Schlichting!: Wie Laub sich abwärts wiegt
Viele Menschen berührt es emotional, wenn die Bäume im Herbst ihr Laub verlieren. Seit jeher haben Dichter das Naturschauspiel thematisiert. So lässt beispielsweise Edmond Rostand seinen Cyrano de Bergerac über die Blätter sagen: »Wie schön sie fallen! Wie sie es verstehen, in diesen kurzen Weg vom Ast zur Erde eine letzte Schönheit zu legen und trotz ihres Entsetzens darüber, auf dem Boden zu verfaulen, wollen, dass dieser Fall die Grazie eines Fluges habe.« Das formuliert poetisch die physikalisch interessante Beobachtung, dass die Blätter nicht nur regellos heruntertorkeln, sondern immer wieder regelmäßige Bewegungen offenbaren.
Studiert man das Phänomen etwas aufmerksamer, lassen sich bestimmte Grundformen ausmachen. Sie sind besonders gut bei Windstille zu erkennen. Neben dem chaotischen irregulären Fall trifft man häufig drei besondere Figuren an. Das ist erstens der waagrechte Fall, bei dem das flach in der Luft herabschwebende Blatt nur leicht um die horizontale Lage schwankt; zweitens der oszillierende Fall, bei dem die Blätter ziemlich gleichmäßig abwechselnd zur einen und zur anderen Seite wiegen; drittens der rotierende Fall, bei dem sich die Blätter stark zur Seite ausgelenkt werden und sich um sich selbst drehen.
»Ein unabsehbar Blättermeer entperlt dem Netz der Zweige«
Christian Morgenstern, 1871–1914
Für eine Erklärung kann man sich vereinfachend vorstellen, dass die Schwerkraft im Schwerpunkt des Blatts angreift. Dessen Geschwindigkeit nähme durch die Erdbeschleunigung ständig zu, würde nicht die Luftwiderstandskraft auf den Plan gerufen. Diese wächst mit dem Quadrat der Geschwindigkeit und ist proportional zur Querschnittsfläche, die der anströmenden Luft ausgesetzt ist. Auch die dreidimensionale Form des Blatts wirkt sich auf die Strömungen aus. Für Experimente empfiehlt es sich, die Zahl der Einflussfaktoren zu reduzieren und kontrolliert zu variieren. Am einfachsten geht das mit Spielkarten oder Haftnotizblättern. Letztere gibt es in verschiedenen Größen, und ihre Masse lässt sich leicht über die Zahl der zusammengeklebten Notizblätter ändern. Auf Spielkarten geklebt, lässt sich damit auch deren Masse variieren. Unter diversen Startwinkeln beim Loslassen kann man mit etwas Geschick die drei bereits erwähnten Grundformen des Falls reproduzieren.
Für das einfachste Szenario, den waagrechten Fall, wird das Blatt in horizontaler Ausrichtung losgelassen. Es sinkt leicht schwankend zu Boden und landet mit einer gewissen Streuung senkrecht unterhalb des Startpunkts. Die Beschleunigungsstrecke ist sehr kurz, weil der Luftströmung die maximale Querschnittsfläche entgegensteht. Die Luftwiderstandskraft holt also bereits kurz nach dem Start die konstante Schwerkraft ein, und das Blatt sinkt mit gleich bleibender Geschwindigkeit.
In der Realität gelingt es aus freier Hand aber kaum, eine Spielkarte völlig waagrecht fallen zu lassen. Außerdem ist die Luft nie ganz ruhig, und es kommt zu Schwankungen, die sich manchmal zum oszillierenden Fall aufschaukeln – dem zweiten Szenario.
Von Luftstrom und Trägheit geschaukelt
Dieses lässt sich mit einem stark vereinfachenden Modell beschreiben. Dazu stellen wir uns den Luftstrom durch einzelne Strömungsfäden visualisiert vor. Lässt man das Blatt schräg fallen, so gleitet es auf dem Luftpolster seitlich ab. Währenddessen muss die Luft ausweichen, wird also am Blattende beschleunigt. Anschaulich gesprochen werden die Stromfäden zusammengedrückt und die Luftportionen darin auseinandergezogen, so dass ein Unterdruck entsteht. Die entsprechende Kraft wirkt an beiden Enden des Blatts und erzeugt ein resultierendes Drehmoment. Es verschwindet, sobald das Blatt waagrecht ausgerichtet ist. Aus Trägheit dreht es sich jedoch etwas über die horizontale Lage und erfährt daraufhin ein entgegengesetztes Drehmoment. Die Rotationsrichtung kehrt sich um, und der Vorgang wiederholt sich – das Blatt wiegt sich hin und her.
Beim dritten Szenario stürzt das Blatt zu Beginn fast senkrecht herab. Somit ist die der Luftströmung ausgesetzte Querschnittsfläche minimal. Das Blatt wird also bei kleinstem Luftwiderstandskraft maximal beschleunigt. Der Luftwiderstand nimmt allerdings sehr stark mit der Geschwindigkeit zu. Darum erzeugen bereits kleinste Auslenkungen und die damit verbundene wachsende Oberfläche plötzlich eine viel größere Kraft. Nach demselben Mechanismus wie beim schrägen Fall entsteht ein wirkungsvolles Drehmoment. Die Trägheit ist daraufhin so groß, dass sich das Blatt nicht nur einmal über die waagrechte, sondern auch über die vertikale Ausrichtung hinaus dreht. So gelangt es immer wieder in eine ähnliche Situation wie beim Start. Es dreht sich fortlaufend in derselben Richtung weiter und driftet währenddessen zur Seite ab.
Selbst mit rechteckigen Pappkarten sind die Flugbahnen allerdings sehr störanfällig. Daher ist es umso erstaunlicher, dass auch viel komplizierter geformte Laubblätter zumindest phasenweise die drei Figuren vollführen. Doch einerseits könnte die jeweilige Blattgestalt für eine bestimmte Bewegungsart vielleicht sogar besonders gut geeignet sein. Andererseits beobachtet man im Herbst gleichzeitig sehr viele »Versuche« unter den verschiedensten Anfangsbedingungen. Die Wahrscheinlichkeit ist also größer, irgendwann Zeuge einer günstigen Konstellation zu werden, als bei den vergleichsweise wenigen Experimenten, die wir per Hand durchführen können.
Nicht immer ist die Flugbahn abgeworfener Pflanzenteile dem Zufall überlassen. Ahornsamen beispielsweise zeigen unabhängig vom Startwinkel eine typische Rotationsbewegung. Dadurch sind sie lange in der Luft und werden vom Wind weit fortgetrieben. Laub hingegen bleibt meist bei seinem Spender, schützt die Wurzeln im Winter vor Frost und wird schließlich zu Erde, die das Wachstum neuer Blätter nährt – bis zum nächsten Herbst.
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