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Psychiatrie: Zwangsbehandlung psychisch Kranker: Was ist erlaubt?

Wenn psychisch kranke Menschen zur Gefahr für sich selbst oder andere werden, können Kliniken sie manchmal auch gegen ihren Willen festhalten. Doch die Voraussetzungen dafür sind streng und immer wieder Gegenstand hitziger Diskussionen.
Leerer Rollstuhl in einem Krankenhauszimmer

Mit so viel Gegenwind hatten die Bayern wohl nicht gerechnet: Nachdem der Freistaat im April 2018 den Entwurf für sein neues Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz vorstellte, war die Empörung groß. Fachverbände, Betroffene und Datenschützer stellten sich gemeinsam gegen den Vorstoß, die Daten von Psychiatriepatienten fünf Jahre lang in einer polizeilichen Kartei zu speichern. Nach dem neuen Gesetz würden Patienten wie Straftäter behandelt, lautete der Vorwurf.

Das verfestige die ohnehin schon vorhandenen Stigmata gegen psychisch Kranke noch weiter. Von den Plänen ist man mittlerweile wieder abgerückt. Doch schon nach den jetzigen Regeln müssen Patienten manchmal mit heftigen Maßnahmen rechnen: Einweisung wider Willen etwa, Fixierung oder Isolation im Zimmer. Aber wann sind diese Freiheitseinschränkungen überhaupt rechtens? Und was lässt sich tun, um den Betroffenen mehr Autonomie zu gewähren?

Wann dürfen Kliniken eine Zwangsbehandlung einleiten?

Erwachsene in Deutschland können auf drei Wegen auch gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik gelangen. Der erste ist im Strafrecht verankert. Wenn eine psychotische Patientin beispielsweise in einer akuten Phase ein Haus niederbrennt und vom Gericht als vermindert schuldfähig angesehen wird, kann sie dafür in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden – dem so genannten Maßregelvollzug. Der zweite Weg führt über das Betreuungswesen: Ein rechtlicher Betreuer kann eine Einweisung veranlassen, muss diese allerdings von einem Richter genehmigen lassen. Diese Option trifft häufig chronisch kranke oder behinderte Menschen.

Heftig diskutiert wird jedoch vor allem der öffentlich-rechtliche Weg über die so genannten Psychisch-Kranken-Gesetze. Von denen gibt es 16 an der Zahl, für jedes Bundesland eines. Um darüber eine Einweisung zu erwirken, muss von einem Patienten eine akute Gefährdung für sich selbst oder andere ausgehen. Häufig trifft das beispielsweise auf Menschen zu, die sich das Leben nehmen wollen. Doch die gesetzlichen Kriterien sind streng, letztlich kann nur ein Richter darüber entscheiden, ob die Maßnahme wirklich gerechtfertigt ist. Eine Klinik darf also aus sich heraus keine Zwangseinweisung verordnen. Hinzu kommt: Patienten können sich auch rechtlich gegen ihre Unterbringung zur Wehr setzen, etwa durch eine Beschwerde beim zuständigen Landgericht.

Was macht eine Unterbringung so heikel?

»Für uns Psychiater und Psychotherapeuten ist es ein tägliches Dilemma«, meint Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Auf der einen Seite stehe das Recht auf Selbstbestimmung, auf der anderen das auf körperliche Unversehrtheit. »Manchmal lässt sich beides nicht gleichzeitig erfüllen«, sagt Deister. »Der einzige Grund für eine Zwangsmaßnahme ist, den Menschen möglichst bald wieder in einen Zustand zu bringen, in dem er wieder selbstbestimmungsfähig ist.«

Auch hier gilt allerdings: Die Maßnahme muss verhältnismäßig sein. Erst im März 2018 kassierte der Bundesgerichthof (BGH) die Entscheidung eines Landgerichts ein. Geklagt hatte ein Bayer, der nach einem Verkehrsunfall an einem Hirnschaden litt. Fast achteinhalb Jahre lang war der Betreute schon untergebracht, nun sollte die Maßnahme »auf unabsehbare Zeit« erneut verlängert werden. Der BGH hob den Beschluss auf und verwies die Sache zurück an das Landgericht. Psychisch Kranke müssten eine Freiheitsperspektive haben, betonten die Richter in ihrem Beschluss.

