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Schlichting!: Die faszinierende Physik von Haareis

An der Grenze zwischen Frost und Tauwetter bilden sich im Wald bisweilen fragile Eisfäden, die aus totem Holz wuchern. Schlichting erklärt die spannende Natur dahinter.
Unter der Rinde eines Asts quillt Haareis in feinen Fäden hervor
Seidenartig schimmernd wächst Eis in feinen Fasern aus Holz heraus.

Wasser gefriert in freier Natur in den verschiedensten Formen. Der Strukturreichtum reicht von Schneeflocken über zahlreiche Reif- und Raureifphänomene bis zum Haareis. Diese filigrane Erscheinung erstarrten Wassers findet man selten. Zum einen ist Haareis lediglich in weitgehend naturbelassenen Waldgebieten anzutreffen, und zwar am Holz bestimmter Laubbäume (vor allem Buchen und Eichen), das nicht abgeräumt wird, sondern ungestört vermodert. Zum anderen muss seinem Auftreten eine feuchte Wetterperiode vorangegangen sein, und die Temperaturen dürfen nur ein wenig unterhalb des Gefrierpunkts liegen.

Das Haareis umsäumt verrottende Holzstücke mit auffälligen, weiß leuchtenden, watteähnlichen Strukturen. Bei näherem Hinsehen entdeckt man, dass die vermeintliche Watte aus vielen sehr dünnen (zirka 0,02 Millimeter), aber langen (bis zu 20 Zentimeter) Eisfäden besteht. Die oft seidenartig schimmernden Fasern treten typischerweise in Büscheln auf. Sie wachsen dicht gedrängt senkrecht zur Oberfläche des Holzes aus diesem heraus. Trotzdem verschmelzen die einzelnen Stränge nicht miteinander.

Dicht gedrängt | Bei Temperaturen leicht unter dem Gefrierpunkt strebt Haareis aus dem nassen, vermodernden Totholz eines Birkenasts.

Vor allem letztere Eigenschaft ist sehr erstaunlich. Denn getrennte Eisteile, die sich teilweise berühren, neigen dazu, zusammenzufrieren, insbesondere bei Temperaturen in der Nähe des Schmelzpunkts. Die Ausbildung einer gemeinsamen Oberfläche verkleinert die Oberflächenenergie. Warum es bei Haareis anders ist, bleibt vorerst ein Teil seines Geheimnisses, obwohl das Phänomen seit Langem bekannt und vor allem in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich näher untersucht worden ist. Vermutlich spielen hier organische Stoffe eine Rolle, die als schützende Beschichtung wirken.

Hinter zahlreichen alltäglichen Dingen versteckt sich verblüffende Physik. Seit vielen Jahren spürt H. Joachim Schlichting diesen Phänomenen nach und erklärt sie in seiner Kolumne. Schlichting ist Professor für Physik-Didaktik und arbeitete bis zur Emeritierung an der Universität Münster. Alle seine Beiträge finden sich auf dieser Seite.

Schaut man sich die Holzstücke genauer an, so entdeckt man, dass jedes Haar einzeln aus einer winzigen Öffnung im Material heraussprießt. Man gewinnt den Eindruck, ähnlich wie bei der Herstellung von Spagetti würde eine flüssige Substanz durch Düsen gedrückt werden und an der Luft sofort verhärten. Diese Vorstellung ist nicht ganz abwegig, denn laut entsprechender Forschungsarbeiten handelt es sich bei den Löchern um die Austrittsöffnungen so genannter Holzstrahlen. Das sind winzige Kanäle, die das Leitgewebe radial von der Mitte bis zur Borke durchziehen und im lebenden Baum dem Transport von Wasser und Nährstoffen dienen. Die einzelnen Eishaare sind an den Mündungen der Holzstrahlen verwurzelt und haben den gleichen Durchmesser wie diese. Außerdem sprießt das Eis stets aus den von der Borke befreiten Abschnitten des Totholzes. Manchmal quillt es sogar aus den Bruchstellen zwischen teilweise gelösten Rindenteilen.

Lückenfüller | Da die Kanäle im Holz nur bis unter die Borke reichen, quillt das Haareis dort an die Oberfläche, wo sich die äußerste Rindenschicht gelöst hat und Zwischenbereiche frei gibt.

