Infektionskrankheiten: Masern - was sie gefährlich macht
Masern sind vermeidbar. Umso tragischer, dass eine 37-jährige Mutter dreier Kinder 2017 in Essen daran starb. Wegen Impflücken waren die Erkrankungszahlen im Jahr 2017 in Nordrhein-Westfalen auffällig hoch: Bis 6. Juni wurden den Gesundheitsämtern dort 432 Masernfälle gemeldet.
1. Wie funktioniert das Masernvirus? Was sind die Symptome und Auslöser der Krankheit?
Das Masernvirus, das die Erkrankung auslöst, ist ein Minimalist – wie alle Viren. Auf seinem RNA-Genom ist die Bauanleitung für insgesamt nur acht Eiweiße abgelegt. Das muss reichen. Sechs der Proteine bilden das neue Virus und sorgen für dessen Vermehrung in den Zellen der Infizierten. Zwei Proteine manipulieren die zelluläre Maschinerie des Wirtes, damit alles zu Gunsten des Virus läuft.
Das Masernvirus hat sich spezialisiert, sein einziger natürlicher Wirt ist der Mensch. Hier kennt sich das Virus aus und nutzt in beeindruckend effektiver Weise die körperlichen Gegebenheiten für den eigenen Vorteil. Als Eintrittspforte dient den Masernviren die riesige, insgesamt tennisplatzgroße (Ober-)Fläche des menschlichen Atemtraktes. Hier befällt es zunächst Immunzellen, die dort in der Schleimhaut auf der Lauer liegen und vor unerwünschten Eindringlingen warnen beziehungsweise sie beiseiteräumen sollen.
Das Masernvirus jedoch kann sich in diesen Abwehrzellen, den Makrophagen und dendritischen Zellen, vermehren und reist mit ihnen zunächst zu den Lymphknoten in der Nähe und von dort aus durch den ganzen Körper: Knochenmark, Milz, Thymus, Niere, Verdauungstrakt, Leber und die Haut, kaum ein Ort bleibt verschont. Von den Aktivitäten des Virus bemerkt der infizierte Mensch zunächst nichts. Erst wenn die Menge der Masernviren im Körper ein gewisses Maß überschritten hat und die Immunabwehr spürbar aktiv wird, treten die typischen Symptome auf.
Acht bis zehn Tage nach der Ansteckung läuft die Nase, Husten, mäßiges Fieber und eine Bindehautentzündung können sich einstellen. Die sich zu diesem Zeitpunkt bildenden, weißlichen Flecken der Mundschleimhaut, die »Koplik-Flecken«, weisen eindeutig auf eine Masernerkrankung hin. Der grobfleckige, zunächst hellrote, später dunkler werdende Hautausschlag erscheint erst nach etwa 14 Tagen. Häufig beginnt er hinter den Ohren und breitet sich von dort über den ganzen Körper aus. Zusammen mit dem Ausschlag erreicht das Fieber seinen Höhepunkt, 39 bis 40,5 Grad Celsius können es werden.
Das Fieber geht nach einigen Tagen wieder herunter. Meist gelingt es der Immunabwehr, die Viren komplett aus dem Körper zu beseitigen. Antikörper bilden sich und Gedächtniszellen, die lebenslang vor einer erneuten Infektion mit Masern schützen. Das Masernvirus ändert seine äußere Gestalt nicht, weltweit gibt es nur einen Serotyp. Im günstigsten Fall treten keine Komplikationen auf, und die Erkrankung ist überstanden.
2. Was macht die Masern gefährlich, wie hoch ist das Ansteckungsrisiko?
»Masern sind eine der ansteckendsten Infektionen, die wir kennen«, sagt Sabine Wicker, Vorsitzende einer Kommission am Robert Koch-Institut (RKI) für die Elimination von Masern und Röteln. Besonders beim Husten, Niesen oder auch Sprechen wird das Virus, in feinste Tröpfchen verpackt, bis einige Meter weit in die Gegend herausgeprustet. Drei Tage bevor der Hautausschlag auftritt, ist die Menge der Viren im Atemtrakt und seinen Sekreten am größten. Im ungünstigsten Fall weiß der Erkrankte noch nichts von seinem »Glück«, hütet noch nicht das Bett und kann das Virus munter weitergeben.
