Gentherapie: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
2015 ist Hassan sieben Jahre alt und dem Tod nahe. Er leidet an einer seltenen Hauterkrankung, der Schmetterlingskrankheit: Sie macht seine Haut so empfindlich wie die Flügel der Insekten. Auf Grund eines Gendefekts fehlt ein Teil des Proteins Laminin-332, das die obere in der unteren Hautschicht verankert. Als er in die Bochumer Kinderklinik eingeliefert wird, sind 60 Prozent seiner Hautoberfläche zerstört, und seine Eltern treffen eine Entscheidung, die ihm das Leben rettet: Gemeinsam mit Kollegen aus Italien wagen die Bochumer Ärzte eine Gentherapie als Heilversuch. Sie isolieren Stammzellen aus Hassans Haut, schleusen das intakte Gen ein und züchten neue, gesunde Haut, die sie dem Jungen in drei Operationen transplantieren – insgesamt 0,85 Quadratmeter. Heute führt Hassan ein weitgehend normales Leben und geht zur Schule.
Seit dem ersten Gentherapieversuch vor fast 30 Jahren hat es immer wieder erstaunliche Erfolge, aber ebenso Rückschläge und einige Todesfälle gegeben. Tausende Studien führten Forscher seither durch, und jedes Jahr kommen mehr als 100 neue hinzu. Viele blieben – und bleiben noch – im Versuchsstadium stecken, immerhin aber wurden in Europa seit 2012 vier Gentherapeutika zugelassen. Allein im Jahr 2017 gab die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA für drei gentherapeutische Arzneimittel grünes Licht. Wird also der Wunschtraum Gentherapie nun endlich wahr?
Die Gentherapie hat Tücken
Die initiale Idee hinter einer Gentherapie ist bestechend einfach: Vielen Krankheiten liegt ein einziger Gendefekt zu Grunde, der das entsprechende Protein funktionslos macht. Ersetzt man das fehlerhafte Gen durch ein intaktes, versetzt man die Zellen wieder in die Lage, das Protein korrekt zu produzieren. Die Devise lautet also heilen statt lindern, denn man beseitigt die Ursache der Erkrankung. »Das ist ungefähr so, als würde man einem Buch, in dem ein Druckfehler ist, einen Zettel beilegen mit den korrekten Worten und so die fehlerfreie Information hinzufügen«, erklärt Bernd Wissinger, Leiter des Molekulargenetischen Labors des Forschungsinstituts für Augenheilkunde der Universität Tübingen. Die Umsetzung in die Praxis hat allerdings ihre Tücken.
Eine wirklich harte Nuss ist bis heute der Transport eines intakten Gens in die entsprechenden Zellen. Schon früh kam man auf die Idee, Viren als »Gentaxi« zu nutzen, denn sie sind Spezialisten, wenn es darum geht, Erbgut in Zellen einzuschleusen: Sie integrieren ihre eigene DNA in das Erbgut der Wirtszellen, um sich dann auf deren Kosten zu vermehren – ein Mechanismus, den sie in Jahrmillionen perfektioniert haben. Allerdings hatten ihre Wirte genauso lange Zeit, sich gegen die Virenangriffe zu wappnen.
Gentherapie auf einen Blick
Heute existieren viele unterschiedliche Ansätze, um Genfehler zu korrigieren. Bei allen existieren immunologische und/oder genetische Nebenwirkungen. Eine Gentherapie erfolgt in vivo (lateinisch für »im Lebendigen«), indem Vektoren das Korrekturgen oder die Genschere in die gewünschten Zellen transportieren; oder ex vivo (»außerhalb des Lebendigen«), indem Ärzte Patientenzellen im Labor gentechnisch verändern und dann zurückführen.
Vektoren: Mit Hilfe von Viren transportiert man ein Korrekturgen in die entsprechenden Zellen. Je nach Zielorgan werden sehr hohe Virenmengen benötigt, um eine ausreichend hohe Zahl von Zellen mit dem Korrekturgen zu versorgen. Das kann zu Überreaktionen der Immunabwehr führen. Hinzu kommt, dass sich das Korrekturgen zufällig ins Erbgut integriert, man kann den Ort nicht bestimmen.
