Direkt zum Inhalt

Die Selbstwertbombe: Alles über Selbstwertkonzepte

Die eine fürchtet Ablehnung, der andere definiert sich ausschließlich über seine Leistung: Bekommt sie Kritik oder kann er nicht die volle Leistung bringen, sehen sich beide als wertlos an. Vielen persönlichen Problemen und psychischen Störungen liegen Selbstwertprobleme zugrunde. Erst wenn man die schädlichen Selbstwertkonzepte bearbeitet hat, kann man wieder persönliche Ziele und Werte erreichen bzw. diesen entsprechen.
Nägelkauen

1.1 Was sind Selbstwertkonzepte?

Wie ist das mit Ihnen: Halten Sie sich eher für einen bedeutenden oder eher für einen wertlosen Menschen? Was halten Sie von Ihrem Nachbarn, dem neuen Kollegen, dem Obdachlosen dort drüben auf der Parkbank? Wer fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an besonders wertvolle, wichtige Menschen denken? Wer sind die Versager, die Nichtsnutze und Taugenichtse?

Also, mal ehrlich: Wem fiele da nicht die eine oder andere Person ein ...?

Falls Sie zu einem Ergebnis gekommen sind: Weshalb ist das so? Weshalb halten Sie sich (oder einen anderen Menschen) für bedeutend oder wertlos?

Die Antwort auf diese Frage liefert Ihr Wertkonzept, Ihre persönliche Art und Weise, nach der Sie Ihren eigenen Wert und möglicherweise auch den von anderen Personen bestimmen.

Wenn es um Selbstwertkonzepte geht, wird automatisch die Frage aufgeworfen: Was ist das: ein wertvoller Mensch? Oder: Wie oder wonach bestimme ich den Wert eines Menschen?

Das sind ziemlich gewichtige Fragen. Die wenigsten von denen, die gerade sich selbst oder jemand anderen auf- oder abwerten, haben darüber bewusst nachgedacht. Dennoch kommen sie recht fix zu einem Urteil – weil sie spontan, d.h. ohne darüber nachzudenken Wertmaßstäbe angelegt haben, die ihnen meist selbst nicht mehr bewusst sind.

»Positives« Wertbestimmen. Hier wird beschrieben, wie jemand sein muss, um wertvoll zu sein. Ein »positives« Wertbestimmen besteht also im Aufzählen von Eigenschaften, Fähigkeiten oder moralischen Werten, die jemand erfüllen muss, um etwas zu taugen, z. B. »fleißig, sauber, pünktlich, ehrlich, treu und zuverlässig«.

»Negatives« Wertbestimmen. Viele finden es leichter zu erklären, weshalb jemand gerade »nichts« oder »nicht so viel« taugt, als die zuvor aufgestellte Frage nach dem Wert des Menschen zu beantworten. So werten manche sich selbst oder andere z. B. dafür ab, weil sie gerade einen Fehler begangen haben, weil sie abgelehnt oder ausgelacht wurden, weil sie nicht (mehr) so viel leisten können, weil sie nichts (mehr) besitzen oder weil sie krank oder arbeitslos sind.

Negatives Wertbestimmen ist allerdings in den seltensten Fällen umkehrbar, denn kaum jemand von denen, die so ihren Wert festlegen, würde bestätigen, dass es ausreichte, diese eine Eigenschaft – die jetzt gerade fehlt – zu besitzen, um wertvoll zu sein. Es reicht lediglich, sie »nicht« zu besitzen, um sofort an Wert zu verlieren oder gar nichts mehr zu taugen.

1.2 Wie entstehen Selbstwertkonzepte?

Vererbte Muster

Als Vertreter der Art »homo sapiens« ist uns bereits ein gewisses Maß an Sozialverhalten in die Wiege gelegt worden: Wir mögen nicht (dauerhaft) allein sein, ziehen das Leben in sozialen Gruppen vor und streben dabei nach möglichst viel (Überlebens-)Sicherheit. Dazu versuchen wir, in unserer Bezugsgruppe einen Status zu erreichen, der hierfür besonders dienlich ist. Es handelt sich dabei um vererbte, typische stammesgeschichtliche Muster unserer Art.

Wenn wir uns selbst und unsere Mitmenschen beobachten, können wir recht schnell einige »Dauerbrenner« erkennen, wie Menschen versuchen, ihre (Überlebens-)Sicherheit zu maximieren: Einige möchten das durch möglichst viel Wissen oder Leistung erreichen, manche erkämpfen sich dazu Machtpositionen und verteidigen sie, so lange es geht. Andere, die sich das nicht zutrauen oder keine Lust auf Machtkämpfe haben, versuchen mit Beliebtheit zum Ziel zu kommen, indem sie möglichst viele Anhänger um sich scharen. Bei manchen geht das sogar so weit, dass sie sich lieber einem vermeintlich Stärkeren unterordnen, um in seinem Gefolge die Gefahren des Alltags zu meistern.

Auf diese typischen Strategien werden wir erneut stoßen, wenn wir weiter unten die verschiedenen Arten des Selbstwertbestimmens betrachten.