Im Durchschnitt kann ein Masernkranker 15 Personen (so sie nicht immun sind) anstecken, Fälle von »Superspreadern« sind bekannt, bei denen sich das Virus von einem Menschen auf über 200 ausbreitete. Sich anstecken kann nur, wer nicht geimpft ist, nicht ausreichend geimpft ist und noch nie in seinem Leben die Masern gehabt hat. Die Masern verlaufen keinesfalls immer harmlos. Schwere Verläufe mit Komplikationen treten auf, besonders bei Kindern unter fünf Jahren oder Menschen, die älter als 20 Jahre sind, bei Mädchen und Jungen, Frauen und Männern, deren Immunsystem (aus welchen Gründen auch immer) geschwächt ist, oder bei Menschen, die mangelernährt sind.
Eine Spezialität des Masernvirus ist, das Immunsystem des Infizierten zu schwächen. Diese Immunsuppression tritt etwa ein bis zwei Wochen nach der Infektion auf, kann über Wochen, aber auch Jahre anhalten und ist für die meisten komplizierten Masernverläufe verantwortlich. Das Virus kann (trotz seiner eingangs erwähnten bescheidenen molekularen Mittel und Ausstattung) Immunzellen zum Absterben bringen und hemmend in die Reifung und Aktivierungsprozesse von Abwehrzellen eingreifen. Der Körper wird anfällig für Bakterien: Durchfall, Bronchitis, Lungenentzündung können folgen, in seltenen Fällen (bei etwa jedem 1000. Infizierten) kommt es zu einer lebensbedrohlichen Gehirnentzündung.
Je nach Ort und untersuchter Altersklasse müssen 2,2 bis 40 Prozent der Masernkranken wegen ihrer Beschwerden das Krankenhaus aufsuchen. Im Jahr 2015 starben laut Angaben der WHO weltweit etwa 134 200 Menschen an den Masern, für Deutschland gibt das RKI die Anzahl der Todesfälle durch eine Maserninfektion für den Zeitraum 2001 bis 2012 mit 15 an.
3. Welche Spätfolgen drohen? Und warum treffen sie vor allem erwachsene Erkrankte?
Ein 37-jähriger nierentransplantierter Mann wurde wegen neurologischer Ausfälle und eines epileptischen Anfalls in ein französisches Krankenhaus eingeliefert. Er wirkte apathisch, hatte Schwierigkeiten zu sprechen, Lähmungserscheinungen in Armen und Beinen, Herz und Atmung funktionierten normal. Da sich sein Bewusstsein immer stärker eintrübte, wurde er künstlich beatmet. Eine MRT-Untersuchung des Gehirns zeigte auffällige Schädigungen in verschiedenen Hirnbereichen, zum Beispiel im Thalamus und Frontalhirnlappen.
Da der Patient einige Monate vor Einsetzen der neurologischen Symptome Kontakt zu Masernkranken hatte, wird schließlich ein Bluttest auf eine frische Maserninfektion gemacht und tatsächlich: IgM-Antikörper gegen das Virus beweisen eine Infektion mit den Masern in jüngster Vergangenheit. Der 37-Jährige leidet an einer Masern-Einschlusskörper-Enzephalitis (MIBE), die in 30 von 100 Fällen tödlich ausgeht. Die MIBE tritt bei Menschen auf, die stark immungeschwächt sind. Also zum Beispiel solchen Patienten, die wegen einer Transplantation immunsystemunterdrückende Medikamente einnehmen müssen, damit das neue Organ nicht abgestoßen wird. Der Franzose erholt sich wieder, trägt jedoch bleibende Beeinträchtigungen von dem Kontakt mit dem Virus davon.
Sehr selten, aber stets mit tödlichem Ausgang, ist eine andere Komplikation, die durchschnittlich sechs bis acht Jahre nach einer akuten Maserninfektion auftreten kann. Bei der »subakuten sklerosierenden Panenzephalitis« (SSPE) überdauert das Masernvirus aus bisher unbekannten Gründen in den Nerven- und Gliazellen des Gehirns. Die Krankheit schreitet langsam voran, und macht nach und nach auf sich aufmerksam: zum Beispiel durch einen Leistungsabfall in der Schule, auffälliges Verhalten, neurologische Ausfälle, Ohnmachten.
