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Rätselhafte Radioaktivität: Wie Atomwissenschaftler die mysteriöse Explosion in Russland enträtseln

Im August 2019 haben Messstationen einen rapiden Anstieg radioaktiver Isotope beobachtet. Wahrscheinliche Ursache ist die Explosion eines Reaktorkerns – weiter unklar bleibt allerdings, wozu dieser Reaktor eigentlich gedient haben könnte.
Marine-Anleger bei Sewerodwinsk

Am 8. August 2019 tötete eine Explosion auf einer russischen Marinebasis fünf Wissenschaftler und sorgte für einen kurzen, unerklärlichen Anstieg von Gammastrahlung. Seitdem kursieren Gerüchte über die Hintergründe des Geschehens: Informationen liefen nur schleppend ein und waren teils widersprüchlich und verwirrend. Ende August lieferte die russische Wetterbehörde Roshydromet dann endlich Details über die freigesetzte Radioaktivität.

Die Informationen deuten darauf hin, dass ein Kernreaktor an der Explosion beteiligt war – was die Theorie stützt, dass Russland eine Rakete mit dem Projektnamen »Burewestnik« oder »Skyfall« getestet hat. Präsident Wladimir Putin hatte 2018 vor dem russischen Parlament erklärt, dass Russland die Rakete entwickelt: Sie wird von einem bordeigenen Kernreaktor angetrieben und könnte so eine quasi unbegrenzte Reichweite haben.

Gibt es offizielle Stellungnahmen aus Russland über die Explosion?

Die Explosion ereignete sich in einer Militäranlage im Nordwesten Russlands in der Region Archangelsk. Dort, in Nenoksa, befindet sich einer der wichtigsten Forschungs- und Entwicklungsstandorte der russischen Marine.

Einen Tag nach der Explosion erklärte die russische Atomenergiebehörde Rosatom, dass sich bei »Tests an einem flüssigen Antriebssystem mit Isotopen« ein Unfall ereignet habe. Später ergänzte sie, der Vorfall habe sich auf einer Offshore-Plattform ereignet.

Roshydromet berichtete unterdessen von einem kurzen Anstieg von Gammastrahlung auf das 16-Fache des normalen Niveaus in der Stadt Sewerodvinsk, etwa 30 Kilometer östlich von Nenoksa. Am 26. August enthüllte Roshydromet die in Regen- und Luftproben gefundenen Isotope: Strontium-91, Barium-139, Barium-140 und Lanthan-140.

Was wissen wir über die Wissenschaftler, die gestorben sind?

Die Namen der toten Wissenschaftler sind laut Rosatom Alexei Viushin, Evgeny Kortaev, Vyacheslav Lipshev, Sergei Pichugin und Vladislav Yanovsky. Es ist unklar, ob sie infolge eines Absturzes von der Plattform ins Meer starben oder einer tödlichen Strahlungsdosis ausgesetzt waren.

Wir kennen kaum Details über die Forschung der am »Allrussischen Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Experimentalphysik« in Sarov angestellten Wissenschaftler. Viushin war bis mindestens 2016 Mitglied der ALICE-Kooperation am CERN, dem europäischen Labor für Teilchenphysik in der Nähe von Genf.

Was verraten uns die Isotope?

Die nachgewiesenen Isotope von Barium, Strontium und Lanthan würden bei der Kettenreaktion eines Kernreaktors entstehen, der zur Energiegewinnung Uranatome spaltet. Solche Isotope könnten demnach freigesetzt werden, wenn ein Reaktorkern explodiert, erklärt Claire Corkhill, Atomwissenschaftlerin an der University of Sheffield, Großbritannien.

Der Schaden, den eine Explosion am Reaktorkern verursachen dürfte, hätte wahrscheinlich auch zur Freisetzung von radioaktivem Jod und Zäsium geführt, ergänzt Atomwissenschaftler Marco Kaltofen vom Worcester Polytechnic Institute und der Umweltanalysefirma Boston Chemical Data Corp, beide im US-Bundesstaat Massachusetts. Tatsächlich ist in einem unbestätigten Bericht der Moskauer »Times« vom 16. August die Rede von Zäsium-137-Spuren, die Ärzte vor Ort in ihrem Muskelgewebe hatten. Die norwegische Atombehörde entdeckte nach der Explosion zudem in Svanhovd – fast 700 Kilometer entfernt – einen unerklärlichen Anstieg des radioaktiven Jod-131. Es ist allerdings nicht auszuschließen, so Corkhill, dass dieses Isotop aus einer anderen Quelle stammt: Jod-131 kann auch bei der Herstellung von Radionukliden für medizinische Zwecke in kleinen Mengen freigesetzt werden.

Boris Schuikow vom Institut für Kernforschung der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau hat eine andere Erklärung. Seinen Berechnungen zufolge hat die Explosion womöglich nur die Hülle des Reaktors beschädigt statt den Kern selbst und dabei bestimmte radioaktive Edelgase freigesetzt, die als Nebenspaltprodukte anfallen. Diese wären dann, noch bevor sie den Detektor in Sewerodvinsk erreicht hätten, in der Atmosphäre zerfallen – wobei sie exakt das beobachtete Gemisch von Isotopen erzeugen würden. Allerdings, warnt Kaltofen: Die Indizien legen nahe, dass doch der Reaktorkern selbst beschädigt wurde.

