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Schlichting!: Wasserstrahlen zwischen Oszillation und Zerfall

Flüssigkeiten, die flach aus einem Auslass stürzen, pendeln zwischen zwei Zuständen hin und her. Sie verdrillen sich und gehen schließlich in einzelne Tropfen über.
Manneken Pis Brunnenstatue in Brüssel

Wer in Marokko an einer traditionellen Teezeremonie teilnimmt, kann auch eine physikalisch interessante Beobachtung machen. Das Getränk schießt in einem hohen Bogen aus der Kanne und landet in den bereitstehenden Gläsern. Beim kunstvollen Einschenken wird die Tülle erstaunlich weit, zügig und zielgenau hochgezogen. Der Akt erscheint komplizierter, als er ist – wie sich leicht ausprobieren lässt. Bei der Aufwärtsbewegung muss der überwachende Blick bloß auf den Auftreffpunkt gerichtet bleiben. Dann führt man die Kanne ganz automatisch auf einer Kurve, die in der Physik als Wurfparabel bekannt ist.

»Wohl ist alles in der Natur Wechsel, aber hinter dem Wechselnden ruht ein Ewiges«
Johann Wolfgang von Goethe 1749–1832

Genaueres Hinsehen offenbart im Teestrahl in den meisten Fällen eine periodische Struktur. Er wirkt wie ein flaches Band, das man einige Male um seine Achse ver­drillt hat. Dabei ist die Figur freilich kein statisches Gebilde, sondern fließt unablässig. Welche dynamischen Abläufe können solch eine stationär erscheinende, auf­fallend regelmäßige Schraubenform bewirken?

Teezeremonie | Beim Einschenken mit langen Fall­wegen lässt sich die periodische Drehung gut beobachten. Kurz be­vor der Strahl das Glas erreicht, wird er instabil und zerfällt in kugelförmige Tropfen.

Eine Betrachtung aus der Perspektive der Thermo­dynamik erleichtert das Verständnis des Vorgangs. Alle natürlichen Prozesse werden durch das Bestreben bestimmt, so viel Energie wie möglich an die Umgebung abzuführen. Das läuft darauf hinaus, die beteiligten Energiearten zu minimieren.

Hinter zahlreichen alltäglichen Dingen versteckt sich verblüffende Physik. Seit vielen Jahren spürt H. Joachim Schlichting diesen Phänomenen nach und erklärt sie in seiner Kolumne. Schlichting ist Professor für Physik-Didaktik und arbeitete bis zur Emeritierung an der Universität Münster. Alle seine Beiträge finden sich auf dieser Seite.

Solange sich der Tee in der Kanne befindet, dominiert die Schwerkraft das Geschehen. Die mechanische Energie ist dann am geringsten, wenn das Getränk die Form des Gefäßes annimmt und eine waagerechte Oberfläche ausbildet. Aus den gleichen Gründen wird der Strahl infolge der Gravitation beim Ausschenken anfangs möglichst flach in die Tülle gedrückt.

Eingefroren wirkende Pirouette

Sobald der Tee diese aber verlässt und in den freien Fall übergeht, ist er sozusagen schwerelos. Jetzt übernimmt die Oberflächenspannung das Zepter, und sie tendiert dazu, die Oberflächenenergie zu minimieren. Das würde einen kreisförmigen Querschnitt erzeugen, doch bei der Umformung vom flachen zum runden Strahl schießt die Bewegung aus Trägheit über das Ziel hinaus. Es entsteht wieder eine flache Form, jetzt um 90 Grad gedreht. Dabei baut sich eine rücktreibende Oberflächenkraft auf, die abermals auf einen Kreis hinwirkt. Der Strahl schwingt zurück und überschreitet wie bei einer Pendelbewegung erneut die Gleichgewichts­lage. Das geht so lange weiter, bis der Tee das Glas erreicht hat. Je höher der Bogen und je länger der Strahl, desto auffälliger sind die wie eingefroren wirkenden Drehungen – insbeson­dere wenn sie durch Reflexionen optisch Profil gewinnen.

Auf solche Weise verdrillte Flüssigkeitsstrahlen lassen sich in vielen weiteren Alltagssituationen beobachten, vom Umfüllen und Ausgießen aus diversen Behältern im Haushalt bis zu Zierbrunnen im öffentlichen Raum. An diesen ist häufig sehr deutlich zu erkennen, wie sich der Wasserstrahl unmittelbar nach dem Verlassen eines Rohres einschnürt und in eine um 90 Grad gedrehte Form übergeht.

Wasserpirouette | Ein aus einer Tülle austretender flacher Flüssigkeitsstrahl wechselt zwischen zwei um 90 Grad zueinander gedrehten flachen Zuständen hin und her.

Strahlen mit einer größeren Zahl an Perioden wie beim zeremoniellen Einschenken sind besonders beeindruckend. Der Tee gelangt oft in einem so hohen und damit langen Bogen ins Glas, dass sich kurz vor dem Ziel ein weiteres Phänomen bemerkbar macht: Er zerreißt in einzelne Tropfen. Denn infolge der Beschleunigung zieht sich der Strahl auseinander. Auf ihrem Weg wird die fallende Flüssigkeit sowohl durch Kohäsionskräfte im Innern als auch von der Oberflächenkraft zusammengehalten. Doch während der Strahl dünner wird, nehmen das Volumen eines bestimmten Streckenabschnitts sowie dessen Oberfläche ab. Da beide unterschiedlich schnell sinken – Letztere proportional zum Quadrat des Radius, das Volumen indes mit dem Radius hoch drei –, macht sich ein energetisches Missverhältnis immer stärker bemerkbar: Verglichen mit der Säulenform hätte dieselbe Flüssigkeitsmenge in Form von Tropfen eine geringere Oberfläche. Daher zerfällt der Strahl, sobald es eine Möglichkeit dazu gibt.

Die Gelegenheit ergibt sich mit kleinsten Störungen, zum Beispiel Schwankungen in der Dicke, die sich wellenförmig ausbreiten. Diese nach ihren Entdeckern Joseph Antoine Ferdinand Plateau (1801–1883) und Lord Rayleigh (1842–1919) benannte Plateau-Rayleigh-Instabilität gewinnt mit abnehmender Strahlstärke an Einfluss. Schließlich kommt es in den Wellentälern zu Abschnürungen. Sofort strebt der Tee die Kugelform an, die unter den herrschenden Bedingungen die minimale Oberflächenenergie beansprucht. Auf dem Foto passiert das kurz vor dem Eintreffen im Glas; Oszillationen und der Luftwiderstand bewirken noch kleine Abweichungen von der Idealform.

Das Abschnüren des Strahls in Tröpfchen hat ebenfalls zahlreiche Varianten im Alltag. Man kann es beispiels­weise erreichen, wenn man den Hahn über der Spüle sehr fein einstellt, oder es bei bestimmten Springbrunnen beobachten, bei denen das Wasser weite Bögen schlägt. Doch beide Phänomene zusammen, das Verdrehen und das Zerfallen, offenbaren sich wohl nirgends so spektakulär wie beim geübten Einschenken von Tee aus großer Distanz.

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