Schlichting!: Keine Chemtrails, aber trotzdem turbulent
Zum Frühjahr 2020 sind Kondensstreifen plötzlich eine seltene Himmelserscheinung geworden. Sonst war der Himmel von ihnen oft regelrecht vollgekritzelt, denn die Flugzeugspuren können je nach den meteorologischen Bedingungen sehr lange bestehen bleiben. Ihr auffälliges Fehlen infolge der weltweiten Einschränkungen des Reiseverkehrs macht bewusst, wie vertraut sie uns inzwischen geworden sind – fast wie natürliche Wolken.
Wer sie nun doch einmal beobachten kann, ist jetzt vielleicht umso mehr geneigt, genauer hinzuschauen. Dabei zeigt sich, dass die Streifen oft eine interessante Dynamik aufweisen bis hin zu drastischen Strukturänderungen und Verwirbelungen, hinter denen sich komplexe physikalische Vorgänge verbergen. Zumindest anfänglich sind die Linien noch schnurgerade. Das ist ein typisches Zeichen für ihren technischen Ursprung. Ihre Verursacher fliegen auf festem Kurs mit Geschwindigkeiten von um die 900 Kilometer pro Stunde und ziehen dabei die nebelartigen Bänder hinter sich her.
Bei der Entstehung spielt kondensierendes und gefrierendes Wasser die zentrale Rolle. Wasserdampf ist zum einen ein wesentlicher Bestandteil der Abgase der Flugzeuge selbst, zum anderen ist er bereits in der Atmosphäre vorhanden. Damit er allerdings kondensiert, muss die absolute Feuchte (das ist die tatsächliche Wassermenge in der Luft) größer sein als die maximale. Sonst lösen sich die Streifen schnell wieder auf oder entstehen gar nicht erst. Die maximale Feuchte sinkt in der Atmosphäre mit abnehmender Temperatur. In einer Flughöhe von zehn Kilometern herrschen meist minus 50 bis minus 60 Grad Celsius. Dennoch bilden sich dort oft noch keine Eiskristalle, selbst wenn die maximale Feuchte die absolute unterschreitet. Wegen der großen Reinheit der Luft fehlen nämlich Keime, an denen Wasserdampf kondensieren und gefrieren könnte. Solche Partikel gibt es in der Abgasfahne der Flugzeuge dagegen reichlich.
Die Kondensstreifen erkennt man erst ein Stück weit hinter dem Triebwerk. Denn zum einen müssen sich die Rauchgase genügend abkühlen, bevor Wasserdampf in die flüssige oder gefrorene Phase übergehen kann. Zum anderen sind die entstehenden Tröpfchen beziehungsweise Eiskristalle anfangs so klein, dass sie das Licht nicht stark genug streuen, um sichtbar zu sein. Bei sehr großer Feuchte beobachtet man zuweilen Kondensstreifen auch bei höherer Umgebungstemperatur in geringerer Höhe. Sie bestehen dann meist nicht aus Eiskristallen, sondern nur aus kondensiertem Wasserdampf.
Am Himmel zeigten sich weiße Schrammen
Guy Helminger, *1963
Natürliche Wolken haben komplizierte Strukturen. Die Kondensstreifen hingegen erscheinen zunächst als einfache Linien. Darum kann man an ihnen sehr leicht Veränderungen feststellen und Rückschlüsse auf meteorologische Vorgänge und Strömungen ziehen.
Die Wolkenpaare wechseln von gerader Linie zum wilden Tanz
Ein besonders verworrenes Phänomen sind verwirbelte Paare von Kondensstreifen. Führen vielleicht starke Winde dazu? Wenn man dann aber sieht, dass andere Flugzeuge, die in ähnlichen Regionen unterwegs sind, gerade und langlebige parallele Streifen hinter sich lassen, muss es einen anderen Grund für die Strukturbildung geben.
Bei der Lösung des Problems hilft eine weitere Beobachtung: An den Flügelspitzen der Flugzeuge entstehen manchmal völlig unabhängig von den Abgasen Nebelfäden. Es handelt sich dabei um so genannte Randwirbel infolge starker Strömungen an den Tragflächen. Diese drücken, um das Flugzeug oben zu halten, die Luft nach unten. Daraufhin kommt es weiter außen zu einer Ausgleichsströmung von unten nach oben. Zusammen mit der Vorwärtsbewegung des Flugzeugs wickelt sich die Luft um beide Flügelspitzen zu entgegengesetzt zueinander rotierenden Zöpfen auf.
Bei großer Feuchtigkeit werden die Randwirbel sogar sichtbar. Denn in der von ihnen beschleunigten Luft nimmt der Luftdruck stark ab, woraufhin die Temperatur unter den Taupunkt sinken kann. In der Folge taucht eine Schnur aus Wassertröpfchen auf (siehe »Spektrum« April 2010, S. 32).
Die Randwirbel greifen nach kurzer Zeit auf die Abgasströmung über und rollen auch sie zu entgegengesetzt rotierenden Wirbeln auf. In dieser Phase können sich zunächst kleine turbulente Störungen entlang der Wirbelachsen bilden. Dazu genügt es, wenn sich die Lufttemperatur oder die Dichte plötzlich ändert.
Die Störungen schaukeln sich mitunter zu raumgreifenden Schwingungen auf. Dabei pendelt der Abstand der Wirbel zueinander entlang der Flugrichtung mit einer Wellenlänge von zirka dem Sechsfachen der Flügelspannweite. Diese nach ihrem Entdecker Crow-Instabilität genannte Tendenz, zu schwingen, wird schließlich so stark, dass sich die Wirbel an den schmalsten Stellen berühren und miteinander wechselwirken. Durch den Effekt zerfallen die Kondensstreifen in annähernd ringförmige Stücke.
Die Reste verdünnen sich weiter, und bald ist vom ehemaligen Streifen nichts mehr zu erkennen. In manchen Fällen verschwinden die Nebel aus Eiskristallen spurlos. Oft wachsen sie sich aber zu einer Zirrusbewölkung aus, die in vielen Fällen sonst nicht entstanden wäre. Sie reflektiert einerseits Sonnenlicht zurück ins All, bevor es den Erdboden erreicht, und hält andererseits Strahlung der Erde zurück. Netto überwiegt Untersuchungen zufolge der wärmende Effekt auf das Klima, wobei viele Details noch unbekannt sind. Die weitgehende Reduktion des kommerziellen Luftverkehrs durch die Coronakrise könnte Kontrollwerte liefern, um zu ermitteln, wie sich die nun deutlich seltener gewordenen Kondensstreifen auf die Umwelt auswirken.
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