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Fragen und Antworten zur Reaktorsicherheit: Wie gefährlich ist die Lage an den ukrainischen Atomkraftwerken?

Das Feuer im Kraftwerk Saporischschja ist gelöscht, doch die Gefahr eines Atomunfalls besteht weiter. Dazu brauche es gar keinen Treffer auf die gut geschützte Reaktorhülle, sagen Experten. Die Schwachstelle liege woanders.
Kernkraftwerk Saporischschja im Jahr 2019

In der Ukraine hat sich die Sicherheitslage für die Bevölkerung noch einmal verschlechtert, nachdem russische Truppen in der Nacht zu Freitag, den 4. März 2022, ein Ausbildungsgebäude und ein Labor im ukrainischen Kernkraftwerk Saporischschja in Brand geschossen haben. Das Feuer sei inzwischen gelöscht. Radioaktivität sei bei dem Vorfall nicht ausgetreten, melden die ukrainische Behörden. Die russische Armee teilt mit, dass die Anlage, bei der es sich um das größte Atomkraftwerk Europas handelt, inzwischen unter ihrer Kontrolle sei.

Der Vorfall schürt Ängste, auch in den Nachbarländern der Ukraine und dem übrigen Europa: Wie groß ist die Gefahr, dass es durch die Kämpfe zu einem atomaren Zwischenfall kommt? Droht womöglich ein Super-GAU, wie ihn das Land im Jahr 1986 in Tschernobyl erlebte? Und welche Maßnahmen könnten helfen, um das Risiko eines Nuklearunfalls zu minimieren?

In der Ukraine versorgen in Friedenszeiten 15 Kernkraftreaktoren in vier Kraftwerken das Land mit der Hälfte seines elektrischen Stroms. Zum ersten Mal werde nun ein »militärischer Konflikt« inmitten eines Gebietes ausgetragen, in dem große Atomanlagen betrieben werden, sagt Rafael Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) in der »Tagesschau«. Die Lage sei darum beispiellos. Die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearunfall in der Größenordnung, wie er im Jahr 2011 im japanischen Fukushima auftrat, schätzt Grossi jedoch als gering ein.

Feuer bricht aus in Europas größtem Kraftwerk | In der Nacht auf den 4. März 2022 geriet ein Ausbildungszentrum auf dem Gelände des AKW Saporischschja in Brand. Inzwischen sei das Feuer aber gelöscht, teilt die Nachrichtenagentur Tass mit. Die russische Armee habe den Reaktor unter ihre Kontrolle gebracht.

Aus Sicht von Christoph Pistner, dem Leiter der Abteilung für Nukleartechnik und Anlagensicherheit des Ökoinstituts, besteht jedoch in der Tat eine konkrete Gefahr für eine Kernschmelze. Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen sei er vor dem Zwischenfall in der Nacht auf Freitag nicht davon ausgegangen, dass die russischen Streitkräfte ein Kernkraftwerk absichtlich beschießen würden.

Es braucht keine Treffer auf den Reaktor selbst

Die größere Gefahr gehe allerdings nicht so sehr von direkten Treffern auf das Reaktorgebäude aus, sagt Pistner, sondern von einer Unterbrechung der Stromversorgung. Die Anlagen sind dauerhaft darauf angewiesen, ihre Brennstäbe zu kühlen. Gelingt das nicht, kann es wie in Fukushima zur Kernschmelze kommen. Dort hatte ein Tsunami die Notstromaggregate zerstört.

Zurzeit beziehen die Kraftwerke die zur Kühlung nötige Energie über das ukrainische Stromnetz. Bis vor Kurzem war es mit dem russischen gekoppelt, um Netzschwankungen zu stabilisieren. Doch diese Verbindung ist gekappt und soll nun durch einen Anschluss an das Stromnetz der westlichen Nachbarländer ersetzt werden. Durch die Kämpfe könnte es bis dahin zu großflächigen Blackouts kommen. Möglich ist aber auch, dass die Stromversorgung lokal ausfällt – etwa weil eine Stromleitung zerstört oder eine Trafostation getroffen wird.

