Der Mathematische Monatskalender: William R. Hamilton (1805–1865): Formeln im Brückenpfeiler
William Rowan Hamilton wächst als Sohn eines Anwalts in Dublin auf. Bereits im Alter von 5 Jahren lernt er Latein, Griechisch und Hebräisch; später kommen andere Sprachen hinzu, unter anderem Deutsch, Sanskrit und Malaiisch. Für Mathematik beginnt er sich erst im Alter von 12 Jahren zu interessieren, liest mit 13 Jahren die Elemente des Euklid in lateinischer und die Elements d'Algèbre von Alexis-Claude Clairaut in französischer Sprache. Als er 15 Jahre alt ist, beschäftigt er sich mit den Werken von Isaac Newton (1643 – 1727) und Pierre Simon Laplace (1749 – 1827), mit 17 Jahren entdeckt er einen Fehler in der Mécanique céleste (Himmelsmechanik) von Laplace, was den irischen Astronomen John Brinkley veranlasst festzustellen: »This young man, I do not say will be, but is, the first mathematician of his age.«
Mit 18 Jahren tritt Hamilton in das Trinity College in Dublin ein; seine erste Veröffentlichung bei der Royal Irish Academy folgt ein Jahr später, seine ersten bahnbrechenden Untersuchungen zur Optik im Jahr 1826. Im Rahmen der Zwischenprüfungen an der Universität fordert ihn einer seiner Prüfer auf, sich um eine frei gewordene Professur in Astronomie zu bewerben. Obwohl er sich nicht sonderlich für dieses Gebiet interessiert, bewirbt er sich und setzt sich gegen alle Konkurrenten durch. Allerdings verfasst der Royal Astronomer of Irland bis zu seinem Lebensende nur eine einzige wissenschaftliche Arbeit zur Astronomie, und zwar zur Mondtheorie. Seine Beiträge zur Physik hingegen entwickeln die Lehre der theoretischen Mechanik und der Optik maßgeblich weiter; seine Beiträge zur Mechanik werden in der Literatur gelegentlich den Leistungen Newtons gleich gestellt; sie gehören zu den Grundlagen der Quantenphysik.
1831 veröffentlicht Carl Friedrich Gauß eine Arbeit über biquadratische Reste – das sind Reste, die bei der Division von Biquadraten (vierte Potenzen) durch eine ganze Zahl auftreten können; in dieser Arbeit führt er die Bezeichnung komplexe Zahlen für die Zahlen der Form \(a + b \cdot i\) ein. Auch weist er darauf hin, dass solche Zahlen als Punkte \(( a | b )\) in einem zweidimensionalen Koordinatensystem aufgefasst werden können – also als geometrische Objekte (im deutschen Sprachraum wird die Ebene seither als gaußsche Zahlenebene bezeichnet). Hamilton geht 1832 einen Schritt weiter: Er notiert komplexe Zahlen als algebraische Objekte: als Zahlenpaare \((a , b),\) für die sich zwei Rechenoperationen, eine Addition und eine Multiplikation, wie folgt definieren lassen: \(( a , b ) \oplus ( c , d ) = ( a + c , b + d )\) und \(( a , b ) \otimes ( c , d ) \) \(= ( a\cdot c – b\cdot d , a\cdot d + b\cdot c )\)
Bezüglich dieser beiden Operationen ist die Menge der komplexen Zahlen abgeschlossen, das heißt, die Verknüpfungen führen nicht aus der Menge heraus, und es gelten die Assoziativ- und Kommutativgesetze bezüglich beider Operationen sowie das Distributivgesetz. Weiter existieren neutrale Elemente bezüglich beider Verknüpfungen, und zu jedem Element (ungleich null) existiert jeweils ein inverses Element. Hamilton beschäftigt sich intensiv mit der Frage, ob man auch im dreidimensionalen ähnliche Operationen definieren kann. Aber egal, welchen Ansatz er für eine »Multiplikation« von Zahlentripeln \((a , b, c)\) wählt, sie führt zum Widerspruch; erst 1898 kann von Adolf Hurwitz bewiesen werden, dass solche Verknüpfungen nur für die Dimensionen eins, zwei, vier und acht möglich sind.
Bei der Beschäftigung mit vierdimensionalen Objekten \(( a , b , c , d )\) kommt ihm auf einem Spaziergang im Jahr 1843 die entscheidende Idee: Wenn die Eigenschaft der Kommutativität nicht erfüllt sein muss, dann ist eine Multiplikation möglich: \( ( a , b , c , d )\otimes ( e , f , g , h )\) \(= ( a\cdot e – b\cdot f – c\cdot g – d\cdot h ,\) \( a\cdot f + b\cdot e + c\cdot h – d\cdot g, \) \( a\cdot g – b \cdot h + c\cdot e + d \cdot f ,\) \(a \cdot h + b\cdot g – c\cdot f + d \cdot e )\)
Die Addition wird – wie bei den komplexen Zahlen – komponentenweise definiert: \(( a , b , c , d ) \oplus ( e , f , g , h ) \) \(= ( a + e , b + f , c + g , d + h ). \) Notiert man das Objekt \( ( a , b , c , d ) \) in der Form \(a + b \cdot i + c \cdot j + d \cdot k\), dann gelten zwischen den »Zahlen« \(i, j, k\) die Beziehungen: \( i^2 = j^2 = k^2\) \( = i \cdot j \cdot k = – 1,\) und \( i \cdot j = k = – j \cdot i.\)
Diese Beziehungen ritzt Hamilton während des oben erwähnten Spaziergangs in einen Stein einer Brücke in Dublin, wo heute noch eine Gedenktafel an das Ereignis erinnert . Er bezeichnet diese vierdimensionalen Objekte als Quaternionen (lateinisch: Vierzahl) und eröffnet mit ihrer Entdeckung ein neues mathematisches Forschungsgebiet, die Vektoralgebra. Er selbst findet beispielsweise heraus, dass die Multiplikation von Quaternionen als Drehung von Vektoren im Raum aufgefasst werden kann.