Hat Russland also eine atombetriebene Rakete getestet?

Einige Experten glauben das. Es sei ein plausibles Anwendungsszenario, die enorme Energiemenge aus der Kernspaltung für den Antrieb einer Rakete zu nutzen, meint Corkhill. Zwar ist über die Rakete »Burewestnik« wenig bekannt, Experten spekulieren aber, dass sie ein flüssiges Treibmittel für den Start verwenden könnte, um dann einen kompakten Kernreaktor zu zünden. Dieser heizt im Flug einen nach hinten gerichteten Jetstrahl für den Antrieb – und dies möglicherweise über Tage.

Satellitenbilder von Nenoksa, die Stunden vor und nach der Explosion aufgenommen wurden, deuten ebenfalls stark auf einen Raketentest hin, sagt Anne Pellegrino, Forscherin am James Martin Center for Nonproliferation Studies in Monterey, Kalifornien. Die Bilder zeigen eine typische schwimmende Start-Infrastruktur in Nenoksa: Sie findet sich auch bei einer anderen Anlage, an der bekanntermaßen nuklearbetriebene Raketen getestet werden. »Die Existenz dieses Schiffs vor der Küste ist ein deutlicher Indikator«, so die Expertin.

Was könnte sonst geschehen sein?

Eine Anlage zur Kernspaltung könnte auch zu einer Reihe anderer militärischer Kernenergie-Projekte passen, meint der Wissenschaftler Michael Kofman, der als Russlandspezialist bei der gemeinnützigen Forschungs- und Analyseinstitution CNA und am Wilson Center in Washington D.C. arbeitet. Kofman sieht zudem Gründe, an der Theorie der »Burewestnik« zu zweifeln. Immerhin hätte ein Antriebsreaktor, der leicht genug ist, um mit einer Rakete abzuheben, wahrscheinlich keine Abschirmung. Damit würde er aber alles und jeden im Umkreis während seines Einsatzes gefährden: »Es wäre doch Quatsch, wenn russische Wissenschaftler beim Testen um irgendeine Art unzureichend abgeschirmten Reaktor herumstehen«, findet er. Zudem werden derartige Raketen in der Regel nicht von Plattformen auf See, sondern von landgestützten Startanlagen aus getestet. Solche Testanlagen, fügt er hinzu, würde man aber an der Küste sehen können.

Kofman schlussfolgert, dass das havarierte Gerät wohl kein Antriebssystem für eine Rakete war. In Frage kämen nach seiner Auffassung ein atombetriebener Torpedo, ein unter Druck stehender Unterwasserkernreaktor zur Versorgung von getauchter Infrastruktur oder ein kleiner Reaktor für Weltraumanwendungen.

Welchen Spuren gehen Forscher nach?

Kaltofen sucht nun nach Zugang zu Alltagsgegenständen von Menschen, die in der Nähe des Explosionsbereichs leben – etwa den Luftfiltern von Autos –, um darin radioaktiven Elementen nachzuspüren. Die gesammelten Analysen wird sein Team dann mit denen anderer Objekte vergleichen, die von bekannten Quellen bestrahlt werden: etwa dem japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, das nach einem Erdbeben im Jahr 2011 erhebliche Mengen an Strahlung freigesetzt hat.

Mit ausreichend vielen Filterproben könnte die Methode funktionieren, sagt Corkhill. Das müsse aber schnell geschehen, bevor die radioaktiven Isotope zerfallen sind. Das Team von Pellegrino wird sich die Arbeiten der verstorbenen Wissenschaftler genauer ansehen – und analysieren, welche Hinweise auf ihre jüngeren Projekte Social-Media-Kanäle, Publikationslisten und Konferenzpräsentationen liefern.

Weitere Daten könnte vielleicht auch die »Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen« (CTBTO; englisch: Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization) beisteuern. Sie hat in ganz Russland eigentlich Zugriff auf acht Stationen, die Radionuklide überwachen – aber fünf von ihnen berichteten in den Tagen nach der Explosion von Ausfällen, was die Spekulationen über den Einsatz einer Geheimwaffe anheizte. Zwei Meldestationen sind wieder online gegangen und haben begonnen, Daten zu versenden, sagte ein CTBTO-Sprecher gegenüber dem Fachmagazin »Nature«.

Stellt die Radioaktivität eine Gefahr für die Bevölkerung dar?

Das Risiko ist gering, sagt Zhuikov. Die anfängliche Spitze der Gammastrahlung lag 16-mal über den Hintergrundwerten. Zum Vergleich: Nach der Reaktorkatastrophe von 1986 in Tschernobyl lag die Gammastrahlung 7000-mal darüber.


Dieser Beitrag ist im englischen Original »How nuclear scientists are decoding Russia's mystery explosion« in »Nature« erschienen.

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