Lexikon der Biologie: Erregungsleitung
Erregungsleitung, fälschlich auch als Reizleitung bezeichnet, die Weiterleitung von Aktionspotentialen entlang erregbarer Membranen (Erregung). Ursache ist die Depolarisation der Zellmembran in der Nachbarregion eines gebildeten Aktionspotentials, die bei Überschreitung eines kritischen Schwellenwerts wiederum zur – zeitlich versetzten – Entstehung eines Aktionspotentials führt. Ein Zurücklaufen der Erregung wird dadurch vermieden, daß Membranen nach einer Erregung für bestimmte Zeit (Refraktärzeit) unerregbar bleiben. Bei marklosen Nervenzellen pflanzt sich die Erregung kontinuierlich entlang der Membran fort, wohingegen diese bei myelinisierten Fasern von Schnürring (Ranviersche Schnürringe) zu Schnürring (Nervenzelle) springt (saltatorische Erregungsleitung). Der Vorteil dieser Form der Erregungsleitung liegt zum einen in einer größeren Leitungsgeschwindigkeit, zum anderen in einer Energieersparnis, da nicht mehr jede Stelle der Membran erregt wird (für die Repolarisation von Membranen wird Stoffwechselenergie verbraucht; Ruhepotential). Die Leitungsgeschwindigkeit entlang der Membranen ist in beiden Fällen abhängig vom Durchmesser der Axone ( vgl. Tab. ). Bei marklosen Fasern ist diese direkt proportional der Quadratwurzel aus dem Durchmesser, bei myelinisierten direkt proportional dem Durchmesser. An den Enden der Axone, den Synapsen, wird die Erregung auf weiterführende Nervenzellen oder Effektorzellen übertragen. Dabei kann die Erregung unmittelbar, d.h. durch „Überspringen“ der elektrischen Impulse (elektrische Organe) von Membran zu Membran, oder durch chemische Transmitter (Endplatte, Neurotransmitter) erfolgen. Zur Steuerung komplizierter Bewegungsabläufe ist wechselweise eine Aktivierung bzw. Inhibierung antagonistisch wirkender Effektorzellen erforderlich. Dies wird durch eine entsprechende Verschaltung der innervierenden Neurone gewährleistet. Die Synapsen dieser Neurone werden in diesem Fall nach ihrer Funktion als Hemmsynapsen oder Erregungssynapsen bezeichnet. – Erregungsleitung läßt sich auch an Pflanzenzellen beobachten. Dies wurde vor allem an den Blättern der Mimose untersucht. Die durch Berührung ausgelöste Schließbewegung der Fiederblättchen (Seismonastie) bleibt in der Regel auf das gereizte Teilblatt beschränkt. Wird das Teilblatt dagegen verletzt, breitet sich die Erregung über das gesamte Blatt, in extremen Fällen sogar über die ganze Pflanze aus. Die Erregungsleitung geschieht auf elektrischem Wege mit einer Geschwindigkeit ( vgl. Tab. ) von 1–20 cm/s und beruht auf Spannungsunterschieden zwischen benachbarten Zellen, die durch das Aktionspotential der gereizten Zelle entstehen, so daß ein Strom fließen kann. Die elektrische Erregungsleitung ist jedoch auf ein Fiederblatt beschränkt. Die weiterreichende Erregungsleitung geschieht auf chemischem Wege und ist langsamer (0,1–2 cm/s). Für die chemische Erregungsleitung wurden sog. Turgorine als allgemeine Botenstoffe diskutiert. Neuere Untersuchungen haben diese Hypothese jedoch sehr in Frage gestellt – es scheint vielmehr für jede Gattung oder sogar Art eigene, hochspezifische Botenstoffe zu geben. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel von Erregungsleitung findet sich bei der Venusfliegenfalle. Werden spezialisierte Sinnesborsten (in der Regel durch ein Insekt, vgl. Abb. ) berührt, werden durch die Hebelwirkung spezialisierte Sinneszellen ( vgl. Abb. ) an der Basis der Borste verformt und dadurch elektrisch depolarisiert. Es entsteht jedoch bei einmaliger Reizung nur ein sog. Rezeptorpotential, das noch nicht zu einer Schließbewegung des Blatts führen kann. Erst wenn innerhalb der nächsten 20 Sekunden eine zweite Reizung an derselben oder einer anderen Borste erfolgt, wird im motorischen Gewebe ein Aktionspotential ( vgl. Abb. ) ausgelöst, und das Blatt schließt sich ( vgl. Abb. ). Dieses wird dann in Sekundenbruchteilen über die gesamte Blattoberfläche geleitet. Das Aufaddieren der Einzelreize hängt von der Frequenz der Reize und der Zeit dazwischen ab und geschieht nicht in den Sinneszellen, sondern im motorischen Gewebe selbst. Die Information muß also von den Sinneszellen an das motorische Gewebe weitergegeben und dort gespeichert werden. Aschoff (L.), Axonhügel, Bioelektrizität, Biomagnetismus, Bronk (D.W.), Eccles (J.C.), Engelmann (T.W.), Helmholtz (H.L.F. von), Hermann (L.), Hodgkin (A.L.), Membrantransport, Nervensystem, Schwann (T.A.H.); Nervenzelle I–II.
H.W./P.N.
Erregungsleitung
Erregungsleitungsgeschwindigkeiten bei Pflanzen
Ähnlich wie Mimosa pudica reagieren auch andere Mimosa-Arten, Neptunia und Desmanthus (Familie Mimosaceae) sowie Biophytum (Familie Oxalidaceae) auf Reize mit seismonastischen Blattbewegungen.