Laut Jürgen Schneider-Schaulies vom Institut für Virologie und Immunbiologie an der Universität Würzburg ist das Risiko, später eine SSPE zu entwickeln, umso größer, je jünger die Patienten bei den akuten Masern sind. »Das Risiko ist besonders hoch, wenn die Masern schon im 1. Lebensjahr durchgemacht wurden.« Während man früher annahm, dass die SSPE bei einem von 100 000 (oder später einem von 10 000) mit Masern infizierten Kindern auftrete, sei nach neuesten Erkenntnissen das durchschnittliche Risiko für Kinder unter fünf Jahren bei etwa 1 zu 3300, sagt Schneider-Schaulies.
Bei ganz Jungen, aber auch bei über 20-Jährigen ist das Risiko für Komplikationen durch die Masern hoch. Warum macht eine »Kinderkrankheit« wie die Masern gerade Älteren so zu schaffen? Stèphane Gaudry vom Hôpital Louis Mourier im französischen Colombes und andere Ärzte haben 36 Masernpatienten (Durchschnittsalter 27,8 Jahre), die zwischen 2009 und 2011 erkrankt sind, genau untersucht. Fünf dieser Patienten starben an den Folgen der Masern. Laut den Untersuchungen der Ärzte ist das Ausmaß der Immunsuppression, die das Virus auslöst, altersabhängig und dauert bei Erwachsenen wesentlich länger. »Das wiederum setzt diese Patienten einem größeren Risiko für Superinfektionen (mit Bakterien) und nachfolgenden Komplikationen aus und könnte teilweise die Schwere der Erkrankung in dieser Altersgruppe erklären«, schreiben die französischen Ärzte.
4. Wie kann man sich schützen? Welche Impfstoffe gibt es, und wie sieht es mit deren Sicherheit aus?
Die 37-Jährige, die 2017 in Essen starb, war gegen die Masern geimpft. Allerdings nur einmal. Aktuell wird empfohlen, Kinder zweimal gegen die Masern zu impfen: hier zu Lande das erste Mal im Alter von 11 bis 14 Monaten, das zweite Mal im Alter von 15 bis 23 Monaten. Studien hatten gezeigt, dass manche Kinder auf die erste Impfung nicht ansprechen, nach einer zweifachen Impfung jedoch wird der Ausbruch der Masern bei 93 bis 99 Prozent der Geimpften verhindert. »Bei unvollständig (weniger als zweimal) geimpften Personen oder bei Personen mit unklarem Impfstatus, die nach 1970 geboren wurden, sollte eine Nachimpfung durchgeführt werden«, empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Infektiologie.
Bei allen, die vor 1970 geboren sind, ist die Wahrscheinlichkeit äußerst hoch, als Kind mit dem Virus in Kontakt gekommen zu sein und dadurch eine lebenslange Immunität vor den Masern erworben zu haben. Die ersten Masernimpfstoffe kamen 1963 auf den Markt. In Deutschland führte man die Impfung 1970 (DDR) beziehungsweise 1974 (BRD) ein. Vor Einführung der Masernimpfung erkrankten in jedem Jahr weltweit schätzungsweise 30 Millionen Menschen an den Masern, alle zwei bis drei Jahre gab es große Ausbrüche, und im Alter von 15 Jahren war daher fast jeder (95 Prozent) mit dem Virus in Kontakt gekommen.
Die Impfung hat weltweit allein in den Jahren 2000 bis 2012 geschätzte 13,8 Millionen Leben gerettet. Geimpft wird mit einem Lebendimpfstoff – abgeschwächten Masernviren –, die auf Hühnerfibroblasten herangezogen werden. Die Ständige Impfkommission des RKI empfiehlt die Masernimpfung in Kombination etwa mit Mumps und Röteln, damit das Kind weniger häufig gepikst werden muss. Das Immunsystem des gesunden Kindes sei sehr gut in der Lage, auf einen solchen Kombinationsimpfstoff zu reagieren, es setze sich täglich mit einer Vielzahl von Antigenen auseinander, schreibt das Robert Koch-Institut.
