Schlichting!: Wie Spinnen fliegen – sogar bei Flaute
Spinnen haben keine Flügel, und deswegen sollten sie eigentlich nicht fliegen können. Manchmal sieht man sie allerdings an langen Seidenfäden durch die Luft schweben und wird dadurch auf anschauliche Weise eines Besseren belehrt. Diese Technik des Segelflugs ist bei vielen Spinnenarten seit Langem bekannt. Schon Darwin hatte auf seinem Forschungsschiff »Beagle« achtbeinigen Besuch erhalten. Er beschrieb, wie eine an Bord gelandete Spinne wieder Abschied nahm, indem sie »vier oder fünf Fäden hervorstieß. Sie waren mehr als einen Meter lang und strebten von den Drüsenöffnungen ausgehend nach oben voneinander weg. Plötzlich löste die Spinne ihren Griff vom Pfosten und wurde schnell außer Sichtweite getragen.«
Laut Darwin war es an jenem Tag heiß und windstill. Er machte winzige thermische Konvektionsbewegungen dafür verantwortlich, dass die Spinne trotz Flaute abheben konnte. Die These vermag in der Tat manche wesentliche Aspekte des Phänomens zu erklären. Außerdem vermutete Darwin bereits, obendrein könnten elektrostatische Kräfte im Spiel sein. Dafür sprach die fächerartige Ausbreitung der herausschießenden Fäden – als würden diese sich gegenseitig abstoßen. Allerdings herrschte trotz solcher Hinweise auf mögliche Ladungseffekte bis in unsere Tage die Überzeugung vor, der Spinnenflug hinge ausschließlich von aerodynamischen Faktoren ab. Das war wissenschaftlich gut zu begründen. In den letzten Jahren wurden jedoch Untersuchungsergebnisse publiziert, die elektrostatischen Vorgängen eine zusätzliche tragende Rolle zusprechen.
Zu den jüngsten Entwicklungen dürften Schwierigkeiten beigetragen haben, die bei genauerer Betrachtung auftreten, wenn man den aerodynamischen Auftrieb allein verantwortlich machen will. So ist unklar, wie sich die bis zu 100 Milligramm schweren Spinnen mit ihrem Faden auffällig schnell in die Höhe katapultieren, während kaum ein Lüftchen weht. Hinzu kommt das schon von Darwin notierte Aufspreizen der bündelweise ausgestoßenen Fäden. Darüber hinaus fand man fliegende Spinnenarten in vier Kilometer Höhe vor – strömungsdynamisch eine ziemliche Herausforderung.
Solche Probleme lassen sich beseitigen, wenn man die Wirkungen des so genannten atmosphärischen Potenzialgradienten mit einbezieht. Hierbei geht es um Ladungsdifferenzen zwischen Atmosphäre und Boden: Die in mehr als etwa 70 Kilometer Höhe gelegene Ionosphäre ist überwiegend positiv geladen, die Erdoberfläche hingegen negativ. Der Unterschied wirkt sich auf den gesamten dazwischen gelegenen Bereich aus. So ist die ungestörte Atmosphäre oberhalb des Bodens im Vergleich zu diesem positiv geladen, so dass zwischen einem Punkt auf der Erde und einem in der darüber befindlichen Luft eine elektrische Spannung herrscht. Sie kann immerhin rund 100 Volt pro Meter betragen. Die Stärke des Effekts schwankt indes und hängt sehr stark von den Wetterbedingungen ab.
Feines Gespür für elektrische Felder
Bereits die gegenseitige Abstoßung der von der Spinne abgegebenen Fäden zeigt: Auch die Seidenfasern sind elektrisch geladen. Es kommt daher zwangsläufig zu einer Wechselwirkung zwischen ihnen und dem Feld der Luft, die eine Bewegung verursacht. Doch wie kann die Spinne im Voraus erkennen, ob die Kräfte stark genug sind, um sie mitsamt ihrem Faden zu tragen? Dazu muss sie elektrische Felder wahrnehmen und nach ihrer Stärke beurteilen. Dass zumindest einige Insekten dazu in der Lage sind, ist seit mehreren Jahren bekannt.
2018 haben Erica Morley und Daniel Robert von der University of Bristol untersucht, wie Spinnen auf Felder reagieren. Sie setzten in Laborversuchen Baldachinspinnen (Linyphiidae) elektrischen Feldern aus, die in ihrer Stärke denen in der Atmosphäre unter verschiedenen Wetterbedingungen entsprachen. Tatsächlich reagierten die Spinnen darauf mit eindeutigen Flugvorbereitungen. Die segelnden Tiere gewannen oder verloren beim Ein- und Ausschalten der Felder an Höhe. Somit kann für den Aufstieg nicht nur der aerodynamische Auftrieb verantwortlich sein, vielmehr muss ebenso die elektrische Wechselwirkung zwischen den Tieren und den äußeren Feldern eine Rolle spielen. Spezifische Bewegungen bestimmter Tasthaare auf der Körperoberfläche der Tiere in Reaktion auf elektrische Felder legen die Vermutung nahe, dass diese so genannten Trichobothrien den Spinnen die Wahrnehmung der Felder ermöglichen.
Die fliegenden Spinnen sind zwar weitgehend dem atmosphärischen Potenzialgradienten und den aerodynamischen Gegebenheiten ausgeliefert. Trotzdem können sie wohl ein wenig Einfluss auf das Geschehen nehmen. In einer Veröffentlichung von 2022 haben Charbel Habchi von der libanesischen Notre-Dame-Universität Louaize und Mosbeh M. Khalid Jawed von der University of California in Los Angeles die Ergebnisse von Computersimulationen präsentiert. Aus diesen folgerten die beiden Ingenieurwissenschaftler, dass die Spinnen sowohl die strömungsphysikalischen als auch die elektrostatischen Verhältnisse steuern können, indem sie die Anzahl der Fäden und deren Länge verändern. Damit verfügten die Tierchen in der Luft immerhin über gewisse Steuerungsmöglichkeiten.
»Ja wäre nur ein Zaubermantel mein, und trüg er mich in fremde Länder«Johann Wolfgang von Goethe
Bisher ist ungeklärt, auf welche Weise die Spinnfäden aufgeladen werden. So werden sich dieser faszinierenden natürlichen Umsetzung eines elektrischen Antriebs vermutlich noch über Jahre hinaus weitere Geheimnisse entlocken lassen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.