkennbar.
In einer 1672 veröffentlichten Schrift (»Circulo«) untersucht er, welche Flächen unter Graphen vom Typ \(\sqrt{x^m \cdot (1-x)^n} \) eingeschlossen werden.
Angeregt durch Veröffentlichungen des französischen Mathematikers Jacques Ozanam beschäftigte sich Mengoli in den 1670er Jahren mit speziellen diophantischen Gleichungen, also Gleichungen mit ganzzahligen Lösungen. Ozanam hatte unter anderem das folgende Sechs-Quadrate-Problem gestellt: Gesucht sind drei natürliche Zahlen \(x, y, z,\) deren Differenzen \(x-y, x-z, y-z \) jeweils Quadratzahlen sind und die Differenzen \(x^2-y^2, x^2-z^2, y^2-z^2 \) der Quadrate ebenfalls. (Hinweis: Ozanam stellte später auch ein analoges Problem mit Summen anstelle von Differenzen.)
Mengoli versuchte zu beweisen, dass es keine Lösungen für das Problem gibt; als aber Ozanam ein Lösungstripel präsentierte (2 288 168, 1 873 432, 2 399 057), sah er seine Reputation gefährdet und machte sich erneut auf die Suche. Und nachdem er sich intensiv mit den Eigenschaften pythagoreischer Zahlentripel beschäftigt hatte, fand er schließlich zwei weitere Lösungen.
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