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News: Retinsäure - der Dimmer für das Auge?

Das menschliche Auge ist in der Lage, Lichtintensitäten über neun Größenordnungen zu nutzen. Die dafür nötigen neuronalen Adaptionsmechanismen brauchen jedoch Informationen über die gerade vorherrschenden Lichtbedingungen, um ihre Aktivitäten zu steuern. Als wichtiger Vermittler dient offenbar Retinsäure, die im Auge bei der Regeneration des Sehfarbstoffs Rhodopsin entsteht. Ihre Konzentration ist direkt abhängig von der Menge der einfallenden Lichtquanten und erfüllt damit eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Weitergabe eines Lichtsignals.
Ob wir am Strand im sonnigen Süden lesen oder bei der Beleuchtung einer Nachttischlampe im Bett: Normalerweise haben wir keine Schwierigkeiten, die Buchstaben zu entziffern, obwohl sich die Beleuchtungsintensitäten um das Milliardenfache unterscheiden können. Dieser immense Unterschied im Lichtangebot, dessen Ausmaß der Mensch gar nicht wahrnimmt, stellt für Neurobiologen eine wissenschaftliche Herausforderung dar. Wie ist es möglich, daß eine solch große Bandbreite in der Beleuchtungsstärke durch Sehzellen verarbeitet wird, die normalerweise nur einen tausendfachen Intensitätsbereich abdecken können?

Die Gesamtheit der Mechanismen, die dazu beitragen, den vollständigen Lichtbereich abzudecken, wird als Adaptation bezeichnet. Es sind jedoch nicht nur die Pupillenweite sowie die Unterteilung der Lichtrezeptoren in zwei Typen von Zellen mit unterschiedlicher Lichtempfindlichkeit, Stäbchen und Zapfen, daran beteiligt. Auf der Ebene der neuronalen Weiterverarbeitung des Lichtreizes müssen weitere Mechanismen bestehen, die als neuronale Adaptation zusammengefaßt werden. Um den Arbeitsbereich des neuronalen Netzes immer so einzustellen, daß er optimal den Lichtverhältnissen entspricht, muß die Netzhaut (Retina) über das Lichtangebot informiert sein. Es muß also eine Art "Dimmer" geben, der die Aktivitäten der Nervenzellen im Auge reguliert.

Obwohl die wissenschaftliche Suche schon lange um diesen Informationsüberbringer kreist, haben Reto Weiler und Mark Pottek von der Universität Oldenburg erst jetzt ein Molekül untersucht, das eigentlich nahe liegend ist, da es im Lichtverarbeitungsprozeß quasi als "Abfallprodukt" anfällt: die Retinsäure. Um die hohe biologische Aktivität dieses Stoffes weiß man schon länger. Retinsäure steuert als einer der wichtigsten Faktoren die Embryonalentwicklung bei Wirbeltieren. Das sich chemisch vom Vitamin A ableitende Molekül findet neuerdings auch Verwendung in der Behandlung von Karzinomen und dient in Kosmetika der Faltenvorbeugung. Im Auge entsteht Retinsäure bei der Regeneration des Sehfarbstoffs Rhodopsin. Dieses zerfällt bei Absorption von Licht in zwei Bestandteile: ein Protein und Retinaldehyd. Ein Teil des Retinaldehyds wird zu Retinsäure umgewandelt, während der Rest zur Wiederherstellung von Rhodopsin verwendet wird. Die Konzentration der Retinsäure ist direkt vom Zerfall des Rhodopsins und damit von den eingefallenen Lichtquanten abhängig. Damit erfüllt die Retinsäure eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein Lichtsignal.

Die Arbeiten von Weiler und Pottek konnten auf verschiedenen Ebenen zeigen, daß durch experimentelle Retinsäuregabe in einer dunkeladaptierten Retina die charakteristischen Antworten einer helladaptierten Retina ausgelöst werden können. Auf der strukturellen Ebene zum Beispiel konnte die Ausbildung sogenannter Spinules, synaptischer Kontakte zwischen Horizontalzellen und Sehzellen, durch die Injektion von Retinsäure nachgewiesen werden. Bekannt ist, daß die Anzahl dieser Fortsätze mit dem Adaptionszustand der Retina korreliert: In der helladaptierten Netzhaut finden sich sehr viele Spinules, in dunkelangepaßten Retinen hingegen kaum.

Auch auf der elektrophysiologischen Ebene hat Retinsäure den Effekt, bei einer dunkeladaptierten Netzhaut die typischen Charakteristika bei den Membranpotentialen hervorzurufen, die gewöhnlich helladaptierte Retinen aufweisen. Außerdem konnte gezeigt werden, daß der mutmaßliche Dimmer Retinsäure einen Effekt auf die elektrische Kopplung zwischen mehreren Horizontalzellen hat. Im helladaptierten Zustand sind die synaptischen Kontakte zwischen den einzelnen Horizontalzellen mehrheitlich geschlossen, bei Dunkelanpassung mehrheitlich geöffnet.

Den Zustand dieser elektrischen Synapsen kann man im Fluoreszenzmikroskop direkt sichtbar machen. Injiziert man einen fluoreszierenden Farbstoff in eine einzelne Horizontalzelle, so breitet sich dieser Farbstoff bei geöffneten synaptischen Kontakten leicht auf ein ganzes Netz von gekoppelten Zellen aus, während bei geschlossenen Synapsen in der helladaptierten Retina nur eine oder wenige Zellen markiert werden. Behandelten die Oldenburger Neurobiologen nun eine zuvor an Dunkelheit angepaßte Retina mit Retinsäure und führten anschließend eine Farbstoffinjektion durch, so zeigten die gewonnenen Aufnahmen nur eine einzige markierte Zelle, während in den Kontrollen ohne den Signalstoff ein ganzes Netz von Zellen markiert war. Die Befunde lassen erwarten, daß die Retinsäure mit großer Wahrscheinlichkeit das langgesuchte Steuerungselement im Auge ist. Damit sei den Oldenburger Forschern etwas durchaus Originelles gelungen, wie Neurobiologe Weiler meint. Sie zeigten einmal mehr die Eleganz biologischer Problemlösungen: Ein durch den Reiz zwangsläufig entstehendes Nebenprodukt wirkt direkt auf das reizverarbeitende Netzwerk und erzielt so seine optimale Anpassung an einen äußerst großen Intensitätsbereich. Die Forschungsergebnisse der Oldenburger wurden in der Oktoberausgabe 1999 des Forschungsmagazins Einblicke der Universität Oldenburg veröffentlicht.

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