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Der Mathematische Monatskalender: Wacław Sierpiński (1882–1969): Meister der Fraktale

Besonderes Aufsehen erregen 1912 seine Untersuchungen über eine Folge von Kurven, die ihm zu Ehren als Sierpinski-Kurven bezeichnet werden: Nach rekursiv definierter Vorschrift wird eine geschlossene Linie gezeichnet, die sich von Schritt zu Schritt immer stärker verfeinert und scheinbar immer mehr das umgebende Quadrat ausfüllt.
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Wacław Sierpiński wuchs als Sohn eines Arztes in Warschau auf – seit 1815 (Wiener Kongress) Hauptstadt des Königreichs Polen. Dieses war jedoch nicht selbstständig, sondern wurde in Personalunion vom russischen Zar regiert – genauer gesagt, unterdrückt: Ziel war die Russifizierung des Landes; dabei sollte die Bildung der polnischen Bevölkerung möglichst gering bleiben. An der »Universität des Zaren«, wie die Warschauer Universität seit 1869 hieß, wurde nur in russischer Sprache gelehrt; alle Professoren waren ausschließlich Russen.

Trotz dieser Schwierigkeiten gelingt es dem hoch begabten Wacław Sierpiński, sich mit 18 Jahren an der Warschauer Universität in den Fächern Mathematik und Physik einzuschreiben. 1903 wird sein Beitrag zur Zahlentheorie für eine Auszeichnung vorgeschlagen und soll in der Zeitschrift »Isvestia« erscheinen; dabei geht es um eine Abschätzung der Anzahl n der Punkte mit ganzzahligen Koordinaten in einem Kreis mit Radius \(r\) um den Ursprung. Carl Friedrich Gauß hatte 1837 bewiesen, dass Konstanten \(C\) und \(k\) existieren derart, dass \(| n – r^2| < Cr^k\) , wobei \(k\leq 1\). Sierpiński kann diese Abschätzung auf \(k \leq \frac{2}{3}\) verbessern (Stand heute: \(k \leq \frac{7}{11}\)).

Er zieht dann aber seine Zustimmung für die Veröffentlichung zurück, weil er nicht möchte, dass seine erste wissenschaftliche Arbeit in russischer Sprache erscheint. Trotz seiner Verweigerung in einer russischen Pflicht-Sprachprüfung erhält er seinen Universitätsabschluss und beginnt eine Arbeit als Lehrer für Mathematik und Physik an einer Mädchenschule in Warschau. Nachdem diese Schule wegen eines Streiks geschlossen wird, wechselt er nach Krakau (damals: Österreich-Ungarn), um dort bei Stanisław Zaremba (1863–1942) zu promovieren.

1908 erfolgt seine Berufung als Professor nach Lwów (Lemberg) im damals ebenfalls zu Österreich-Ungarn gehörigen Galizien (heute: Ukraine). Die Information von Thaddeus Banachiewicz (1882–1954) aus Göttingen, dass es Georg Cantor (1845–1918) gelungen sei, Punkte in der Ebene mit einer einzigen Koordinate zu beschreiben (Cantorsches Diagonalverfahren), veranlasst ihn, sich näher mit Mengentheorie zu beschäftigen, und er verfasst zahlreiche Schriften.

Als der Weltkrieg ausbricht, befindet er sich gerade auf russischem Gebiet, und er wird interniert. Dem russischen Mathematiker Nikolai Luzin (1883–1950) gelingt es, ihn aus der Internierung zu befreien, und er verschafft ihm die Möglichkeit, an der Universität in Moskau zu arbeiten. Damit beginnt eine fruchtbare Zusammenarbeit der beiden Mathematiker, die auch fortgesetzt wird, als Sierpiński im Jahr 1919 eine Professur an der Universität Warschau übernimmt. Dort begründet er zusammen mit Zygmunt Janiszewski (1888–1920) die Fachzeitschrift »Fundamenta Mathematicae«.

Beide Hochschullehrer engagieren sich für eine »Polnische Schule der Mathematik«, ein System der Zusammenarbeit unter polnischen Mathematikern, was auch die Weiterbildung der Mathematiklehrer einschließt. Neben Warschau als nationalem Zentrum der Mathematik entsteht 1929 ein weiteres in Lwów unter Stefan Banach (1892–1945, berühmt wegen des »Banachschen Fixpunktsatzes«).