CAR-T-Therapie: Keine klassische Gentherapie. Hier wird T-Zellen ein künstliches Gen hinzugefügt. Das Proteinprodukt, der CAR, spürt Krebszellen auf und leitet ihre Vernichtung ein. Die Methode kann eine Entgleisung der Immunabwehr auslösen.
Genscheren: Mit Genscheren kann man Gene gezielt und kontrolliert manipulieren: Man kann sie an einem vorher bestimmten Ort einfügen, inaktivieren und in der Zelle reparieren. Fehlschnitte in der DNA können ebenfalls zu unerwünschten Nebenwirkungen führen.
Injiziert man also virale Gentaxis, auch Vektoren genannt, in den Körper, bleibt das nicht unbemerkt. Selbst dann nicht, wenn es sich um »entschärfte« Viren handelt, die sich nicht mehr vermehren und keine Krankheiten auslösen. Vielmehr interagieren diese harmlosen Viren ebenfalls umgehend mit Molekülen des Immunsystems, und der größte Teil von ihnen wird beseitigt. Um also eine ausreichend große Zahl von Zellen mit einer intakten Genkopie zu versorgen, müssen Ärzte mehrere Billionen solcher Vektoren einsetzen – eine Virenlast, die der Körper im schlimmsten Fall nicht verkraftet. So geschehen bei Jesse Gelsinger, dessen Schicksal bis heute einen dunklen Schatten auf die Geschichte der Gentherapie wirft und die vor zwei Jahrzehnten herrschende Euphorie deutlich dämpfte. Der 18-Jährige hatte an einer leichten Form einer erblich bedingten Stoffwechselstörung der Leber gelitten und sich 1999 freiwillig für eine Gentherapiestudie gemeldet. Vier Tage nach dem Versuch, sein Leiden durch ein intaktes Gen zu heilen, starb der junge Mann, weil sein Immunsystem auf Grund der Virenschwemme kollabierte.
Das Problem der Vektoren
Einen Haken gibt es bei klassischen Gentherapien weiterhin: Niemand kann exakt vorhersagen, wo das Korrekturgen sich ins Erbgut einklinkt, was fatale Nebenwirkungen haben kann: Zwischen 2006 und 2009 gelang es zum Beispiel, zehn Kinder mit einer angeborenen, schweren Immunschwäche, dem Wiscott-Aldrich-Syndrom, erfolgreich zu behandeln. Erst nach einigen Jahren zeigten sich verheerende Nebenwirkungen: Sieben der zehn Kinder hatten Blutkrebs entwickelt. Die Viren hatten das fehlerfreie Gen, das die Symptome der Krankheit verschwinden ließ, stabil ins Erbgut eingebaut, dabei aber offenbar Gene aktiviert, die eine Krebsentstehung fördern.
Immerhin: Heute verwendet man Gentaxis, die das Erbgut links und rechts vom gewünschten Insertionsort weniger stark beeinflussen, wodurch das Leukämierisiko verringert wird. Eine andere Möglichkeit, das Risiko zu umgehen, ist die Verwendung einer anderen Virengruppe, von so genannten AAVs (adeno-assozierte Viren). Diese transportieren ein Gen zwar in den Zellkern, bauen es aber nicht in das Erbgut ein. Den Vorteil erkauft man sich mit dem Nachteil, dass die genetische Korrektur womöglich nicht von Dauer ist, weil sie eben nicht stabil ins Erbgut eingefügt ist.
Neue Gentaxis: Treffgenauer und sicherer
Die im Dezember 2017 in den USA zugelassene Gentherapie Luxturna nutzt ein solches Virus und dient der Behandlung einer schweren Augenerkrankung. Betroffene erblinden oft schon als Kinder, weil eine Mutation im Gen RPE-65 die Netzhaut zerstört. Ärzte spritzen Patienten Luxturna direkt ins Auge, wo das Gentaxi eine intakte RPE-65-Version in die Netzhaut transportiert. »Es ist keine Heilung, die hier erzielt wird – aber es gab eine klare, für den Patienten relevante Verbesserung, die dann hoffentlich anhält«, sagt Wissinger, der kürzlich eine eigene Gentherapiestudie zu einer erblich bedingten Augenerkrankung beendet hat. Seine Patienten leiden an Achromatopsie, sie erkennen keine Farben und sehen stark verschwommen.
