News: Das Auge des Gehirns
Diese neurale Repräsentation der visuellen Welt verläuft nur zum Teil automatisch in fest installierten Schaltkreisen: Der Bottom-up-Fluß der Signale von der Netzhaut bis zur Hirnrinde wird kontrolliert durch Top-Down-Signale von der Hirnrinde abwärts in die Peripherie. Das Ergebnis: Die aufsteigenden Signale werden gefiltert, verstärkt oder unterdrückt. Diese Selektion, die wir als Aufmerksamkeit erleben, ist ein essentieller Mechanismus des Zentralnervensystems. Er macht es möglich, daß die begrenzten mentalen Ressourcen optimal auf Ereignisse ausgerichtet werden können, die möglichst schnell und präzise verarbeitet werden sollen. Wie ein Scheinwerfer beleuchtet die neurale Selektion – das "Auge des Gehirns", die Repräsentation der Welt im Kopf – trennt Wichtiges von Unwichtigem und erlaubt so adäquates Verhalten in einer ständig sich wandelnden Umgebung. Menschen, die durch Hirnschäden diese Fähigkeit teilweise oder vollständig verloren haben, sind von den Folgen schwer gezeichnet.
Welche neuralen Prozesse realisieren die Auswahl von Information? Wann und wo im Gehirn beginnt die Modifikation der aufsteigenden Signale? Bislang wurde angenommen, daß Areale der hinteren Hirnrinde jenseits des primären Sehzentrums am hinteren Hirnpol die unterste Stufe sind, auf der die Selektion organisiert wird. Wissenschaftler der University of California San Diego und der 0tto-von-Guericke-Universität in Magdeburg haben jetzt erstmals gezeigt, daß auch das primäre Sehzentrum involviert ist (Nature Neuroscience vom April 1999).
Mittels funktioneller Kernspintomographie kombiniert mit Elektrophysiologie wurden die neuralen Selektionsprozesse, die Lokalisation und Muster ganz spezieller visueller Stimuli auswählen, auf die funktionelle Struktur der Hirnrinde lokalisiert, so daß die kognitive Architektur anatomisch exakt identifiziert wurde. Als Ergebnis fanden die Untersucher, daß etwa siebzig Millisekunden nach Abbildung der Stimuli auf die Netzhaut deren selektive Verarbeitung in der Hirnrinde beginnt, und zwar zunächst in den Arealen jenseits des primären Sehzentrums. Dann aber kommt es zusätzlich zu einer Beteiligung auch dieses Zentrums, von dem bislang angenommen wurde, daß es eine passive Repräsentation ist. Möglicherweise findet eine rückwärts gerichtete Aktivierung der primären Rinde statt, die dann einsetzt, wenn visuelle Selektion bei sehr kleinen und schwer zu identifizierenden Mustern erforderlich wird.
Das Ergebnis führt einen Schritt weiter in der Analyse der flexiblen 0rganisation des Gehirns und der Einsicht in folgendes Prinzip: Informationsverarbeitung im Gehirn ist kein Daten-bestimmter, automatischer Prozess, sondern Kontext und Einstellung entscheiden darüber, wie Ereignisse verarbeitet werden. Absteigende Impulse als Korrelat von Aufmerksamkeit und Intention modifizieren den Signalfluß in den hinteren Hirnstrukturen, filtern oder verstärken die neuralen Repräsentationen und vermitteln damit eine ganz bestimmte Sichtweise der Welt. Die neuen Verfahren der funktionellen Bildgebung zeigen, daß diese Auswahl viel früher in der Hierarchie des Gehirns einsetzt als bislang bekannt war.
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