Der Mathematische Monatskalender: Simon Stevin (1548–1620): »Das Zehntel«
Der flämische Mathematiker, Physiker und Ingenieur Simon Stevin gehört zu den weniger bekannten Persönlichkeiten der Wissenschaftsgeschichte; sein Wirken hat jedoch viele Spuren hinterlassen.
Man kennt nicht einmal sein genaues Geburts- und Todesdatum; sein Geburtsort war Brügge; an welchem Ort er starb, ist unsicher: Leiden oder den Haag.
In calvinistischer Tradition erzogen, wächst er in Flandern auf, wird Buchhalter und Kassierer einer Handelsfirma in Antwerpen, reist mehrere Jahre lang durch Polen, Preußen und Norwegen, bis er 1577 eine Arbeit bei der Steuerbehörde in Brügge übernimmt.
Um diese Zeit gehören die 17 Provinzen der Niederlande, die auch das Gebiet des heutigen Belgiens, Luxemburgs und Teile Nordfrankreichs umfassen, zum spanischen Herrschaftsgebiet. Große Teile der Bevölkerung, vor allem in den nördlichen Provinzen, sind zum calvinistischen Glauben übergetreten. Als im Jahre 1567 König Philipp II. von Spanien den Herzog von Alba als Statthalter einsetzt und dieser eine Strafexpedition gegen die Protestanten durchführt, beginnt ein Krieg, der erst 1648 mit dem Friedensvertrag von Münster (Teilvertrag des Westfälischen Friedens) endet. 1579 schließen sich die protestantischen Provinzen im Norden der Niederlande zur Utrechter Union zusammen und erklären als Republik der Vereinigten Niederlande ihre Unabhängigkeit; sie wählen Wilhelm von Oranien zum Regenten.
Mit der Zuspitzung der politischen Verhältnisse verändert sich auch die Lebenssituation Simon Stevins: Obwohl er bereits 33 Jahre alt ist, besucht er noch eine Lateinschule und nimmt anschließend ein Studium an der neu gegründeten Universität zu Leiden auf. Dort freundet er sich mit Maurits (Prinz Moritz von Nassau) an, dem zweitältesten Sohn von Wilhelm von Oranien. Als Wilhelm 1584 von einem fanatischen Katholiken ermordet wird, ist Maurits der neue Regent, und Simon Stevin wird einer seiner wichtigsten Berater.
Zunächst aber wird Simon Stevin als Autor von Büchern über die Anwendung von Mathematik bekannt. 1582 erscheinen die Tafelen van Interest; dieses Buch enthält neben den Zinstafeln auch Regeln und Beispiele zur Zinsrechnung – Jahrhunderte lang hatten die Bankkaufleute Europas solche Listen unter Verschluss gehalten.
1583 wird Problemata Geometrica veröffentlicht – sein einziges Buch in lateinischer Sprache. Ausgehend von Konstruktionen, die in den Werken von Euklid und Archimedes enthalten sind, beschäftigt er sich intensiv mit der Konstruktion von Vielecken und Polyedern; dabei nimmt er auch Anregungen aus Albrecht Dürers Vnderweysung der messung mit dem zirckel vnd richtscheyt aus dem Jahr 1525 auf.
Nach Dialectike ofte Bewijsconst (Beweiskunst) folgt 1585 sein einflussreichstes Werk: De Thiende (Das Zehntel). Dieses Buch widmet er den Sterrekykers, Landtmeters, Tapijtmeters, Wijnmeters, Lichaemmeters int ghemeene Muntmeesters, ende alle Cooplieden (Sternenbeobachter, Landvermesser, Tuchhersteller, Weinhändler, Raum-Vermesser im Allgemeinen und Münzmeister sowie alle Kaufleute), aber die 29 Seiten umfassende Schrift, die noch im gleichen Jahr in französischer Sprache, 1602 in Dänisch, 1608 in Englisch erscheint, hat eine weit darüber hinaus gehende Wirkung: Viele Quellen bezeichnen das Erscheinen des Werks und seiner Übersetzungen als den Beginn des Rechnens mit Dezimalzahlen in Europa.
Stevin erläutert an Beispielen die vier Grundrechenarten und das Wurzelziehen und demonstriert so die Vorteile des Rechnens mit Dezimalzahlen. Außerdem plädiert er für die Einführung eines dezimalen Einheitssystems im Münzwesen, bei den Maßen und Gewichten. Die englische Ausgabe mit dem Titel Disme veranlasst Ende des 18. Jahrhunderts Thomas Jefferson, für die neue amerikanische Währung ein Zehnersystem zu wählen und den Zehntel-Dollar als »dime« zu bezeichnen.