»Der Richter ist eine Außeninstanz, die noch mal schaut: Muss das wirklich sein? Das ist uns lieb, denn wir sind nicht dazu da, Menschen zu zwingen«Arno Deister

Die gegenwärtige Rechtslage hat noch andere Tücken. In den meisten Bundesländern gilt: Einmal in der Klinik untergebracht, können sich die Patienten nur schwerlich gegen weitere Zwangsmaßnahmen zur Wehr setzen. Um einen Patienten beispielsweise mechanisch zu fixieren, braucht das Klinikpersonal nicht noch einmal den richterlichen Segen. So eine Fesselung wird manchmal nötig, wenn ein Patient aggressiv wird, um sich schlägt und mit anderen Mitteln einfach nicht mehr zu besänftigen ist. Meistens beruhigen sich die Betroffenen in den kommenden Stunden wieder. In Einzelfällen verbleiben sie aber auch mehrere Tage oder gar Wochen in ihren Fesseln – wie lange, liegt meist allein im Ermessen der Kliniker.

Mit diesem Problem befasst sich seit Januar 2018 das Bundesverfassungsgericht. Zwei frühere Psychiatriepatienten hatten Beschwerde eingereicht. Beide wurden während ihres Aufenthalts gegen ihren Willen fixiert. Geht es nach ihnen, sollte ein Amtsrichter die Fixierungen stets noch einmal gesondert absegnen müssen. Für den Prozess luden die Verfassungsrichter den Psychiater Arno Deister zur Anhörung nach Karlsruhe. Er wünscht sich ebenfalls eine strengere Kontrolle – immer dann, wenn die Fixierungen für eine längere Zeit oder wiederholt vonnöten sind. »Der Richter ist eine Außeninstanz, die noch mal schaut: Muss das wirklich sein? Das ist uns lieb, denn wir sind nicht dazu da, Menschen zu zwingen«, sagt Deister.

Wie häufig kommen Zwangseinweisungen vor?

Die Betreuungsgerichte genehmigten 2016 etwa 56 000 Einweisungen. Dazu kamen im gleichen Jahr knapp 76 000 Unterbringungsverfahren nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen der Länder, von denen allerdings nicht alle in einer tatsächlichen Einweisung endeten. Auffällig: Seit Jahren werden diese Zwangsmaßnahmen immer mehr. Bei den betreuten Patienten ist das vermutlich der stetig alternden Bevölkerung geschuldet – die lässt auch die Zahl der Pflegefälle in die Höhe schnellen.

Doch warum steigt die Zahl der öffentlich-rechtlichen Einweisungen nach Ländergesetzen ebenfalls? »Heute wird häufiger ein Richter hinzugeholt als früher«, erläutert Arno Deister. »Wir sind sensibler für Grundrechtseingriffe geworden. Die Autonomie der Patienten werten wir heute viel höher, als wir das noch vor einigen Jahren getan haben.« Sprich: Die Gerichtsstatistik spiegelt nicht unbedingt wider, wie viel Zwang die Klinikmitarbeiter tatsächlich anwenden. Unklar bleibt aber, ob das schon den gesamten Anstieg erklären kann.

Tatsächlich bewegen sich viele Einweisungen im Graubereich: etwa dann, wenn Betroffene zu einem »freiwilligen« Klinikaufenthalt gedrängt werden – verbunden mit der Drohung, andernfalls den Richter zu holen. Einzelne Freiheitsbeschränkungen setzen die Kliniken zuweilen eigenmächtig durch. Das trifft insbesondere ältere Patienten. Bettgitter, wie sie etwa bei Demenzkranken üblich sind, sind nicht immer juristisch genehmigt.

Vergleichsweise wenige Menschen landen übrigens per strafrichterlicher Anordnung in psychiatrischen Krankenhäusern: 2016 waren es rund 800 Betroffene, etwa ein Zehntel davon Frauen.

Wie erleben Patienten den Zwang?

Was die Betroffenen während der unfreiwilligen Behandlung empfinden, war lange Zeit kaum systematisch erforscht. Erst in den letzten Jahren rückte die Patientenperspektive verstärkt in den Fokus. In einer Interviewstudie des Tübinger Psychiaters Gerhard Längle empfanden die meisten Patienten ihre Unterbringung auch im Nachhinein als ungerechtfertigt. Nur ein gutes Drittel der Befragten fühlte sich im Vorfeld umfassend aufgeklärt.

Als besonderen Vertrauensbruch erleben Klinikpatienten oftmals die einzelnen Maßnahmen, mit denen sie im Krisenfall unfreiwillig »ruhiggestellt« werden. Das ergab eine Befragung der österreichischen Ärztin Beatrice Frajo-Apor und ihrer Kollegen. Gerade die mechanische Fixierung beschrieben die Teilnehmer als belastend oder gar traumatisierend. Sie berichteten von intensiven Gefühlen wie Angst, Ohnmacht oder Hass. »Ich finde, noch etwas Erniedrigenderes kann dir eigentlich da in der Psychiatrie nicht passieren«, meinte beispielsweise eine befragte Borderline-Patientin.