Allerdings existieren beim Einsatz der vermeintlich sicheren AAVs ebenfalls Unwägbarkeiten: Im Januar 2018 wurden Studienergebnisse veröffentlicht, die von massiven Nebenwirkungen bei Affen und Schweinen berichten, nachdem den Tieren eine extrem hohe Dosis AAV-Vektoren intravenös verabreicht worden war – eine so hohe Konzentration ist zum Beispiel nötig, um Krankheiten des Muskel- oder Nervensystems zu kurieren. »Es sind noch nicht alle Probleme gelöst. Ich denke, dass die Gentherapie bei bestimmten Organen, etwa beim Auge, schneller vorankommen und etabliert sein wird als bei anderen Organen«, erklärt Wissinger.
Hilfe zur Selbsthilfe: Hochgerüstete Eigenabwehr
Spektakuläre Fortschritte hat es in den vergangenen Jahren auch bei der Behandlung bestimmter Krebsarten gegeben. »Vor allem Therapien mit CAR-T-Zellen haben sich in klinischen Studien bei der Behandlung von Leukämien und Lymphomen als sehr wirksam erwiesen«, sagt Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, zu dessen Kernaufgaben die Bewertung biomedizinischer Arzneimittel gehört. In den USA wurden 2017 zwei CAR-T-Zelltherapien, Kymriah und Yescarta, zur Behandlung von Leukämien zugelassen, die Markteinführung in Europa steht bevor.
Ziel dieser Therapie ist die gezielte Vernichtung von Krebszellen mit Hilfe körpereigener T-Zellen, der Hauptakteure der Immunabwehr. Anders als bei anderen Gentherapien wird hier aber kein Gendefekt korrigiert, sondern ein zusätzliches Gen hinzugefügt. Ärzte entnehmen Patienten dafür zunächst T-Zellen, bauen das Gen für den »chimeric antigen receptor« (CAR) darin ein und führen die veränderten T-Zellen wieder den Spendern zu. Der von den T-Zellen dann produzierte CAR spürt Krebszellen anhand bestimmter Erkennungsstrukturen auf. Den Teil des CARs, der aus der Oberfläche der Immunzellen herausragt, kann man sich als Puzzlestück vorstellen. Wenn nun die T-Zellen durch den Körper patrouillieren und das Puzzlestück sein Gegenstück findet – ein spezifisches Antigenprotein auf der Oberfläche einer Krebszelle –, leitet das die Zerstörung der Tumorzelle ein.
Die CAR-T-Zelltherapie löst damit ein Grundproblem der Krebstherapie: Krebszellen lernen im Lauf der Zeit, sich für das Immunsystem unsichtbar zu machen. CAR-T-Zellen enttarnen sie und machen sie wieder angreifbar. Eine Ikone dieser Therapie ist Emily Whitehead, bei der im Alter von sechs Jahren eine nicht behandelbare Leukämie diagnostiziert wurde und die seit nunmehr sechs Jahren krebsfrei ist.
Allerdings darf dieses Vorzeigebeispiel nicht darüber hinwegtäuschen, dass die CAR-T-Zelltherapie zum Teil massive Nebenwirkungen hat. Denn: »Mit CAR-T-Zellen wird ein sehr potenter Mechanismus genutzt, der zu einer wirksamen Therapie, aber auch zur Entgleisung des Immunsystems und ohne Gegenmaßnahmen schlimmstenfalls zum Tod führen kann«, sagt Cichutek. Zwei Probleme stehen dabei im Vordergrund: Zum einen reagiert der Körper auf hochaktive CAR-T-Zellen, indem er vermehrt Botenstoffe, etwa Zytokine, freisetzt, die Entzündungsreaktionen auslösen. Im Extremfall kann das einen lebensbedrohlichen Zytokinsturm auslösen.
