Schlichting!: Bedeckeln gegen Widerstände
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich als Kind nach dem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel meine Freude daran hatte, die Schachtel (»Stülpdeckelkarton«) zu verschließen und den langsamen Sinkvorgang des Deckels durch Herabpressen ein wenig zu beschleunigen. Dabei spürte ich die an den Seiten ausströmende Luft und hörte je nach Stärke des Drucks ein leichtes Zischen. Nicht immer funktionierte das problemlos. Manchmal schwankte der Deckel, geriet in eine Schieflage und verkantete sich. Dann bremste die Reibung den Vorgang aus.
Ich weiß nicht mehr, ob mir damals schon klar war, wodurch diese subtile Dynamik bewirkt wird. Wenn man genau hinschaut oder hinhört, erschließt sich die Ursache wie von selbst. Denn während Deckel und Bodenteil aneinander vorbeigleiten, verändert sich das von beiden eingeschlossene Volumen. Weil dabei Luft in Bewegung gesetzt wird und zwangsläufig durch den mehr oder weniger schmalen Zwischenraum strömen muss, ist eine entsprechende Kraft erforderlich.
Überlässt man den Schließvorgang sich selbst, indem man den sorgfältig über dem Bodenteil platzierten Deckel loslässt, so kommt nur dessen Gewichtskraft zur Geltung. Normalerweise führt eine Kraft zu einer Beschleunigung. Dem steht in diesem Fall eine Reibungskraft entgegen. Sie resultiert vor allem aus Strömungswiderstand, während die Luft an den Wänden im engen Bereich zwischen Karton und Deckel entlanggetrieben wird. Ähnliche Vorgänge gibt es beim Öffnen der Schachtel.
Untersucht man den Fall genauer, so stellt man fest, dass beim selbsttätigen Absinken des Deckels trotz dessen unveränderter Gewichtskraft die Geschwindigkeit allmählich abnimmt. Im umgekehrten Fall des Anhebens gelingt das hingegen immer schneller. Denn zwar bleibt der Spalt zwischen Deckel und Boden gleich breit, aber die Luftreibungskraft ist nicht konstant, weil die sich gegenüberliegenden Flächen der Pappwände variieren. Damit ändert sich der Strömungswiderstand und nimmt zu oder ab, je nachdem, ob der Karton verschlossen oder geöffnet wird. Wir haben es also mit nicht linearen Verhältnissen zu tun.
Bei der Herstellung solcher Kartons spielt daher die Größe und die Form des Zwischenraums eine wichtige Rolle. Ist er zu klein, dann dauert es möglicherweise zu lang, die Schachtel zu öffnen. Ist er zu groß, so könnte der geschlossene Behälter nicht dicht und stabil genug sein.
Wenn man verschiedene Stülpdeckelkartons ausprobiert, wird man unter anderem feststellen, dass die Deckel unterschiedliche Zeiten benötigen, um auf den jeweiligen Boden herabzusinken. Die Frage liegt nahe, welche Verschlusszeit optimal ist und von welchen Bedingungen sie abhängt.
Boxen und Kolben im Labor
Die Fluiddynamikerin Jolet de Ruiter von Dänemarks Technischer Universität hat gemeinsam mit Kollegen versucht, die physikalischen Vorgänge besser zu verstehen, die dabei im Spiel sind. Ihr Ziel war eine quantitative Beschreibung der Abläufe beim Schachtelschließen, um auf dieser Grundlage beispielsweise den Herstellern von Kartons Verbesserungsvorschläge für die Produktion zu geben.
Die Forschungsgruppe wollte bei ihren Experimenten nicht allein auf kommerziell verfügbare Kartons angewiesen sein, die oft ungenau verarbeitet sind. Deswegen hat das Team außerdem mit Zylindern und passenden Kolben gearbeitet, die im Prinzip genauso funktionieren. Sie lassen sich allerdings sehr präzise mit Hilfe von 3-D-Druckern fertigen und wunschgemäß aufeinander abstimmen.
In einer Standardausführung bei diesen Experimenten war der Luftspalt konstant breit, die Kolbenwände verliefen also parallel zum Zylinder. Daneben gab es Varianten, bei denen sich die Lücke während des Schließens entweder vergrößerte oder verkleinerte. Dabei beeinflusste die Form die Gleitgeschwindigkeit maßgeblich. Die so gewonnenen Erkenntnisse lassen sich auf Deckel und Bodenteil eines normalen Kartons übertragen. Dann zeigt sich: Wenn sich die Lücke beim Schließen verjüngt, verringert sich die Gleitgeschwindigkeit noch stärker als bei einem gleich bleibenden Abstand. Führt man jedoch die Wände so aus, dass sich der Luftspalt geringfügig verbreitert, so lässt sich die Geschwindigkeit sogar konstant halten.
Der Zusammenhang könnte nicht nur für die Herstellung möglichst schnell oder gleichmäßig schließender Schachteln interessant sein. Das dänische Team hofft darüber hinaus, dass sich das Ergebnis auf ähnliche Systeme übertragen lässt, bei denen Luft durch enge Spalte strömt, etwa Türen oder Fenster.
»Wie sich dünn und immer dünner das Fluidum dehnt / Und Stille mit Leere wohnlich versöhnt«Erasmus Darwin
Bei der Studie blieb der umgekehrte Fall der Öffnung solcher Kartons außen vor. Die Situation ist nämlich insofern komplizierter, als das Anheben außerdem vom Volumen und Gewicht des Bodens abhängt. Dieses etwas anspruchsvollere Problem könnte der Forschungsgruppe zufolge Gegenstand einer zukünftigen Untersuchung werden.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.