»Etwas Erniedrigenderes kann dir in der Psychiatrie nicht passieren«anonyme Psychiatriepatientin

Im europäischen Vergleich fällt auf, dass andere Staaten mit stark erregten Patienten oft völlig anders umgehen, als es hier zu Lande der Fall ist. In Großbritannien sind Fixierungen beispielsweise unüblich. Dort halten die Pfleger solche Patienten eher mit den Händen fest, anstatt sie am Bett festzubinden. Das ist manchmal schneller und effektiver als eine mechanische Fesselung, doch nicht in jedem Fall die beste Lösung: Opfer von sexueller Gewalt könnten die Haltetechniken mitunter als besonders bedrohlich empfinden. Die Briten setzen auch stärker als in Deutschland auf die so genannte Isolierung. Dafür sperren sie die stark erregten Patienten in einen reizarmen Raum, in dem diese sich dann aber frei bewegen können.

Fest steht: In einer Notlage stehen oft verschiedene Optionen zur Wahl. »Patienten sind sehr unterschiedlich. Wir wollen das Mittel wählen, das für sie am wenigsten eingreifend ist«, meint Arno Deister. Werden Patienten etwa wiederholt krank, bieten sich Behandlungsvereinbarungen an. Darin können sie gemeinsam mit ihren Therapeuten festlegen, welche Zwangsmaßnahme sie im Krisenfall bevorzugen. Auch über Patientenverfügungen können die Betroffenen ihre Behandlungswünsche im Voraus festlegen. Das stärkt die Autonomie der Patienten, sorgt in der Praxis aber manchmal trotzdem für Probleme, beispielsweise wenn unklar ist, wie selbstbestimmungsfähig der Betroffene war, als er das Papier verfasste. Eine Willenserklärung schützt auch nicht prinzipiell vor einer unfreiwilligen Einweisung oder anderen Freiheitsbeschneidungen.

Ist eine Psychiatrie mit weniger Zwang möglich?

Wie eine Gesellschaft mit »wohltätigem Zwang« verantwortungsvoll umgehen soll, diskutiert seit 2017 auch der Deutsche Ethikrat. Andreas Heinz, Direktor der psychiatrischen Klinik an der Berliner Charité, stellte dort bei einer Anhörung eine überraschend simple Idee vor. Die Akutstationen sollen tagsüber ihre Türen öffnen. Gemeinsam mit seinem Team konnte er beobachten, wie vertrauensbildend das neue Reglement wirkte. Ärzte verabreichten danach seltener zwangsweise Medikamente. Patienten attackierten seltener ihre Zimmernachbarn oder das Klinikpersonal. Vor allem stellte sich jedoch heraus: Nach der Türöffnung türmten keineswegs mehr Patienten von der Station. Ob diese positiven Folgen tatsächlich der geänderten Türpolitik zu verdanken waren, ließ sich allerdings nicht zweifelsfrei feststellen.

Auch die Betroffenen selbst sehen oft Möglichkeiten, die Zwangsmaßnahmen abzuwenden. Juliane Mielau von der Charité interviewte mit ihren Kollegen 90 Patienten für eine 2017 veröffentlichte Studie. Viele der Befragten gaben an, wie die unfreiwilligen Maßnahmen ihrer Meinung nach hätten verhindert werden können: durch häufige therapeutische Einzelgespräche etwa, Deeskalationstrainings für die Mitarbeiter, bessere Personalschlüssel oder mehr Rückzugsmöglichkeiten in der Klinik.

Entscheidend sei unter anderem die Bettenanzahl, meint Andreas Heinz. »Unserer Erfahrung nach sind Stationsgrößen mit über 18 bis 20 Patientinnen und Patienten zu groß, um deeskalierend zu wirken«, betonte er bei der Anhörung des Ethikrats. Kritisch werde es insbesondere dann, wenn gleich mehrere aggressive oder gereizte Patienten auf derselben Station seien.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Psychiatrie noch eng mit den rabiaten Methoden verknüpft, die sie in der Vergangenheit prägten – und das zum Teil heute noch tun. Aber das kann sich ändern. Die Forschung zeigt durchaus Ansätze, um ein Versorgungsnetzwerk für psychisch Kranke mit weniger Zwang zu verwirklichen – obwohl einige der Ideen nur mit mehr Personal und intensiverer Betreuung denkbar sind. Zwar ist das Gesundheitssystem heute weitaus humaner als noch in den 1970er Jahren, als die Psychiatrie-Enquête des Bundestags schwer wiegende Mängel in der Versorgung psychisch kranker Menschen offenbarte. Doch wenn es um den Abbau von Zwangsmaßnahmen geht, hat das Psychiatriewesen noch einen weiten Weg vor sich.

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