Sierpiński genießt als Mathematiker weltweites Ansehen, erhält zahlreiche Ehrungen von Universitäten in Europa und Übersee. Nach der deutschen Besetzung Polens im 2. Weltkrieg tarnt er sich als einfacher Mitarbeiter der Warschauer Stadtverwaltung, lehrt aber heimlich an der »Untergrund Universität«. Im Warschauer Aufstand im Jahre 1944 zerstören die deutschen Besatzungstruppen alle Bibliotheksbestände der Universität; auch sein Haus und alle persönlichen Aufzeichnungen werden verbrannt. Mehr als die Hälfte der wissenschaftlichen Mitarbeiter der mathematischen Fakultäten Polens kommt um, sodass der Wiederaufbau der polnischen Universitäten nach dem 2. Weltkrieg sehr schwierig wird. Bis zu seinem Tod verfasst Sierpiński die unglaubliche Anzahl von 724 wissenschaftlichen Beiträgen und 50 Büchern, darunter auch viele Schulbücher.

In der Zahlentheorie beschäftigt sich Sierpiński unter anderem mit der Verteilung der Ziffern von irrationalen Zahlen, ein bis heute ungelöstes Problem. Man beachte: Der Nachweis, dass bei einer Dezimalzahl die Ziffern 0, 1, ..., 9 gleich häufig auftreten, gelingt nicht dadurch, dass man beispielsweise die Verteilung der ersten 100 Millionen Ziffern untersucht. Umgekehrt fällt es jedoch leichter, eine Zahl zu konstruieren, die in einem Zahlsystem eine Gleichverteilung der Ziffern hat, zum Beispiel 0,(1)(10)(11)(100)(101)(110)(111)... 2 oder 0,(1)(2)(10)(11)(12)(20)(21)(22)... 3 und so weiter.

Ebenfalls ungelöst ist die Sierpinski-Vermutung: Gibt es unendlich viele ungerade natürliche Zahlen \(k\) derart, dass die Folge \(k \cdot 2^n + 1\) lauter zusammengesetzte Folgenglieder (das heißt keine Primzahlen) enthält? Man vermutet, dass 78557 die kleinste Sierpinski-Zahl ist (das heißt bei allen kleineren ungeraden Faktoren \(k\) treten irgendwann Folgenglieder auf, die Primzahlen sind).

Besonderes Aufsehen erregen 1912 seine Untersuchungen über eine Folge von Kurven, die ihm zu Ehren als Sierpinski-Kurven bezeichnet werden: Nach rekursiv definierter Vorschrift wird eine geschlossene Linie gezeichnet, die sich von Schritt zu Schritt immer stärker verfeinert und scheinbar immer mehr das umgebende Quadrat ausfüllt. Die Linie wird unendlich lang, die eingeschlossene Fläche (hier grau gefärbt) ist jedoch im Grenzfall nur halb so groß wie die Fläche des Rahmen-Quadrats!

Bei der Folge der Sierpinski-Dreiecke startet man mit einem Dreieck mit Flächeninhalt \(A\) und Umfang \(u\), in das man das Mittendreieck einträgt; das mittlere der entstehenden vier kongruenten Dreiecke wird entfernt (grau gefärbt), und in die verbleibenden wird wieder ein Mittendreieck eingetragen usw. Die entstehenden Dreiecke sind selbstähnlich, das heißt, jede dreieckige Teilfigur kommt selbst in der Folge der Dreiecke vor. Die zugehörige Folge der Flächeninhalte \(A_n\) der heraus genommenen Flächenstücke berechnet sich nach der Formel \(A_n=\frac{A}{3}\cdot \sum\limits_{k=1} ^{n}\) \(\left( \frac{3}{4} \right)^k\) konvergiert also gegen A.

Die Folge der Umfänge \(u_n\) dagegen wächst über alle Grenzen:
\(u_n=\frac{u}{3}\cdot \sum\limits_{k=1} ^{n}\) \(\left( \frac{3}{2} \right)^k\)
Der Sierpinski-Teppich wird analog konstruiert: Ein Quadrat wird in neun gleich große Quadrate unterteilt und das mittlere Teilquadrat herausgenommen. Bei der Folge der dreidimensionalen Sierpinski-Tetraeder wird aus jedem der Tetraeder jeweils ein Oktaeder herausgeschnitten; das Volumen der entstehenden Körper wird dabei von Schritt zu Schritt halbiert, die Volumen-Folge konvergiert daher gegen null; dagegen bleibt die Oberfläche von Schritt zu Schritt gleich!

März 2007

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