Der Mathematische Monatskalender: Thomas Simpson, der Wahrsager
Es sind vor allem zwei Regeln der Integralrechnung, die an den englischen Mathematiker Thomas Simpson erinnern: Bei der so genannten ⅓-Regel verwendet man die Funktionswerte am Anfang, in der Mitte sowie am Ende des Integrationsintervalls dazu, den Graphen der Funktion f durch eine quadratische Parabel P anzunähern und so den Inhalt der Fläche zwischen Graph und x-Achse näherungsweise zu bestimmen:
\[ \int_a ^b f(x) dx \approx \frac{1}{3}h \left[ f(a) + 4f\left(\frac{a+b}{2} + f(b) \right) \right], \]wobei h = (b−a)/2 gleich dem jeweiligen Abstand der drei Stützstellen a, m = (a+b)/2, b ist.
Bei der 3/8-Regel werden hingegen vier Stützstellen betrachtet und entsprechend eine Näherung durch eine kubische Parabel untersucht. Hier gilt:
wobei h = (b−a)/3 gleich dem jeweiligen Abstand der vier Stützstellen a, (2a+b)/3, (a+2b)/3, b ist. Dieser Ansatz lässt sich verallgemeinern.
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Die Idee der ⅓-Regel liegt auch der so genannten Fassregel von Johannes Kepler (1571–1630) zu Grunde (näherungsweise Volumenbestimmung eines Fasses durch Rotation einer quadratischen Parabel).
Thomas Simpson gab an, die Formel bei Isaac Newton gefunden zu haben, das heißt, eigentlich müsste die Regel Newtons Namen tragen. Andererseits war Thomas Simpson der Erste, der die üblicherweise als »Newton-Formel« bezeichnete Rekursionsgleichung xn+1 = xn − f(xn)/ f'(xn) zur näherungsweisen Bestimmung der Nullstelle einer differenzierbaren Funktion f veröffentlichte (im Jahr 1740, 13 Jahre nach Newtons Tod).
Simpson arbeitete eigentlich als Weber
Thomas Simpson wurde als Sohn eines Webers in Market Bosworth, Leicestershire, geboren. Dort besucht er eine Schule, an der er aber wohl kaum mehr als Lesen, Schreiben und einfaches Rechnen lernte. Zunächst arbeitete er – wie sein Vater – als Weber, bis ihm im Alter von 14 Jahren das Arithmetikbuch von Edward Cocker in die Hände fiel, das nach der Veröffentlichung im Jahr 1678 über 100 Auflagen hatte. Das Buch arbeitete er selbstständig durch – offensichtlich erfolgreich, denn bereits im folgenden Jahr konnte der 15-Jährige sein Elternhaus verlassen, um im benachbarten Ort Nuneaton (Warwickshire) als Mathematiklehrer tätig zu werden.
Im Alter von 19 Jahren heiratete Simpson eine Witwe, deren Sohn aus erster Ehe älter war als der neue Ehemann. In dieser Ehe wurden später zwei Kinder geboren.
In der Zwischenzeit hatte Simpson auch Werke zur Astrologie durchgearbeitet; einen Teil seiner Einkünfte verdiente er sich nunmehr als Wahrsager – bis er eines Tages den Bogen überspannte und während einer Sitzung den »Teufel« erscheinen ließ. Nach diesem Skandal konnte er nicht mehr in Nuneaton bleiben. Er floh nach Derby, wo er wieder als Weber tätig war, und gab Rechenunterricht an einer Abendschule.
1736 zog er nach London, wo er der Spitalfields Mathematical Society beitrat, ein Zusammenschluss von interessierten Handwerkern, die meisten von ihnen waren Weber.
Karriere als Mathematiklehrer
Seinen Lebensunterhalt verdiente Simpson als Mathematiklehrer an Penny Universities: Kaffeehäuser, in denen man sich gegen die Bezahlung eines Eintrittsgelds von einem Penny Vorträge anhören konnte, auch zu rechtlichen und künstlerischen Themen. Abraham de Moivre musste sich auf die gleiche Weise seinen Lebensunterhalt verdienen, da es ihm als französischem Emigranten – trotz Newtons Unterstützung – nicht gelang, eine feste Anstellung zu finden.
Noch im selben Jahr veröffentlichte Simpson erste Beiträge im »The Ladies Diary« (Woman's Almanack – entworfen für den Brauch und die Abwechslung des schönen Geschlechts), einem damals viel gelesenen Jahreskalender mit Rätseln aller Art, interessanten Nachrichten aus der Wissenschaft und mathematischen Problemen. Einer der Artikel beschäftigte sich mit »Fluxionen« (Elementen aus den Vorläufern der Integral- und Differenzialrechnung), einem Thema, das – wegen der lautstarken Kritik des Bischofs George Berkeley – auf großes Interesse bei den Leserinnen stieß.