1835 – William Rowan Hamilton ist erst 30 Jahre alt – wird er in den Adelsstand erhoben und darf sich fortan Sir Hamilton nennen. 1832 hat er aufgrund theoretischer Überlegungen ein Phänomen bei der Lichtbrechung an zweiachsigen Kristallen vorausgesagt, das kurze Zeit später experimentell bestätigt wird. Dies lässt ihm ebenso große Anerkennung in der Welt der Wissenschaft zuteil werden wie sein Werk On a General Method in Dynamics (Neue Grundlagen der theoretischen Mechanik, heute kurz als Hamiltonsche Theorie bezeichnet). Er wird zum Mitglied der Royal Society, zum Präsidenten der Royal Irish Academy und zum korrespondierenden Mitglied der Akademie von Sankt Petersburg ernannt.
Sein Privatleben hingegen verläuft weniger »erfolgreich«: Mit 19 Jahren verliebt er sich unsterblich in Catherine, kann sie zu diesem Zeitpunkt aber nicht heiraten. Er sucht Zuflucht in der Literatur, liest Gedichte in persisch und arabisch, und er verfasst selbst Gedichte, die er seinem Freund, dem Dichter William Wordsworth, vorlegt. Dieser hat Schwierigkeiten, ihn davon zu überzeugen, dass die Gedichte weniger gelungen sind als die mathematischen und physikalischen Abhandlungen.
Hamilton heiratete schließlich Helen Bayley, die in der Nachbarschaft des Observatoriums lebte. Seine Ehe, aus der drei Kinder hervorgingen, verlief jedoch nicht immer glücklich. Seine Frau war häufiger krank, er machte sich große Sorgen, und dies beeinträchtigte ihn in seiner Schaffenskraft. Ein ruhiges, zurückgezogenes Familienleben, das er ihr vor der Ehe versprochen hatte, stand im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Verpflichtungen, die sich aus seinem wachsenden Ruhm und den Ämtern ergaben, die ihm angetragen wurden. Hinzu kamen die Phasen, in denen Hamilton rastlos an seinen Projekten arbeitete und er sich tagelang in sein Arbeitszimmer zurückzog.
Die mehrfache krankheitsbedingte Abwesenheit seiner Frau war ebenso Gesprächsthema in der Dubliner Gesellschaft wie ein vermeintlich übermäßiger Alkoholkonsum Hamiltons. Nach einem Zwischenfall bei einem Empfang der Geologischen Gesellschaft Irlands verzichtete Hamilton längere Zeit darauf, Alkohol zu sich zu nehmen.
Als er eines Tages seiner Jugendliebe Catherine wieder begegnete, bemerkte er, wie unglücklich diese in ihrer Ehe war, und seine Liebe zu ihr erwachte aufs neue. Daher war es für Hamilton eine Genugtuung, Catherines ältestem Sohn helfen zu können, als dieser sich 1848 auf sein Universitätsexamen vorbereitete. Auf Catherines Dankesbrief folgte eine lebhafte Korrespondenz zwischen den beiden, bis ihr bewusst wurde, dass diese Briefe ein Verstoß gegen die strengen Sittenregeln ihrer Zeit darstellten. Sie fühlte sich schuldig und informierte ihren Ehemann über den brieflichen Kontakt zu Hamilton. Nach einem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch ihrerseits trennte sie sich von ihrem Mann.
In den folgenden Jahren hatten Hamilton und Catherine immer wieder brieflichen Kontakt zueinander. Ende 1853 erreichte Hamilton ein Päckchen, das ein Federkästchen mit der Inschrift enthielt: »From one who you must never forget, nor think unkindly of, and who would have died more contented if we had once more met.« Bestürzt eilte Hamilton zu Catherine, seiner sterbenskranken Geliebten; beide gestanden sich, dass sie nie aufgehört hatten, einander zu lieben. Er überreichte ihr das erste druckfrische Exemplar seiner Vorlesungen über Quaternionen.
Nach ihrem Tod stürzt sich Hamilton erneut in die Arbeit, will die Lesbarkeit seiner Lectures verbessern. Sieben Jahre lang schreibt er an den Elements of Quaternions, die Elemente des Euklid als Maßstab vor Augen. Als er 1865 stirbt, umfasst das Werk 800 Seiten und es ist noch nicht vollendet. Kurz vor seinem Tod erreicht ihn noch die Nachricht, dass die National Academy of Sciences of the USA ihn zum ersten ausländischen Mitglied ernannt hat.
Mit dem Namen Hamilton verbindet man vor allem Fortschritte in der theoretischen Physik und in der Vektoralgebra. Wichtige Impulse erhält aber auch ein weiteres mathematisches Gebiet durch ihn, die Graphentheorie. Er entwickelt ein »Spiel«: Wie viele geschlossene Wege gibt es längs der Kanten eines regulären Dodekaeders derart, dass jeder Eckpunkt genau einmal durchlaufen wird ? Die Abbildungen unten zeigen, dass auf allen platonischen Körpern Hamiltonsche Wege möglich sind. Solche Wege in beliebigen Netzen zu finden, ist im Allgemeinen mit großem Suchaufwand verbunden.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.