Zum anderen sind die Attacken der absichtlich entsicherten CAR-T-Zellen heftig, teilweise sogar unkontrolliert: Sie eliminieren nicht nur entartete, sondern auch gesunde Zellen. Bislang eignen sie sich deswegen vor allem als Waffen gegen Krebsarten wie die Leukämie. Denn hier lassen sich durch Kollateralschäden verloren gegangene Blutzellen nach der Therapie ersetzen. Bei soliden Tumoren, also »klassischen« Krebsarten wie Brust- oder Lungenkrebs, ist die CAR-T-Zelltherapie bisher weniger erfolgreich. Dennoch sind hier etliche klinische Prüfungen angelaufen: Um gesundes Gewebe zu schonen, wollen Forscher mehrere Erkennungsstrukturen (Puzzlestücke) von Tumorzellen kombinieren.
Hoffnung Genscheren: Kontrolliert und präzise
Einen enormen Aufwind erhält die Forschung rund um Gentherapien durch die Genome-Editing-Verfahren, allen voran CRISPR/Cas. Statt es dem Zufall zu überlassen, wo ein »Korrekturgen« sich ins Erbgut einklinkt, kann man den Ort nun mit Hilfe der Genscheren präzise bestimmen. Ein riesiger Fortschritt, der unliebsame Nebenwirkungen vermeiden kann. Hinzu kommt, dass man mit Genome-Editing-Verfahren Gene nicht nur hinzufügt oder inaktiviert, sondern sie gezielt »reparieren« kann.
Aber auch Genscheren haben ihre Schattenseite. Ab und an schneiden sie daneben, ein Phänomen, das als Off-Target-Effekt bekannt ist. Diese Fehlschnitte können ebenfalls zu Nebenwirkungen führen. »So viel versprechend die Methode ist: Sie steckt noch in den Kinderschuhen. Wir haben noch keine Langzeiterfahrung, und wir wissen, dass sich manche Probleme erst nach mehreren Jahren zeigen«, sagt Toni Cathomen, Direktor des Instituts für Transfusionsmedizin und Gentherapie der Universität Freiburg, der mit einer Genscheren-Gentherapie Aids heilen möchte: Manche Menschen sind wegen einer Mutation im Gen für CCR5, einen Rezeptor, über den das HI-Virus in die Zelle eindringt, resistent gegen HIV. Durch das Inaktiveren des CCR5-Gens in Blutstammzellen könnten Patienten ein neues, HIV-resistentes Immunsystem entwickeln. Im Tierversuch war der Ansatz bereits erfolgreich, eine klinische Studie ist für 2019 geplant.
»Durch die intensive Forschungsarbeit der letzten Jahre und eine Vielzahl von Studien verstehen wir die Wirkungszusammenhänge heute viel besser. Und diese Entwicklung wird sich weiter verstärken«, sagt auch Cichutek. »Derzeit befinden sich elf Arzneimittel für neuartige Therapien im europäischen Prime-Verfahren, das das letzte Stadium der Arzneimittelentwicklung vor Beantragung der Arzneimittelzulassung ebnen und beschleunigen soll. Aus Sicht des Paul-Ehrlich-Instituts ist es ein Wendepunkt, dass Gentherapeutika in die Phase der Zulassung gelangen und eine zunehmende Anzahl dieser Arzneimittel Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen wird.«
Oder: Wer soll das bezahlen?
Während die biologischen Hürden langsam kleiner werden, entstehen andere Herausforderungen. Die einen sind ethischer Natur, Stichwort »Designerbabys«. Die anderen sind monetärer Art: Gentherapien sind extrem teuer. Luxturna etwa kostet 850 000 US-Dollar, Kymriah schlägt mit 475 000 US-Dollar zu Buche. Pharmaunternehmen rechtfertigen die Preise mit hohen Entwicklungskosten. Zudem hoffen die Pharmaentwickler, dass die Behandlung mehrere Jahre wirkt, im Idealfall sogar lebenslang. Auf diese Weise könnte im Gesundheitssystem unter dem Strich sogar Geld für Therapieversuche eingespart werden.
Aber: »Die jetzt im Raum stehenden Kosten sind eindeutig zu hoch. Letztlich sollte hier die Politik eingreifen, durch Deckelung der Kosten beziehungsweise im Rahmen von Verhandlungen zwischen Kostenträgern und Anbietern«, findet Wissinger. Letztlich braucht es hier eine gesellschaftliche Diskussion: Was sind uns Gentherapien wert, die Blinde sehend machen, Krebskranke heilen und anderen lebenslange Behandlungen und Leid ersparen?
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