Erlernte Muster

»Menschen sind das Produkt ihrer Erziehung.« Wohl jeder kennt diese Binsenweisheit und – ob man ihr in dieser Verabsolutierung zustimmt oder nicht – niemand wird den gewaltigen Einfluss familiärer, sozialer oder kultureller Normen auf unser Selbstbild, auf die Art unseres Selbstbewertens und auf unser Alltagleben insgesamt leugnen, denn Selbstwertkonzepte sind nicht angeboren, sondern erlernt (Stavemann, 2018a).

Über die oben beschriebenen angeborenen Muster hinaus nutzen wir unterschiedliche Strategien, die wir in der Regel durch Erziehung und Erfahrungen in der Familie, in der sozialen Bezugsgruppe und durch kulturelle Normen vermittelt bekommen haben, um die erstrebte (Überlebens-)Sicherheit zu maximieren. Dieses »soziale Lernen« und »Lernen am Modell« entscheidet dann, wie wir in bestimmten Situationen denken, fühlen und handeln (Stavemann & Bergmann, 2019).

Familiäre Normen. In der Regel lernen wir unsere ersten Wertmaßstäbe in der Familie, indem wir vermittelt bekommen, wie wir uns verhalten müssen, um ein »gutes Kind« zu sein. Dieses Vermitteln von Normen funktioniert verbal durch Gebote (»Du sollst immer schön lächeln und grüßen, wenn du die Nachbarin siehst!«) und Verbote (»Du darfst nicht schmatzen oder mit offenem Mund essen!«), aber auch nonverbal, indem wir unsere Eltern oder Geschwister als Vorbild nehmen und nachahmen. So kann beispielsweise das Kleinkind einer autoritätsängstlichen Mutter sehr schnell deren Unterordnungskonzept (»Ihr da oben, ich hier unten«) übernehmen. Beispielsweise, wenn die Mutter das Kind im Arm hält, während sie von der Nachbarin im Treppenhaus laut kritisiert wird. Das Kind nimmt dann die Angstreaktion der Mutter durch deren Herzschlaganstieg und die geweiteten Pupillen wahr. Es lernt so, die Situation als »gefährlich« zu deuten und wird künftig bei Kritik die devote Verhaltensreaktion der Mutter nachahmen, selbst wenn die Mutter dieses Muster niemals an ihr Kind hätte weitergeben wollen.

Soziale Normen. Spätestens im Kindergarten oder in der Schule kommen Wertmaßstäbe hinzu, die in der sozialen Gruppe des Kindes (und später des Jugendlichen und Erwachsenen) maßgeblich sind, z. B. ein spezielles Spielzeug oder Smartphone zu besitzen, Kleidung einer besonderen Marke zu tragen, einem bestimmten Verein/Club oder einer Partei/Gang anzugehören oder Tattoos/Piercings zu haben.

Kulturelle Normen. Wertmaßstäbe unterliegen auch kulturellen Normen. Wer nicht »das Gesicht«, d. h. nicht an Wert verlieren möchte, muss beispielsweise in Asien seine Emotionen unter Kontrolle halten, in Polynesien Schmerzen klaglos hinnehmen, muss als Mann in Australien sportlich und darf als Frau in Brasilien nicht übergewichtig sein.

Die Selbstbeurteilungsmaßstäbe, die uns in Mitteleuropa am meisten zu schaffen machen, sind i.d.R. leistungsbezogen oder auf Beliebtheit ausgerichtet. Dazu weiter unten mehr.

Wie sehr unsere Wertmaßstäbe – offen, subtil oder unbewusst – sozial und kulturell vermittelt sind, lässt sich leicht durch eigenes Beobachten prüfen: Wie reagiert die Umwelt, wenn jemand Normen, die in Mitteleuropa durchaus akzeptiert sind, nun in Kabul, Salt Lake City, Yokohama oder Delhi auslebt? Wenn sie z.B. im Bikini am Strand liegt, in der Öffentlichkeit Alkohol trinkt, ein Rindersteak isst oder den Partner in der Öffentlichkeit küsst? Oder anders herum: wenn jemand aus einem anderen Kulturkreis vor unseren Augen einen Hund schlachtet, sich in der Öffentlichkeit an den Rinnstein hockt, um sich zu erleichtern oder wenn jemand ein Kind verprügelt, weil es ungehorsam ist?

Es führt ebenso regelmäßig zu Problemen, wenn jemand im eigenen Land die soziale Bezugsgruppe wechselt, ohne deren Konzepte zu übernehmen, z. B. wenn der Hipster in den Mainstream wechselt, wenn jemand aus dem Szene-Club direkt zum Arbeitsplatz in der Bank oder in den Gottesdienst geht oder wenn ein Großstädter aufs Land zieht, ohne jeweils die Kleidung, das Auftreten und die Verhaltensweisen entsprechend anzupassen.

Beispiel: Erlernte Muster

Manche Menschen wählen z.B. die »Kindchen-Schema«-Strategie, d.h., sie zeigen sich ihren Mitmenschen gegenüber hilflos, lieb, niedlich und zuvorkommend und hoffen, dadurch deren Aggression und Konkurrenzverhalten zu mildern oder ihre Beschützerinstinkte zu wecken.

Andere verfolgen vielleicht genau das Kontrastprogramm, indem sie eine »Angstbeißer«-Strategie verfolgen, die dazu führt, dass sie immer dann besonders aggressiv und dominant auftreten, wenn sie unsicher und ängstlich sind, um so ihre Gegenüber zu täuschen und durch ihr Machtgebaren in die Schranken zu weisen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.