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Aldrovanda vesiculosa (Wasserfalle) | Einklappen der Blattspreite Aktionspotential pflanzt sich vom Sockel der gereizten Fühlborste (auf der Blattoberseite) aus in alle Richtungen fort. | 6–20 | |
Chara sp., Nitella sp. (Armleuchteralgen) | Internodialzelle Änderung des Membranpotentials tritt als Folge mechanischer, chemischer oder elektrischer Reizung auf, führt aber zu keiner Bewegung. | 1–2 | |
Cucurbita sp. (Kürbis) | Rankenbewegung Aktionspotential wird basipetal weitergeleitet. | 0,04 | |
Dionaea muscipula (Venusfliegenfalle) | Einklappen der Blattspreite vgl. Aldrovanda vesiculosa | 6–20 | |
Drosera sp. (Sonnentau) | Tentakelbewegung Reizleitung vom Drüsenköpfchen zum Fuß der Tentakel | 0,013–0,02 | |
Mimosa pudica (Mimose) | Einklappen der Fiederblättchen, Absinken des primären Blattstiels Bei Erschütterungsreiz: Nach traumatischer Reizung (Verwundung): | 0,7–5 >10 |
Erregungsleitungsgeschwindigkeiten bei Tieren
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Coelenterata (Hohltiere) | |||||
Aurelia sp. (Ohrenquallenart) | Nervennetz | 0,5 | 6–12 | – | |
Metridium sp. (Seenelkenart) | Nervennetz | 0,13 | – | 27 | |
Annelida (Ringelwürmer) | |||||
Lumbricus sp. (Regenwurmart) | Bauchmark mediane Riesenfaser laterale Riesenfaser | 0,025 30 11,3 | – 50–90 40–60 | – 22 – | |
Myxicola sp. | Riesenfaser | 10–25 | 560 | 20 | |
Megascolex sp. (Riesenregenwurm) | Riesenfaser | 20 | 20 | – | |
Neanthes sp. | Riesenfaser | 5 | 30–37 | 24 | |
Harmothoe sp. (Schuppenwurmart) | Riesenfaser | 0,93 | 13 | 18 | |
Mollusca (Weichtiere) | |||||
Ariolimax sp. (amerikanische Wegschnecke) | Nervenfaser | 5,5 | 30–35 | – | |
Sepia sp. (Tintenfischart) | Riesenfaser | 7 | 200 | 17 | |
Loligo pealii (Nordamerikanischer Kalmar) | Riesenfaser | 20 | 400 | 23 | |
Insecta (Insekten) | |||||
Periplaneta sp. (Großschabenart) | Riesenaxon Cercalnerv | 7 1,5–2,0 | 50 5–10 | – – | |
Crustacea (Krebstiere) | |||||
Orconectes sp. (Amerikanischer Flußkrebs) | Scherenöffner-Axon Axon zum langsamen Scherenschließer Axon zum schnellen Scherenschließer mediane Riesenfaser laterale Riesenfaser | 8 10 20 18–20 10–15 | 36 41 58 90–180 70–150 | – – – – – | |
Homarus sp. (Hummerart) | Beinnervenfaser Riesenfaser | 14–18 11,7 | 60–80 121 | – – | |
Vertebrata (Wirbeltiere) | |||||
Ameirurus sp. (Zwergwelsart) | Mauthnerfaser | 50–60 | 22–43 | 10–15 | |
Cyprinus sp. (Karpfenart) | Mauthnerfaser laterale Nervenfaser | 55–63 47 | 55–65 20 | 20–25 – | |
Protopterus sp. (Lungenfischart) | Mauthnerfaser | 18,5 | 45 | – | |
Salmo trutta (Forelle) | laterale Nervenfaser | 50 | 22 | – | |
Rana sp. (Froschart) | A-Fasern B-Fasern C-Fasern | 17–42 4,2 0,45 | 11–18,5 – 2,5 | – – – | |
Mus sp. (Mausart) | Nervus ischiadicus | 60 | 1–14 | – | |
Rattus sp. (Rattenart) | Nervus ischiadicus | 70 | 1–15 | – | |
Felis sp. (Katzenart) | A-Fasern B-Fasern Hautnervenfaser | 78–102 24–48 0,7–2,3 | 13–17 4–8 0,43–1,17 | 37 37 37 | |
Cavia sp. (Meerschweinchenart) | Nervus ischiadicus | 80 | 1–17 | – | |
Homo sapiens (Mensch) | Nervus ischiadicus | 80–120 | 10–22 | – |
Erregungsleitung
1 Eine Fliege hat sich auf ein Blatt der Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula) gesetzt; beim Vorwärtskrabbeln berührt sie eines der Sinneshaare. 2 Nachdem das Insekt das Sinneshaar berührt hat, klappt das Blatt zusammen. 3 Das zusammengeklappte Blatt umschließt das Insekt; die Verdauungsdrüsen sondern ein Sekret ab, das zur Auflösung des Tieres führt; dieser Vorgang dauert etwa 1 Woche.
Erregungsleitung
Sinnesborste der Venusfliegenfalle. Die Verbiegung der Borste durch ein Insekt wird durch die relativ starren Endzellen auf die Tafelzellen übertragen und führt zu einer Verformung der Sinneszellen, die im Gelenk der Borste sitzen. Von dort wird ein noch unbekanntes Signal durch die Parenchymzellen zum motorischen Gewebe in der Mittelrippe des Blatts geleitet und gespeichert.
Erregungsleitung
Änderungen des Membranpotentials (oben) einer Sinneszelle der Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula) nach Ausübung (unten) von starkem (a) bzw. schwachem (b) Druck
Erregungsleitung
Blatt der Venusfliegenfalle im geöffneten Zustand (links) mit den Sinnesborsten (S) in der Blattspreite, daneben im geschlossenen Zustand. Die Schließbewegung kann in günstigen Fällen binnen von Sekundenbruchteilen ablaufen.
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