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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte vom perfekten Pazifismus, der am Menschen scheiterte

Fernab vom Rest der Welt hatten die Moriori eine fast paradiesische Form des Zusammenlebens gefunden, erzählen unsere Kolumnisten. Dann kam, was nicht kommen durfte.
Kanu der Maori und Walfängerschiff in der Bay of Plenty im Jahr 1870
Das Gemälde von Louis Dodd (1943–2006) zeigt ein Kanu der Māori und Segelschiffe für den Walfang in der neuseeländischen Bay of Plenty.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

In den frühen Morgenstunden des 29. November 1791 meldete der Ausguck der »HMS Chatham« Land in Sicht. Der Zweimaster war einige Tage zuvor von der Südostküste jener Inselgruppe aufgebrochen, die bei den indigenen Einwohnern Aotearoa hieß und heute besser bekannt ist als Neuseeland. Dann hatte ein Sturm ihn rund 500 Kilometer auf den offenen Pazifik hinaus abgedrängt. Weit nach Osten, wo die Seekarten an Bord der »Chatham« nur freies Wasser in jeder Richtung verzeichneten.

Und nun war die Crew unerwartet auf eine gar nicht so kleine Insel gestoßen. Kommandant Leutnant William Robert Broughton, Entdeckungsreisender im Dienst Seiner Königlichen Majestät, ließ die Beiboote klarmachen.

Schon der erste Landgang offenbarte: Neuland war die Insel nur für Europäer. Seit Generationen wohnten hier Menschen, die die heranrudernden Briten neugierig am Strand begrüßten. Die Moriori hatten die Hauptinsel, genannt Rekohu, samt den umliegenden kleineren Eilanden und Felsen ungefähr ab dem frühen 16. Jahrhundert besiedelt, wie Forschungen ergaben.

Das hielt Leutnant Broughton freilich nicht davon ab, die Insel sogleich formell für das Empire in Besitz zu nehmen.

In den rund 300 Jahren, in denen die Moriori ihr abgelegenes Stückchen Festland bereits bewohnten, hatten sie eine außergewöhnliche Gesellschaftsform hervorgebracht. Eine Gesellschaftsform, die ihnen vermutlich noch jahrhundertlang ein Überleben auf der Insel gesichert hätte, auch ohne jeglichen Kontakt zum Rest der Welt, wäre es nicht zur Begegnung mit den europäischen Seefahrern und den darauf folgenden Ereignissen gekommen.

Die Lebensweise der Moriori war von einer beeindruckenden Anpassungsfähigkeit an die isolierte Umgebung geprägt. Sie ernährten sich hauptsächlich von Fischen, Krustentieren, gestrandeten Walen, Robben und Meeresvögeln, die in regelmäßigen Abständen die Insel aufsuchten, um dort zu brüten oder sich zu mausern. Für Gartenbau war das Klima der kühlen, häufig in Nebel gehüllten Insel nicht geeignet. Sie verließen sich aber auf wild wachsende Pflanzen wie Farne, verspeisten die Kerne des Karakabaums oder die Herzen der Nikau-Palme.

Das Leben auf der Insel ist gut, aber kurz

Es war kein karges, aber auch kein paradiesisches Leben. Vor allem die geringe Lebenserwartung machte den Moriori zu schaffen. Schuld daran war ihre Nahrung, die zwar viele Proteine lieferte, allerdings auch die Zähne angriff, was wiederum zu häufigen Erkrankungen und einer durchschnittlichen Lebenserwartung von knapp 32 Jahren führte, ein Wert, bei dem die recht hohe Kindersterblichkeit bereits herausgerechnet worden ist.

Wie also schafften es die Moriori über die Jahrhunderte, eine recht stabile Bevölkerung von knapp 2000 Menschen aufrechtzuerhalten, ohne die begrenzten Ressourcen auszubeuten oder sich gegenseitig in Machtkämpfen die Köpfe einzuschlagen? Das hing mit der eingangs erwähnten Gesellschaftsstruktur zusammen.

Im Gegensatz zu den hierarchischen Stammesstrukturen, die in der polynesischen Welt weit verbreitet waren, entwickelten die Moriori ein mehr oder weniger egalitäres System. Anführer wurde man nicht wegen seiner Abstammung, sondern auf Basis von Weisheit und Überzeugungskraft. Das war aber noch nicht alles.

Der Legende nach führte ein Stammesführer namens Nunuku irgendwann im 16. Jahrhundert ein pazifistisches System ein. Es heißt, er habe genug gehabt von Blutfehden und Kriegen zwischen den Stämmen. Nunuku schaffte es, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass ein streng friedliches System die einzige Möglichkeit wäre, auf der Insel zu überleben.

Ob sich die Geschichte um Nunuku genau so zugetragen hatte, wissen wir nicht. Das nach ihm benannte Nunuku-Whenua-Gesetz sorgte aber schließlich dafür, dass kriegerische Auseinandersetzungen oder andere Gewalttaten auf der Insel der Vergangenheit angehörten. Wer einen Disput austragen wollte, tat dies entweder mit Worten oder im schlimmsten Fall mit Stöcken. Sobald Blut floss, wurden die Streitigkeiten beendet. Wer gegen das System verstieß, wurde selbst verstoßen – auf der abgelegenen Insel ein Todesurteil.

Doch diese friedvolle Lebensweise hatte eine Schwäche, wie sich in den Jahrzehnten nach der Landung der »HMS Chatham« zeigen sollte.