Die Folge wäre die gleiche in beiden Fällen: Sollte die Energieversorgung ausfallen, würden die Kraftwerke den Strom für die Kühlung mit Hilfe von Dieselgeneratoren selbst erzeugen. Die Mitarbeiter hätten darum die Kraftstoffvorräte bereits vorsorglich aufgefüllt, sagt Pistner. Wie lange halten sie im Notfall? »Sicherlich einige Tage, aber wie lange genau, ist unklar. Und das kann schlimmstenfalls knapp werden«, erklärt Pistner. Viel hänge dann davon ab, ob die Versorgung von außen gewährleistet werden könne.

Maria Rost Rublee von der Monash University in Melbourne warnt ebenfalls vor einem fukushimaartigen Szenario, in dem die Notstromaggregate ausfallen. Sie seien massiv feuergefährdet, sagt die Expertin.

Anderer Reaktortyp, anderes Risiko

Der Nuklearexperte Tony Irwin von der Australian National University weist auf einen bedeutenden Unterschied der Reaktoren in Saporischschja zu denen in Tschernobyl und Fukushima hin: Die sechs Reaktoren verfügen über Notkühlsysteme, die passiv Wasser zur Kühlung einleiten. Zudem verwenden sie eigene Wasserkreisläufe für Kühlung und Dampferzeugung.

Die Unglücksreaktoren in Fukushima waren Siedewasserreaktoren US-amerikanischer Bauweise, in der Ukraine kommen dagegen Druckwasserreaktoren russischer Bauweise zum Einsatz. Sie alle verfügen über ein zentrales Sicherheitselement, das der Anlage in Tschernobyl seinerzeit fehlte: eine komplette Abschirmung, die im Fall einer Kernschmelze verhindern soll, dass radioaktives Material in die Umgebung gelangt.

Das Gefahrenpotenzial an allen anderen Atomkraftstandorten in der Ukraine schätzt Pistner ungefähr gleich hoch ein.

Sollten die Reaktoren sofort abgeschaltet werden?

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit sind aktuell 9 der 15 ukrainischen Reaktoren am Netz. Sie liefern einen großen Teil des landesweiten Energiebedarfs. Ob man sie besser vorsorglich abschalten sollte, um das Risiko einer Nuklearkatastrophe zu minimieren, ist umstritten. Wenn jetzt Kraftwerke heruntergefahren würden, verringere sich der Aufwand für die Kühlung etwas, bleibe aber weiterhin bestehen, sagt Pistner. Ukrainische Kernkraftwerke lagern direkt neben ihren Anlagen zudem große Mengen an Brennelementen, die ebenfalls gekühlt werden müssen und von einem Herunterfahren nicht betroffen wären.

Der Experte des Ökoinstituts sieht noch ein anderes Problem. Normalerweise werden die Mitarbeiter regelmäßig ausgetauscht. Denn die psychische Anspannung sei enorm und steige in der jetzigen Situation nur noch weiter an. Gleichzeitig sind die Kraftwerksmitarbeiter ununterbrochen im Einsatz, was zu menschlichen Fehlern führen könne. Das Überwachungspersonal in Tschernobyl ist bislang ebenfalls nicht ausgetauscht worden und ununterbrochen vor Ort.

Sollte es tatsächlich zu einem Unfall in einem Atomkraftwerk kommen, bei dem Radioaktivität freigesetzt wird, würde die Kontamination in zwei bis drei Tagen Deutschland erreichen, insbesondere bei der aktuell vorherrschenden Ostwindlage. Die Messstellen hier zu Lande würden das innerhalb von Minuten feststellen. Aber auch auf den Kernkraftwerken selbst, in der Umgebung und mit Hilfe von NGOs würde schon früh bekannt werden, ob es zur Freisetzung von radioaktiven Stoffen gekommen ist.

Sollte man sicherheitshalber Jodtabletten gegen Strahlenschäden einnehmen?

Im Fall eines nuklearen Unfalls verhindern Jodtabletten, dass sich radioaktives Material in der Schilddrüse einlagert. Das Bundesamt für Strahlenschutz warnt allerdings davor, nun vorsorglich zu den Tabletten zu greifen. Eine Selbstmedikation berge erhebliche gesundheitliche Risiken und habe aktuell keinerlei Nutzen, erklärte auch das Bundesumweltministerium. Es rät dazu, sich auf der Seite des Bundesamts für Strahlenschutz und auch über die Website jodblockade.de über die Entwicklungen zu informieren. Beide Websites würden bei relevanten Entwicklungen aktualisiert, hieß es.

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