Anfänge der Integral- und Differenzialrechnung
Simpson stellte unter Beweis, dass er die newtonsche Differenzialrechnung verstanden hatte: 1737 erschien das anspruchsvolle Werk »Treatise of Fluxions«, das unter anderem die oben angegebene simpsonsche Regel und die newtonsche Formel enthält, außerdem 22 Anwendungsaufgaben, in denen er mit Hilfe der Nullstellen der Ableitung Maxima und Minima bestimmte, beispielsweise:
Gesucht ist …
- unter allen rechtwinkligen Dreiecken mit fester Hypotenuse das flächengrößte,
- unter allen gleichschenkligen Dreiecken, deren Seiten einen vorgegebenen Kreis berühren, das flächenkleinste,
- unter allen Kegeln mit gleicher Oberfläche der volumenkleinste,
- die minimale Entfernung zweier Körper, die sich jeweils mit konstanter Geschwindigkeit geradlinig von zwei Orten aus bewegen,
- die Richtung eines Bootes, das einem vorbeifahrenden Schiff möglichst nahe kommen soll.
1740 folgte »The Nature and Laws of Chance« und 1742 »The Doctrine of Annuities and Reversions« zur Wahrscheinlichkeitsrechnung und über die Berechnung von Versicherungsbeiträgen. Im Vorwort lobte Simpson das 1738 in zweiter Auflage erschienene Werk »Doctrine of Chances« von de Moivre als »excellent book«. De Moivre allerdings beklagte die zahlreichen Übereinstimmungen mit seinem Buch, vor allem aber, dass er, der auf den Verkauf seines Buches angewiesen war, dadurch starke Einnahmeverluste erlitt.
Weitere Bücher folgten: »A treatise of Algebra« (1745, mit insgesamt 16 Auflagen auch in anderen Sprachen), »Elements of Plane Geometry« (1747, konzipiert als Schulbuch), »Trigonometry – Plane and Spherical« (1748, mehrere Auflagen, auch in Französisch).
In der Zwischenzeit wurde Simpson zum Leiter der Mathematikabteilung der Royal Military Academy in Woolwich berufen (1743), einer Einrichtung für zukünftige Offiziere der Royal Artillery und der Royal Engineers. Von diesem Zeitpunkt an beschäftigte sich Simpson stärker auch mit der Lösung technischer Probleme, etwa dem Bau von Befestigungsanlagen und einer Brücke über die Themse.
1745 wurde Simpson Mitglied der Royal Society, 1758 zudem Mitglied der Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Von 1754 an war er Herausgeber von »The Ladies Diary«, eine Tätigkeit, die wegen der umfangreichen Korrespondenz sehr aufwändig war.
In den Folgejahren verfasste er weitere Bücher: »Doctrine and Application of Fluxions« (1750, erweitere Ausgabe in zwei Bänden), »Selected Exercises in Mathematics« (1752), »Miscellaneous Tracts on Some Curious Subjects in Mechanics« sowie »Physical Astronomy and Speculative Mathematics« (1757).
Das letzte Werk enthält unter anderem eine Untersuchung der Umlaufbahn des Mondes; zur Bestimmung des erdfernsten Punkts (Apogäum) stellte er – zur gleichen Zeit wie Alexis Clairaut und unabhängig von diesem – eine Differenzialgleichung auf und löste sie allgemein.
Das Buch enthält auch eine Lösung eines Problems, das Pierre de Fermat im Jahr 1646 Evangelista Torricelli vorstellte: Gesucht ist ein Punkt D, dessen Summe der Abstände von drei Punkten A, B, C minimal ist. Torricelli zeigte: Errichtet man über den drei Seiten des Dreiecks ABC gleichseitige Dreiecke, dann schneiden sich deren Umkreise in dem gesuchten Punkt (so genannter Torricelli-Punkt oder Fermat-Punkt). Simpson bewies: Verbindet man die Eckpunkte des Dreiecks ABC mit den Eckpunkten der gegenüberliegenden gleichseitigen Dreiecke, dann schneiden sich diese so genannten Simpson-Linien im Torricelli-Punkt.
Die Vielzahl der Aktivitäten beeinträchtigten Simpsons Gesundheitszustand und führten letztlich zu seinem frühen Tod.
Nach der Lektüre von Guillaume de L'Hôpitals »Analyse des infiniment petits« über die leibnizsche Differenzialrechnung wurde ihm – dem Verfasser eines der profiliertesten Bücher zur newtonschen Lehre – bewusst, dass die englischen Mathematiker dabei waren, den Anschluss an die Entwicklung auf dem Kontinent zu verlieren. Mahnend schrieb er: »Foreign Mathematicians have, of late, been able to push their Researches farther, in many particulars, than Sir Isaac Newton and his Followers here, have done …«
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