Offenbar sind alle verfügbaren Masernimpfstoffe gleich, was Effektivität und Sicherheit angeht, sie können laut der Weltgesundheitsorganisation WHO austauschbar genutzt werden. Fast so wie bei einer natürlichen Ansteckung ruft der Impfstoff eine Antikörper-Antwort gegen das Virus hervor, ebenso werden auf das Virus ausgerichtete T-Zellen aktiv. Spricht das Immunsystem gut auf die Impfung an, hält der Schutz ein Leben lang. Unerwünschte Reaktionen nach einer Masernimpfung sind meist mild und gehen rasch vorüber. 5 bis 15 von 100 Geimpften bekommen die »Impfmasern« mit vorübergehendem leichtem Fieber und etwas Ausschlag. »Die wissenschaftliche Beweislage zeigt deutlich, dass die Masernimpfung nicht in Zusammenhang mit entzündlichen Darmerkrankungen und Autismus steht. Es gibt große Studien mit hoher statistischer Aussagekraft, die sogar eine sehr seltene Assoziation nachgewiesen hätten«, schreibt die WHO.
Wegen der Ansteckungsfreude des Masernvirus ist es wichtig, eine hohe Immunitätsrate in der Bevölkerung zu erzielen, um die Übertragung in einem bestimmten Gebiet zu unterbrechen. Bei den Masern sollten es rund 95 Prozent der Bevölkerung sein. »Von der Impfung profitiert nicht nur der Geimpfte selbst, sondern durch die Herdenimmunität wird die grundsätzliche Ausbreitung verhindert und gerade die Empfänglichsten mit dem höchsten Risiko, zum Beispiel junge Säuglinge, werden geschützt«, schreiben Experten von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie. Wer sich oder seine Kinder impfen lässt, schützt nicht nur die eigene Familie, sondern auch diejenigen, die nicht geimpft werden dürfen. Im Falle von Masern zum Beispiel Menschen mit fortgeschrittener Tumorerkrankung oder HIV-Infektion und solche mit einem starken Immundefekt.
5. Wie sieht es international mit Masernepidemien aus?
Die Masern sind weltweit auf dem Rückzug. Von 2000 bis 2015 konnten dank der Impfung die Erkrankungsfälle um 75 Prozent verringert werden (von 146 auf 35 Fälle pro einer Million Menschen). Die meisten der kleinen Kinder, die aktuell nicht geimpft werden, leben heute in Indien, Nigeria, Pakistan, Indonesien, Äthiopien und der Demokratischen Republik Kongo.
Die Mitgliedsstaaten aller sechs WHO-Regionen wollen bis 2020 die Masern komplett ausrotten. Auf einem Expertentreffen der WHO im September 2016 wurde die Region Amerika für masernfrei erklärt. Die WHO spricht von Elimination einer Infektionskrankheit, wenn weniger als ein Fall pro einer Million Einwohner auftritt. Eine zweimalige Masernimpfung von mehr als 95 Prozent der Bevölkerung müsste dafür erreicht werden.
Für die Region Europa ist das in 21 der 53 Mitgliedsstaaten bereits gelungen. In Estland, Finnland, Portugal, der Slowakei, Slowenien und der Tschechischen Republik beispielsweise gibt es die Masern nicht mehr. Damit Deutschland das auch von sich behaupten könnte, dürfte es maximal 81 Masernfälle im Jahr geben. 2015 waren es aber immer noch 2464, 2016 nur 326, und 2017 insgesamt 929.
»Wenn es in Ländern, in denen die Masern schon stark zurückgedrängt wurden, nicht gelingt, eine hohe Impfrate bei Kindern durchzuhalten, wird die Krankheit immer wieder aufflammen«, warnt die WHO. Genau das geschieht zurzeit hier zu Lande –, obwohl es bei uns im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Welt nicht an finanziellen und strukturellen Mitteln fehlt, um Impfprogramme aufrechtzuerhalten. Michael Selgelid und andere Bioethiker von der Monash University im australischen Victoria finden klare Worte: »Menschen, die Impfungen verweigern, sind moralisch verantwortlich für die daraus resultierende Gefährdung anderer.«
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