Mohammed Al-Khwarizmi (780 – 850) gilt als derjenige, dem wir die Verwendung der »indischen« Ziffern verdanken. Das Rechnen mit Dezimalzahlen ist von Abu'l-Hasan al-Uqlidisi (um 950) entwickelt worden; statt des heute üblichen Dezimalpunkts / -kommas setzt er einen kleinen senkrechten Strich. Jamshid Al-Kashi (1380 –1429) schließlich rechnete mit Dezimalzahlen bereits so, wie wir es heute gewohnt sind. Und der Schotte John Napier ist es dann 1617, der den Dezimalpunkt »erfindet«.
Stevin verwendet für Dezimalzahlen eine besondere Schreibweise, damit sich die Menschen an die Bedeutung der Dezimalstellen gewöhnen; später vereinfacht er sie: Beispielsweise notiert er die Zahl 184,5429 als \(184\circ 5①4②2③9④\); dabei weisen die eingekreisten Zahlen auf die entsprechenden Potenzen von ein Zehntel hin.
Im selben Jahr wie De Thiende erscheinen in La pratique d'arithmétique und L'arithmétique (auf Französisch), in denen er sich mit Näherungslösungen von Gleichungen beliebigen Grades beschäftigt und diese als Dezimalzahlen darstellt. Er plädiert dafür, alle Lösungen von Gleichungen als »Zahlen« anzusehen und keine Unterschiede mehr zu machen zwischen positiven und negativen, rationalen und irrationalen Lösungen, was von dieser Zeit an von allen Mathematikern angenommen wird.
Im Jahr 1596 folgen De Beghinselen der Weeghconst (Grundlagen der Statik) zusammen mit De Beghinselen des Waterwichts (Grundlagen der Hydrostatik). Zunächst erläutert Stevin in Uytspraeck van de weerdicheyt der Duytsche tael (Ausführungen über den Wert der niederländischen Sprache), warum er diese Sprache als besonders geeignet für wissenschaftliche Darstellungen hält: Keine andere besitzt so viele einsilbige Wortstämme und erleichtert damit das Bilden zusammengesetzter Wörter. Stevin »schmiedet« – wie er es nennt – Wörter, die von da an in die Fachsprache übernommen werden: Für die Mathematik führt er die Bezeichnung wiskunde ein (von wisconst – die Kunst vom sicheren Wissen). Von ihm stammen auch die Wörter für die Grundrechenarten optellen, aftrekken, vermenigvuldigen und delen, aber auch hoofdstuk (Kapitel), stelling (Satz), voorstel (Proposition), stelkunde (Algebra), driehoek (Dreieck), viercant (Quadrat), viercanting (Quadrieren), viercantsijde (Quadratwurzel), evenredigheid (Proportionaliät), loodlijn und raaklijn (Lot und Tangente), rondt und scheefrondt (Kreis und Ellipse), middellijn (Durchmesser), evenwijdig (parallel).
In dem Buch geht Stevin über die Arbeiten von Archimedes hinaus; er entdeckt das Kräftedreieck (Wirken drei Kräfte, die eine geschlossene Vektorkette bilden, auf einen Körper, dann bleibt dieser in Ruhe); er begründet dies durch ein Gedankenexperiment.
Auch untersucht er den Druck in Flüssigkeiten: Dieser ist unabhängig von der Form des Behälters und hängt nur von der Wasserstandshöhe über dem Boden ab; er ist in allen Richtungen gleich (»Hydrostatisches Paradoxon«).
Um 1600 beauftragt Maurits seinen Freund und Berater mit der Gründung einer Ingenieurschule innerhalb der Universität von Leiden; Stevin hält selbst Vorlesungen in praktische wiskunde. Später ernennt er Stevin zum Direktor der Regierungsbehörde für Wasserangelegenheiten und zum General-Quartiermeister der Armee. Unermüdlich ist der geniale Ingenieur als Berater beim Bau von Windmühlen und Schleusen tätig, plant Häfen und Befestigungsanlagen. Er verbessert das System der Ent- und Bewässerungskanäle und gilt als Erfinder der militärischen Strategie der jungen Republik, angreifende Heere durch Flutung der besetzten Gebiete zu vertreiben. Aufsehen erregt die Erfindung eines Segelwagens für 28 Personen, der eine 80 km lange Küstenstrecke in nur zwei Stunden zurückgelegt haben soll.
Auch die nach 1590 verfassten Schriften – Het Burgerlick leven (über Bürger-pflichten), De Stercktenbouwing (Festungsbau), De Havenvinding (Positionsbestimmung auf dem Meer), De Hemelloop (Befürwortung des Kopernikanischen Weltbildes), Van de beghinselen der Spiegelschaeuwen (über Spiegelbilder), De Deursichtighe (über die Perspektive), Vorstelicke Bouckhouding (doppelte Buchhaltung), Driehouckhandel (Trigonometrie), De Spiegheling der Singconst (Musiktheorie – als Erster benutzt er Dezimalzahlen, um eine Oktave in zwölf gleiche Stufen zu unterteilen) – belegen die Vielseitigkeit eines Wissenschaftlers, den die niederländische Postverwaltung bisher wohl übersehen hat.
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