Lange Zeit war unbekannt, wie es im Einzelnen zum frostigen Aufleben der abgestorbenen Holzstücke kommt. Dabei hatte bereits 1918 der später für seine Hypothese der Kontinentaldrift berühmt gewordene Alfred Wegener (1880–1930) wesentliche Erkenntnisse gewonnen. Er hielt das Haareis zunächst selbst für einen der Pilze, die abgestorbenes Holz befallen. Nachdem er erkannt hatte, dass es sich um Eis handelt, vermutete er, Baumpilze seien immerhin maßgeblich an der Entstehung des Haareises beteiligt.

Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben den Zusammenhang mit Pilzen nachgewiesen. Wenn man nämlich vom Eis befreite Holzstücke, die sich unter den passenden meteorologischen Bedingungen anschließend erneut in die kristalline Wolle kleiden, mit Hitze, Alkohol oder Fungiziden behandelt, bleibt der Effekt aus. Außerdem ist geschmolzenes Haareis leicht bräunlich gefärbt, was auf organische Rückstände hinweist. Alle behaarten Äste waren mit einer für Laubbäume typischen Pilzart befallen, der Rosagetönten Gallertkruste (Exediopsis effusa).

Doch welche konkrete Rolle spielt der Pilz bei der Bildung des Haareises? Bei anderen winterlichen Phänomenen wie den nadelartigen Eiskristallen an Pflanzen und anderen Objekten sind zwei Dinge verantwortlich: entweder die Resublimation (Gefrieren, ohne vorher flüssig geworden zu sein) von Wasserdampf oder die Kristallisation von unterkühlten Wassertröpfchen. In beiden Fällen lagern sich die Wassermoleküle aus dem Dampf oder der Flüssigkeit von außen an entsprechende Keime beziehungsweise schon vorhandene Kristalle an. Demgegenüber wachsen die Eishaare direkt aus dem Totholz heraus, ähnlich wie tatsächliches Haar aus dem Körper eines Lebewesens. Die entscheidenden Vorgänge passieren also innen. Der Stoffwechsel der Pilze ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung.

»Allein was hilft es dir, zu spalten Haar um Haar?«Friedrich Rückert

Der Pilz ernährt sich von dem in den Holzstrahlen vorhandenen organischen Material. Dabei gibt er neben Wasser gasförmiges Kohlendioxid ab. Das drückt Wasser durch die Strahlkanäle aus dem Holz heraus. Molekulare Rückstände der Stoffwechselvorgänge des Pilzes wirken als Kristallisationskeime, an denen das Wasser beim Austritt an die kalte Außenluft zu dünnen Fäden gefriert. Der ausgetriebene Strom reißt auch deswegen vorerst nicht ab, weil eine Art Saugeffekt zu diesem Phänomen beiträgt. Wasser wird zur Grenzfläche des Eises gezogen, wo die Flüssigkeit lokale Ladungsunterschiede zwischen den Holz- und den Kristalloberflächen ausgleicht und dadurch die Grenzflächenenergie minimiert. Die Pilztätigkeit erklärt ebenfalls, warum das Phänomen nur bei leichtem Frost auftritt: Die beim Stoffwechsel erzeugte Wärme hält die Temperatur im Ast oberhalb des Gefrierpunkts. Wenn es dafür zu kalt wird, erstarrt die Feuchtigkeit im Holz, und das ganze Schauspiel stoppt.

Ähnlich dem Haupthaar eines Menschen neigen sich ganze Büschel der Eisfäden in Scheiteln und Wirbeln zur einen oder anderen Seite. Das ist vor allem Unterschieden bei der Wachstumsgeschwindigkeit eines jeden Haars zu verdanken. Sie schwankt infolge von Unregelmäßigkeiten an den Rändern der Strahlmündungen. Dieses wilde Verhalten erweckt einen geradezu lebendigen Eindruck, der im Reich der Eiserscheinungen einzigartig ist.

  • Quellen

Hofmann, D. et. al.:Evidence for biological shaping of hair ice. Biogeosciences 12, 2015

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