Schlichting!: Zeit stoppen durch Handauflegen
Sieht man von einigen Nischen ab, in denen die Sanduhr bis in unsere Zeit hinein überlebt hat, spielt sie heute für die Zeitmessung keine Rolle mehr. Doch jahrhundertelang galten solche Geräte als ausreichend präzise für viele alltägliche Anwendungen. Dabei wird die Dauer bestimmt, die der Sand braucht, um vom oberen ins untere Glasgefäß zu gelangen.
Bereits bei den ersten Exemplaren stellte sich bald heraus, dass normaler Sand gar nicht so gut geeignet ist, weil er etwa durch unterschiedliche Körnung und andere Nachteile leicht in dem engen Hals zwischen den beiden Behältern stockt. Es wurden daher schon sehr früh andere Granulate benutzt, die einen möglichst gleichmäßigen Durchfluss ermöglichen.
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum nicht statt des Granulats Wasser benutzt wird, mit dem sich solche Schwierigkeiten vermeiden ließen. Lange vor der Sanduhr waren in der Antike tatsächlich Wasseruhren in Gebrauch. Allerdings haben sie einen entscheidenden Nachteil: Die Durchflussmenge hängt vom hydrostatischen Druck des Wassers ab. Der wiederum wird durch dessen Höhe im oberen Gefäß bestimmt. Da der Pegel stetig sinkt, ist der Strom naturgemäß nicht konstant.
Kraftbrücken zwischen den Körnchen verstetigen den Zeitfluss
Demgegenüber läuft bei der Sanduhr das Granulat gleichmäßig mit stets derselben Geschwindigkeit durch die Öffnung, unabhängig von der Füllhöhe. Diese fundamentale Eigenschaft von Granulaten ist darauf zurückzuführen, dass die Körner Brücken bilden. Diese lenken die Gewichtskraft der darüberliegenden Nachbarn auf die Seitenwände des Behälters um, wo sie durch Reibung fixiert werden – ähnlich wie bei Steinen in Torbögen.
Der Druck durch die Last der Teilchen steigt mit der Tiefe daher nur asymptotisch bis zu einem Schwellenwert an. Sobald die Schichtung doppelt so hoch ist wie der Behälter breit, bleibt der Druck am Boden praktisch konstant. Unter diesen Bedingungen herrschen an der Öffnung daher stets dieselben Verhältnisse und ein gleich bleibender Massenstrom.
Trotz dieser guten Voraussetzungen lässt sich eine Sanduhr durchaus manipulieren. Wenn man sie zum Beispiel rhythmisch auf und ab bewegt, dauert es länger, bis sich der obere Behälter in den unteren entleert – die Uhr geht nach. Dieses merkwürdige Verhalten ist eine weitere Konsequenz der im Granulat ausgebildeten Kraftbrücken. Sie hängen vom auflastenden Gewicht ab, das heißt vom Produkt der Masse und der Schwerebeschleunigung. Deshalb ändert sich beim Schütteln die Bedingung für einen gleichmäßigen Durchfluss.
Gedränge nach unten, Erleichterung nach oben
Entscheidend ist dabei: Die Beschleunigungen in der einen und der anderen Richtung wirken asymmetrisch. Wegen des konstanten Drucks im Granulat bleibt eine zusätzliche Beschleunigung auf das Granulat nach unten wirkungslos. Demgegenüber nimmt in umgekehrter Richtung der Druck ab, und damit strömt das Granulat schwächer. Das verzögert in der Summe das Rinnen vom oberen in den unteren Behälter.
Außer mit dem Granulat ist eine Sanduhr mit Luft gefüllt. Sie spielt auch beim Betrieb der Sanduhr eine zwar unauffällige, aber wichtige Rolle. Der durch die Verengung fließende Sand führt stets eine kleine Menge Luft mit sich, wodurch sich der Luftdruck im unteren Behälter schrittweise ein wenig erhöht und im oberen Gefäß entsprechend verringert. Sobald der Druckunterschied ein bestimmtes Maß überschreitet, drängt Luft ausgleichend von unten nach oben und bremst das Granulat einen Augenblick lang.
»Siehe eine Sanduhr: Da läßt sich nichts durch Rütteln und Schütteln erreichen«Christian Morgenstern
In dieses Geschehen kann man auf einfache Weise eingreifen und damit gleichzeitig beweisen, dass der unsichtbare ausgleichende Luftstrom äußerst real ist. Dazu muss man nur den unteren Behälter mit den Händen möglichst großflächig umschmiegen. Nach kurzer Zeit stoppt der Sand: Die Zeit steht still.
Die im Vergleich zur Umgebung und damit zur Temperatur der Sanduhr warmen Hände heizen den unteren Behälter auf – und wegen deren geringer Wärmekapazität als Erstes die darin enthaltene Luft. Der infolgedessen steigende Luftdruck wirkt dementsprechend zusätzlich dem Herabrieseln des Granulats entgegen.
Ich habe mehrere kommerziell zu erwerbende Exemplare verschiedener Hersteller allesamt mit Erfolg ausprobiert. Wer es dennoch nicht mit der Wärme der Hände allein schaffen sollte, kann die Sanduhr vorher einige Zeit in den Kühlschrank stellen. Ebenso ist es eindrucksvoll, den unteren Teil dem heißen Gebläse eines Haartrockners auszusetzen. Der unvorbereitete Beobachter wird dabei manchmal auf den abwegigen Gedanken gebracht, der warme Luftstrom würde auf irgendeine Weise den Sand im luftdicht abgeschlossenen Glas beeinflussen.
Die Unterbrechung ist jedoch nicht von großer Dauer. Denn wie stark der Luftdruck durch die Erwärmung im unteren Behälter auch erhöht wird, schließlich kommt es zum Temperatur- und Druckausgleich. Dann beginnt die Zeit erneut zu fließen.
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