Krankheiten, Gewalt und ein Massaker

Mit der Zeit tauchte die Insel, die nun ebenfalls Chatham hieß, auf immer mehr Seekarten auf. Die Europäer interessierten sich vor allem für deren reichhaltige Robbenbestände. Wenn sie wieder abreisten, hinterließen sie neue Tierarten wie Schweine und Hunde. Und schlimmer noch: Krankheiten, gegen die die Einheimischen keine Immunität hatten. Ihnen fiel bis in die 1830er Jahre geschätzt ein Fünftel der Morioribevölkerung zum Opfer.

Ihre Lebensweise, Religion und Kultur allerdings konnten die Moriori trotz dieses dramatischen Einschnitts behalten. Inklusive des Nunuku-Whenua-Gesetzes, an dem sie weiterhin festhielten.

An die 900 bewaffnete Māori setzten auf die Chathaminseln über und erklärten sie zu ihrem Eigentum

43 Jahre war es her, dass mit der »Chatham« erstmals ein Schiff der Europäer vor Rekohu aufgetaucht war, als sich die eigentliche Katastrophe anzubahnen begann. Das Jahr 1835 markierte den Anfang vom Ende all dessen, was sich die Moriori seit Jahrhunderten bewahrt hatten.

Mitglieder der Taranaki Māori, die in Port Nicholson lebten, jenem Ort, an dem später die Hauptstadt Neuseelands, Wellington, gegründet wurde, beschlossen nämlich, auf die Chathaminseln auszuwandern. Es wurde zum Aufeinandertreffen zweier Gesellschaftssysteme, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Die Einführung von Musketen aus europäischer Produktion hatten auf Neuseeland dazu geführt, dass die lokalen Stammeskriege der Māori untereinander regelmäßig zu einem Blutbad ausgeartet waren. Infolge dieser so genannten Musketenkriege – und bewaffnet mit den namensgebenden Schusswaffen – setzten im November des Jahres 1835 die kriegerischen Taranaki Māori auf die Chathaminseln über, um sich dort anzusiedeln. Um die 900 Menschen landeten mit einem Schlag auf der Hauptinsel. Die Moriori, die zuvor nur friedlichen Kontakt zu einzelnen Māori gehabt hatten, erkannten die Gefahr nicht sofort. Erst als die Neuankömmlinge begannen, Stück für Stück der Insel für sich zu beanspruchen und dort lebende Moriori zu ihren Vasallen zu ernennen, wurde bei einem großen Treffen diskutiert, das althergebrachte Nunuku-System zu überdenken.

Junge Stammesführer hatten erkannt, dass ihr pazifistisches System keinerlei Möglichkeiten bot, sich gegen den feindlichen Einmarsch zu wehren, und schlugen vor, die Invasoren zu töten – oder es zumindest zu versuchen. Schlussendlich aber setzten sich jene durch, die sich für die Beibehaltung des Pazifismus aussprachen. Das Nunuku-Whenua sei ein moralischer Imperativ, ungeachtet der neuen Umstände. Es war eine folgenschwere Entscheidung.

Im Lauf der nächsten Monate verübten die Māori an den Moriori ein beispielloses Massaker, ohne jegliche Gegenwehr zu erfahren. Systematisch vertrieben sie die Alteingesessenen aus ihren Siedlungen, töteten sie entweder oder versklavten sie. Wie später auf der Insel lebende Missionare berichteten, verloren dabei mehr als 400 Moriori ihr Leben, der Rest musste ab diesem Zeitpunkt unter grauenhaften Umständen leben. Hinzu kamen neuerliche Epidemien, so dass die Zahl der Moriori in den 1860er Jahren auf weniger als 100 Personen geschrumpft war.

Mythen und falsche Narrative bis ins 20. Jahrhundert

In der Zwischenzeit hatte Großbritannien Neuseeland und damit auch die Chathaminseln zur Kolonie erklärt, was die Situation für die Moriori nur noch schlimmer machte. Im Zuge des Native Land Court Settlement im Jahr 1870 wurde den Māori ein Großteil der Insel zugesprochen, die wenigen verbleibenden Moriori mussten sich mit bewaldetem oder schlecht bebaubarem Land zufriedengeben.

Damit nicht genug. Die britischen Kolonialherren nutzten die Geschichte der Moriori, um die Māori als kriegslüsterne Gewalttäter in Verruf zu bringen und so ihre eigenen Gewalttaten gegen die Ureinwohner Neuseelands zu rechtfertigen. Es wurden Gerüchte in die Welt gesetzt, die sich bis weit ins 20. Jahrhundert halten würden: Die Moriori seien die eigentliche indigene Bevölkerung Neuseelands gewesen und auch dort schon von Māori vertrieben und ausgelöscht worden. Selbst in mehreren Schulbüchern wurde dieser Mythos verbreitet – ein Narrativ, das die rücksichtslose Kolonialisierung Neuseelands durch die Briten beschönigen sollte und damit den Blick auf die Indigenen der Region über Jahrzehnte verzerrte.

Erst im späten 20. Jahrhundert begann sich das Bild der Moriori zu wandeln. Die Veröffentlichung von Studien und historischen Aufzeichnungen, die die tatsächliche Geschichte der Moriori beleuchteten, half, die alten Mythen und Missverständnisse zu korrigieren. Der Moriori Claims Settlement Act von 2021 markierte einen Wendepunkt, indem er der Gruppe formelle Anerkennung und Entschädigung gewährte und damit einen Prozess der Restitution und des kulturellen Wiederaufbaus unterstützte.

Die Geschichte der Moriori zeigt, dass pazifistische Systeme funktionieren können, allerdings nur, wie es der Historiker Michael King in seinem Werk über die Moriori formuliert, wenn alle das gleiche Gewissen teilen. Etwas, das weder Briten noch Māori taten.

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